Im Februar 2009 verabschiedeten der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) und das Präsidium des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V. (VDBW) auf der Grundlage der Diskussionen in ethischen Spannungsfeldern zur Jahrestagung der DGAUM 2008 einen Ethikkodex der Arbeitsmedizin (Baur X et al. 2009). Begriffe wie „Arbeit 4.0“, „Industrie 4.0“ spielten noch keine Rolle. Inzwischen bestimmen diese Bezeichnungen epidemieartig die Diskussion um die Zukunft der Arbeit und damit der Gesellschaft. Umfang, Art und Inhalt dieser Diskussionen werfen die Frage auf, ob Arbeit 4.0 – in Form von Digitalisierung, Vernetzung, Mensch-Maschine-Kooperation und Wertewandel, die zu einer Aushandelungsgesellschaft von Individuum, Sozialpartner und Staat in einer globalen Welt unter verändernden demografischen Bedingungen führen (Anlehnung an Grünbuch/Weißbuch Arbeit 4.0, BMAS 2016, s. „Weitere Infos“) – zum Überdenken ethischer Grundsätze und konkreter Handlungshilfen führen muss.
Arbeitsmedizin – ein erweitertes ethisches Spannungsfeld
Seit 2500 Jahren haben wir mit dem hippokratischen Eid ethische Grundsätze der ärztlichen Tätigkeit. Die Diskussion um Inhalte und Formulierungen war und ist Begleitfaktor der gesellschaftlichen Entwicklung und Ausdruck der menschbezogenen Qualität einer Gesellschaft, auch wenn es nur eine Berufsgruppe betrifft. Arbeitsmedizin basiert auf der ärztlichen Ethik. Darin besteht eine wesentliche Besonderheit dieser Berufsgruppe im Feld der Akteure um die Arbeit. Das ethische Spannungsfeld ärztlicher Tätigkeit wird bestimmt von dem gesetzlichen Rahmen mit den entsprechenden Sozialversicherungssystemen, dem Verhältnis zu einem Patienten, der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem Gewissen. Bei einer Arbeitsmedizinerbefragung in Österreich waren 72% der Auffassung, dass die Ethik für alle Ärzte gleich sei (Litschka 2009). Das ethische Spannungsfeld arbeitsmedizinischen Handelns ist jedoch viel weiter. Es beinhaltet Akteure mit definierten Aufgaben und unterschiedlichem Selbstverständnis, wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die individuumsbezogene ärztliche Aktivität erfolgt nicht am und mit dem Patienten, sondern mit und an einem Beschäftigten/Arbeitnehmer mit vollkommen anderen Grundlagen für ärztliches Handeln. Dabei greifen gesellschaftliche Rahmenbedingungen/Gesetze/Verordnungen teilweise direkt in das konkrete Handeln des Arbeitsmediziners ein. Eine Vielzahl multidisziplinärer Akteure mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Vorstellungen können und müssen in unserem Tätigkeitsfeld bei keinen klaren Grenzen agieren.
Die International Commission on Occupational Health (ICOH) hat für die Beschäftigten im Bereich Arbeit, Gesundheit und Sicherheit seit 1987 den ethischen Kodex neunmal überprüft und geändert, zuletzt 2014. Im Zuge dieser letzten Änderungen wurde der Gegenstand bzw. das Ziel der Akteure in diesem Feld neben Gesundheit und Arbeitssicherheit um den Begriff der Arbeitsfähigkeit erweitert. Dies hat die DGAUM bei der Gegenstandsbestimmung und der Definition für die Arbeitsmedizin mit der Übernahme der Arbeitsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit in die Aufgabenstellung der Arbeitsmedizin bereits Anfang unseres jetzigen Jahrhunderts realisiert (Scheuch 2002). Weiterhin wurden durch die ICOH besonders hervorgehoben:
- die Einbeziehung des Umweltschutzes sowie der gesundheitsbezogenen und sozialen Versicherungen in die multidisziplinären Disziplinen von Occupational Health,
- die Notwendigkeit der kontinuierlichen Wissens- und Fähigkeitsentwicklung aller Akteure in diesem Feld,
- die Bereitstellung von notwendigen relevanten Informationen, d.h. die Zugänglichkeit von Occupational Health für alle Beschäftigte.
- Neu aufgenommen wurde die Verpflichtung für Occupational Health, auch die familiäre Situation und die Lebensumstände außerhalb der Arbeit zu berücksichtigen.
Ausgewählte ethische Problembereiche
Es gibt einige Entwicklungen der Arbeit 4.0 in einer Gesellschaft 4.0, die ethisches Handeln der Arbeitsmedizin zum einen dringlich machen, zum anderen erschweren:
Schnelligkeit der gegenwärtigen Entwicklung
Die Notwendigkeit der Prüfung der formulierten ethischen Grundlagen ergibt sich auch aus der Schnelligkeit dieses Entwicklungs- und Wandlungsprozesses. Arbeit 1.0 bis Arbeit 3.0 hatten jeweils mindestens ein Jahrhundert Entwicklungszeit, jetzt geht es um Jahrzehnte. Innerhalb von kurzer Zeit wird unmittelbar oder mittelbar ein Großteil der Bevölkerung in diesen Entwicklungsprozess einbezogen. Deshalb ist es wichtig, Überlegungen und Handeln zur Gestaltung der Zukunft nicht unabhängig von unserer Vergangenheit vorzunehmen, um zu einer realen Wertung zu kommen. Historische Wahrheit ist, dass die technologischen Grundlagen der Entwicklung der Arbeitsgesellschaft von Arbeit 1.0 bis Arbeit 3.0 immer Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, nicht nur auf die Arbeit hatten, immer aber auch zur Verbesserung der Lebens- sowie der Arbeitsqualität und zur Reduzierung zuordenbarer Arbeitsrisiken führten. Wer eine Zukunft prophezeit, ohne die Vergangenheit zu berücksichtigen, erzeugt möglicherweise Angst, handelt damit unethisch und verpasst Möglichkeiten zur Zukunftsgestaltung.
Schnittstellen unseres Handelns nehmen zu, Grenzen ab
Eine arbeitsmedizinisch handelnde Struktur existiert seit Arbeit 3.0. Die Quantität, die Vielfältigkeit der Akteure im Tätigkeitsfeld der Arbeitsmedizin, ist erheblich gewachsen. Globalisierung und Internationalisierung der Arbeit und gesellschaftlicher Prozesse werden räumliche, soziale, fachliche, religiöse Grenzen reduzieren. Deregulation wird zunehmen, was neben Chancen zu Unsicherheiten und Betroffenheit führen kann. Auch hierfür brauchen wir ein wirksames ethisches Grundkonzept. In These 10 der „Arbeitsmedizin 4.0“ (DGAUM 2016) wird festgestellt, dass eine effektive Arbeitsmedizin an den zahlreichen Schnittstellen (Betrieb, ambulante und stationäre Versorgung, Rehabilitation und Wiedereingliederung) eine wissenschaftliche Grundlage benötigt. Die Schnittstellen im arbeitsbezogenen Gesundheitsmanagement und im rasant wachsenden Gesundheitsmarkt sind noch vielgestaltiger. Neben dem wissenschaftlich begründeten Schnittstellenhandeln sind deshalb auch gemeinsame ethische Grundpositionen erforderlich, denn Wissenschaft braucht Zeit und Möglichkeiten zum Erkenntnisgewinn. Grundlage arbeitsmedizinischen Wirksamwerdens ist eine Ethik der Zusammenarbeit. Dabei geht es nicht um Gleichmacherei. Die Besonderheit arbeitsmedizinischen Handelns beruht auf der ärztlichen Ethik im Gemeinschaftsfeld aller Akteure. Natürlich kann überlegt werden, ob und welche (ärztlichen) Tätigkeiten von anderen Fachgebieten mitrealisiert werden können. Doch ist aus Sicht des Autors unethisch, ärztliche Tätigkeit zu zerstückeln, ohne sie wieder zusammenzuführen, und arbeitsmedizinische Tätigkeit aus dem Zusammenhang der Aktivitäten im Feld Arbeit, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit (z.B. Gesundheitsmanagement) herauszuhalten.
Informationsentwicklung – Gefährdung unseres Handelns und Seins
Eine der wesentlichsten Herausforderung in einem bisher nicht bekannten Umfang ist die zukünftige Gestaltung zielgerichteter und fundierter Informationen im Fachgebiet Arbeitsmedizin. Gegenwärtig existieren im Netz etwa 400.000 Apps zur Gesundheitsbeeinflussung. Eine Bewertung der Inhalte und Bereitstellung von Handlungshilfen zur Nutzung der unüberschaubaren Informationsflut sind unabdingbar. Dazu ist der Aufwand für unsere Eigenqualifizierung, aber auch der wissenschaftlichen Fundierung von Bewertungen zunehmend gefordert. Es geht nicht nur um die Menge von Informationen. Ein Problem ist auch der Wirrwarr von Begriffen im Gegenstandsfeld Arbeit und Gesundheit (z.B. Gesundheit, Stress, Belastung, Gefahr, Risiko, Burnout). Es gibt keine medizinische Fachdisziplin mit solch unterschiedlichen Inhalten gleicher Worten. Zur Grundethik gehört, andere und anderes verstehen zu können und sich selbst verständlich auszudrücken.
Diskussionen zu Gefahren und Risiken – zwei unterschiedliche Inhalte – entwickeln und verselbständigen sich zunehmend, unabhängig von der Realität. Dies bringt das neue Schlagwort „postfaktisches Zeitalter“ zum Ausdruck. Fakten sind und bleiben in unserer Arbeitstätigkeit Grundlage für wirksames und effektives Handeln. Produziertes Risikofühlen als Selbstläufer macht erfolgreiches Handeln ohne gesellschaftliche Akzeptanz ethischer Bewertungsgrundlagen der Spezialisten kaum möglich. Auch wir Arbeitsmediziner müssen aufpassen, dass wir nicht durch unser Handeln in das „Postfaktische“ hineingeraten. Eine Vielzahl von Untersuchungen und Bewertungen im Bereich Arbeit und Gesundheit beruht auf Befragungen und der Wiedergabe von subjektiven Interpretationen. Ohne methodische Wertung und ohne methodengerechte Interpretation ist die Darstellung solcher Ergebnisse unethisch. Die Ergebnisse können durch den interessengeleiteten Zweck nicht geheiligt werden.
Ganzheitlichkeit überwindet selbst gestellte und fremd gesetzte Grenzen
Medizin hat schon immer den nicht einfach umzusetzenden Anspruch, ganzheitlich und umfassend zu sein. Für die Arbeitsmedizin wird dies in Zukunft einen vollkommen neuen Stellenwert erlangen. Ganzheitlichkeit der Bewertung und Gestaltung von Anforderungen, von individuellen Voraussetzungen, von Wirkungen, von gesundheitsfördernden, präventiven und therapeutischen Maßnahmen kann neben dem notwendigen umfassenden Fachwissen nur auf ethischer Grundlage erfolgen. Der Mensch als körperliche, psychische und soziale Einheit, Risiken und Ressourcen als Gesamtkomplex und nicht Einzelanforderung und -bedingung, Arbeit und Nichtarbeit als Lebensgrundlage werden zu einer erheblichen fachlichen Herausforderung. Verantwortungsbereiche, Erklärungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten verlassen die Betriebsgrenzen, wobei „Betrieb“ nur für den geringeren Teil unserer 44 Millionen Beschäftigten zutrifft. Die ICOH hat 2014 die „Factory“-Inspektoren in „Labour“-Inspektoren umbenannt. Auch bei uns geht es um „Arbeit“ mit ihren vielfältigen Verflechtungen und Beeinflussungen, wir sind nicht mehr nur „Betriebs“mediziner.
Demografie als Bevölkerungswissenschaft besteht nicht nur aus Altern
Zur Arbeit 4.0/Gesellschaft 4.0 gehört auch das Damoklesschwert der Demografie. Dabei geht es nicht nur um das Altern in Arbeit und Gesellschaft, sondern um Bevölkerungsgruppen, die im Zusammenhang mit Arbeitsmedizin ethische Positionen fordern. Dazu gehören z.B. Ausländer, aber auch die „Generation Y (WHY)“ mit speziellen Grundeinstellungen u.a. zur Arbeit. Wir sind in dem Prozess der Überwindung geschlechtsbezogener Diskriminierung in den letzten 100 Jahren erheblich vorangekommen. Jetzt müssen wir aufpassen, dass nicht die Älteren zur diskriminierten Population werden. Nicht das kalendarische Alter braucht arbeitsmedizinisches und gesellschaftliches Handeln, sondern die eingeschränkte oder veränderte Arbeitsfähigkeit sowie die Veränderung der Anforderungen der Arbeit (und der außerberuflichen Bedingungen) einschließlich der veränderten Einstellungen. Und das betrifft nicht nur die Älteren. Ethische Grundpositionen müssen für alle Bevölkerungsgruppen gleich sein, doch jede dieser Gruppen wirft eigene ethisch relevante Fragestellungen auf.
Umfassende Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der Ethik der Arbeitsmedizin
Eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Arbeitsmedizin ist, dass in der Gesellschaft keinerlei Zweifel an der Umsetzung der Ethik im alltäglichen arbeitsmedizinischen Handeln aufkommt. Dafür müssen alle in diesem Fachgebiet Sorge tragen.
Zur Ethik der Zusammenarbeit gehört auch die Gemeinsamkeit der Arbeitsmedizin in ihren unterschiedlichen Strukturen und Anbindungen. In der Deklaration von Genf des Weltärztebundes, letztmalig überarbeitet im Mai 2006, heißt es im Gelöbnis unter anderem: „Meine Kolleginnen und Kollegen werden meine Schwestern und Brüder sein“. Hier muss vor allem in der Arbeitsmedizin selbst noch einiges getan werden. Nicht nur der Markt bestimmt unsere Gemeinsamkeit – unsere Wurzeln sind und bleiben in der Medizin. Wer keine Wurzeln hat, verwelkt.
Der Arbeitsmediziner ist unabhängig und weisungsfrei. Dieses höchste Gut als Grundlage arbeitsmedizinischen Handelns erlangt einen noch deutlich höheren Stellenwert im Rahmen der oben angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen. Deshalb ist es unethisch, einem Arbeitsmediziner, der seinem gesetzlichen Auftrag nachkommt und beispielsweise eine wissenschaftliche Analyse zu Belastungen und Gesundheit der von ihm betreuten Beschäftigten veröffentlicht, automatisch einen Interessenskonflikt zu unterstellen. Dies untergräbt grundsätzlich die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit arbeitsmedizinischen Handelns. Der in die arbeitsmedizinische Vorsorge kommende Beschäftigte ist auch kein „Kunde“ oder „Klient“.
Fazit
Ohne die Umsetzung ethischer Grundregeln ist effektives und wirksames arbeitsmedizinisches Handeln nur eingeschränkt möglich. Diese sind nicht nur Handlungsgrundlage, sondern dienen auch dem Schutz der Arbeitsmedizin und des einzelnen Beschäftigten selbst – Grundlage der Akzeptanz der Arbeitsmedizin – wie auch der Abgrenzung im Feld Arbeit und Mensch. Ethik braucht Wertschätzung und Pflege. Jährlich werden Belehrungen zum Brandschutz, der Hygiene u.a. durchgeführt, warum nicht verpflichtend auch eine jährliche Ethikdiskussion. Nach jeder bestandenen Facharztprüfung sollte der Arbeits- und Betriebsmediziner/in den Ethikkodex der Arbeitsmedizin überreicht bekommen und ihn unterschreiben.
Literatur
Baur X, Letzel S, Nowak D (Hrsg.): Ethik in der Arbeitsmedizin: Orientierungshilfe in ethischen Spannungsfeldern. Landsberg: ecomed, 2009.
Litschka M: Der Beitrag der Unternehmensethik zu ethischen Herausforderungen für die Arbeitsmedizin. In: Baur X, Letzel S, Nowak D (Hrsg.): Ethik in der Arbeitsmedizin. Landsberg: ecomed 2009, S. 46–56.
Scheuch K, Münzberger E, Stork J, Piekarski C: Nachdenken über die Definition der Arbeitsmedizin. Zbl Arbeitsmed 2002; 52: 256–260.
Wichtig
Es gibt kein anderes ärztliches Fachgebiet mit solch hohen und breiten Anforderungen an die ethischen Grundlagen des Handelns wie die Arbeitsmedizin. Deshalb müssen ethische Grundsätze und ihre konkreten Umsetzungen bei wesentlichen gesellschaftlichen, arbeitsbezogenen, medizinischen Veränderungen auf den Prüfstand, auch zum Schutz des eigenen Handelns.
Weitere Infos
Grünbuch – Arbeit weiter denken. Arbeiten 4.0. Weißbuch. (Schlussfolgerungen) 11/2016. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2016.
www.bmas.de/DE/Schwerpunkte/Arbeiten-vier-null/arbeiten-vier-null.html
Autor
Prof. Dr. med. Klaus Scheuch
Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Technischen Universität Dresden
Zentrum für Arbeit und Gesundheit Sachsen GmbH,
Fiedlerstr. 4 – 01307 Dresden