Zur Abschätzung zur Flugtauglichkeit werden die durchzuführenden Untersuchungen definiert und die entsprechenden Grenzwerte festgelegt. Hierbei sind die Anforderungen, die kommerzielle Piloten erfüllen müssen, höher als die an Privatpiloten gestellten. Für kommerzielle Piloten ist ein Tauglichkeitszeugnis der Klasse 1 erforderlich, für die Privatpiloten eines der Klasse 2. Für eine LAPL-Berechtigung ist ein LAPL-Tauglichkeitszeugnis erforderlich. Die in der Vorschrift vorgesehene Möglichkeit, die entsprechende Untersuchung und Beurteilung der Flugauglichkeit durch Allgemeinmediziner ohne flugmedizinische Ausbildung durchführen zu lassen, wurde in Deutschland nicht implementiert, ebenso wie in den meisten anderen EASA-Ländern. Die jeweils höhere Tauglichkeitsklasse deckt automatisch die niedrigeren Tauglichkeitsklassen mit ab.
Bewertung der Flugtauglichkeit mit Fokus auf das Herz-Kreislauf-System
Neben den Anforderungen an das Seh- und Hörvermögen sowie die physische und psychische Leistungsfähigkeit liegt ein wesentlicher Schwerpunkt der medizinischen Richtlinien auf dem Herz-Kreislauf-System. Aufgrund des Risikos und der Folgen einer plötzlichen Handlungsunfähigkeit („sudden incapacitation“) dieses Organsystems und der Veränderungen mit fortschreitendem Alter sind die Untersuchungsintervalle und -inhalte zur Ermittlung der Flugtauglichkeit altersabhängig. Das eigentliche Problem besteht darin, eine klinisch stumme KHK zu erkennen. Im Rahmen des Screenings auf eventuelle kardiovaskuläre Erkrankungen werden z. T. auch bereits Risiko-Scores benutzt (z. B. in Neuseeland bei Bewerbern, die älter als 35 Jahre sind). Hierbei werden verschiedene Variablen wie Risikofaktoren, Alter, Geschlecht, Laborwerte wie Gesamt-Cholesterin, Mikroalbuminurie, Blutdruck, Diabetes mellitus, Diabetes mellitus Typ II seit mehr als 10 Jahren, HbA1c >8%, Rauchen, linksventrikuläre Hypertrophie, Ethnie, Familienanamnese von KHK, vorzeitiger apoplektischer Insult bei erstgradigen Verwandten (Männer
Piloten und insbesondere kommerzielle Flugzeugführer gelten als gesünder als die Allgemeinbevölkerung aufgrund der turnusmäßig vorgeschriebenen Flugtauglichkeitsuntersuchungen. Die Fortsetzung der beruflichen Laufbahn ist vom Bestehen dieser Untersuchungen abhängig (Pizzi et al. 2008). Weitere Faktoren sind hierbei ein hoher sozioökonomischer Status und die Tatsache, dass die Fliegerärzte sich nicht nur auf die Flugtauglichkeitsuntersuchung beschränken, sondern auch präventiv- und arbeitsmedizinische Gesichtspunkte berücksichtigen (Dunn 2010).
Objektive Beurteilung der Flugtauglichkeit unabdingbar
Bei Auftreten von Gesundheitsstörungen („decrease in medical fitness“) sind Piloten verpflichtet, den Rat ihrer Fliegerärzte umgehend einzuholen. Bei einigen schwereren Gesundheitsstörungen besteht sogar bis auf Weiteres – also bis zum Ausschluss von signifikanten Risiken für die Flugsicherheit – vorübergehend keine Flugtauglichkeit. In anderen Ländern wie den USA geht man z. T. davon aus, dass professionelle Piloten häufig keine medizinische Hilfe suchen, insbesondere nicht bei ihren Fliegerärzten, aus Angst vor vorübergehender oder dauernder Untauglichkeit und damit einhergehenden Einkommensverlusten (Schwartz et al. 2012). In Deutschland gibt es keine entsprechenden Daten. Lohnfortzahlung, soziale Absicherung durch entsprechende Versicherungen auf der Basis von Lebensversicherungspolicen (Loss-of-License-Versicherungen) etc. verhindern derartige Interessenkonflikte.
Die Beurteilung der Flugtauglichkeit mag bei der Mehrzahl der turnusmäßig erfolgenden Untersuchungen einfach sein, erfordert aber bei einigen Normabweichungen eine sorgfältige Abwägung. Eine stets objektive Entscheidung ist anzustreben, aber nicht immer machbar. In solchen Fällen muss auf Expertenmeinungen oder Präzedenzfälle (vorherige Entscheidungen in ähnlich gelagerten Fällen) als Entscheidungshilfen zurückgegriffen werden. Die Anwendung des Flexibility-Standards der ICAO erfordert eine individuelle Beurteilung (ICAO 2012).
Evidenzbasierte flugmedizinische Entscheidungsfindung
Analog zu anderen Tätigkeiten, bei denen die Flugtauglichkeit vom Gesetzgeber geregelt wird, ist der Gesichtspunkt der Sicherheit der Beteiligten, evtl. Passagieren, von Dritten und Sachwerten entscheidend. Da risikofreie Aktivitäten schlechterdings unmöglich sind, definiert der Gesetzgeber ein maximal akzeptables Risiko und Kriterien hierfür. Ist das tatsächliche Risiko geringer als das akzeptable, so besteht Tauglichkeit. Ist es höher, dann müssen Vorkehrungen getroffen werden, dass das Risiko, die Wahrscheinlichkeit des unerwünschten Ereignisses oder dessen Konsequenzen minimiert werden (Navathe u. Preitner 2014). Bei solchen Entscheidungen auf staatlicher (z. B. Luftfahrtbehörden, Verkehrsministerium etc.) oder überstaatlicher Ebene (z. B. ICAO) sollte es sich um evidenzbasierte Risiko-Management-Prozesse handeln (Watson 2005). Sie schlagen sich in den jeweiligen Flugtauglichkeitsrichtlinien nieder. Sowohl bei solchen generellen Entscheidungsfindungen als auch bei solchen im konkreten, individuellen Fall eines Bewerbers handelt es sich um eine gewissenhafte, explizite, vernünftige – also logische und folgerichtige – Anwendung der aktuell besten verfügbaren Evidenz. Bei der evidenzbasierten flugmedizinischen Entscheidungsfindung im Einzelfall („evidence-based aeromedical decision-making“) müssen praktische klinische Erfahrung und das Wissen um die potenziellen Interaktionen mit den physiologischen Anforderungen der Luftfahrt und die beste verfügbare Evidenz aus systematischer Forschung integriert werden (Navathe u. Preitner 2014). Hierbei muss der Leser beachten, dass in der flugmedizinischen Literatur absolute Risiken angegeben werden, in der sonstigen medizinischen Literatur aber meist relative Risiken.
In der Praxis muss beurteilt werden, ob die funktionellen Reserven des Bewerbers mit der angestrebten Tauglichkeitsklasse und der Art der beabsichtigen Aktivitäten vereinbar sind. Im Rahmen von Fall-zu-Fall-Entscheidungen müssen ggf. Einschränkungen oder Auflagen mit einer Flugtauglichkeit verbunden werden. In diesem Zusammenhang können bestimmte medizinische Diagnosen als gelbe Warnflaggen dienen und standardisierte Entscheidungsalgorithmen einleiten. Die in Tabelle 13.1 aufgeführten Fragen und Überlegungen sollten bei einer bestimmten Erkrankung in einem strukturierten Entscheidungsprozess berücksichtigt werden.
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Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Leseprobe aus der sich in Vorbereitung befindlichen Erstauflage des Handbuchs Moderne Flugmedizin, J. Siedenburg – Th. Küpper (Hrsg.). Mehr zum Thema lesen Sie hier >>.
Literatur:
Wirawan IMA, Aldington S, Griffiths RF et al.: Cardiovascular investigations of airline pilots with excessive cardiovascular risk. ASEM 2013; 84: 608–612.
Pizzi C, Evans S, De Stavola BL: Lifestyle of UK commercial aircrews relative toair traffic controllers and the general population. ASEM 2008; 79: 964–974.
Dunn JR: Health behaviour vs. the stress of low socioeconomic status and health outcome. JAMA 2010; 303: 1199–1200.
Schwartz MD, Macias-Moriarty LZ, Schelling J: Professional aircrews’ attidude towards infectious diseases and aviation medical issues. ASEM 2012; 83: 1167–1170.
ICAO: Manual of Civil Aviation Medicine. Doc 8984 - AN/895, 2012.
Navathe P, Preitner C: Aeromedical decision making: From principles to practice. ASEM 2014; 85: 576–580.
Watson DB: Aeromedical decision-making: an evidence-based risk management paradigm. ASEM 2005; 76: 58–62.