Historie der berufsgenossenschaftlichen Grundsätze für die arbeitsmedizinische Vorsorge
Die Entwicklung erster Grundsätze begann vor ca. 45 Jahren, zu einer Zeit, in der das Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit – kurz Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) – in Vorbereitung war und es in Deutschland noch keinen Facharztstandard in der Arbeitsmedizin gab. Nach ersten Grundsätzen zu arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen im Jahre 1971 wurden erstmals 1994 die vorhandenen Untersuchungsempfehlungen in der 1. Auflage des „Blauen Buches“ vereint. Die Grundsätze dienten der praktischen Umsetzung der Vorgaben der Unfallversicherungsträger zur arbeitsmedizinischen Vorsorge, denn die arbeitsmedizinische Vorsorge wurde damals durch autonomes Recht, also Unfallverhütungsvorschriften, der gesetzlichen Unfallversicherung geregelt. Zur Durchführung der entsprechenden Untersuchungen bedurfte es einer Ermächtigung durch die gesetzliche Unfallversicherung.
Grundlegende Änderungen der arbeitsmedizinischen Vorsorge durch die ArbMedVV
Pflichtuntersuchungen wurden aufgrund der Unfallverhütungsvorschrift „Arbeitsmedizinische Vorsorge“ (VBG 100, später BGV A 4)1 z. B. bei gefahrstoffbezogenen Anlässen erst bei Überschreitung der Auslöseschwelle gefordert. Die früher nicht unerheblichen Expositionen gegenüber Gefahrstoffen und anderen Einwirkungen waren die fachliche Begründung dafür, dass arbeitsmedizinische Untersuchungen in den meisten Fällen neben der Beratung auch klinische Untersuchungen oder z. B. Biomonitoring enthielten, um arbeitsbedingte Gesundheitsstörungen frühzeitig zu erkennen oder um eine individuell erhöhte gesundheitliche Gefährdung festzustellen.
Die ArbMedVV aus dem Jahre 2008 bedeutete eine Veränderung des bisherigen Systems: Wo früher eine definierte Exposition oberhalb einer Auslöseschwelle zu Pflichtuntersuchungen führte, galt bei Vorsorgen aufgrund von Tätigkeiten mit Gefahrstoffen oft eine Exposition, egal wie hoch oder niedrig, als Anlass für eine Pflicht- oder Angebotsvorsorge. Es ist leicht ableitbar, dass bei Niedrigstexponierten wohl kaum innerhalb des üblichen Berufslebens bei klinischen Untersuchungen pathologische Befunde erhoben werden können.
2013 machte man mit der novellierten ArbMedVV einen weiteren Schritt: Bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen erfolgt jetzt bei Exposition eine Pflicht- oder Angebotsvorsorge, die obligat ein ärztliches Beratungsgespräch mit Anamnese einschließlich Arbeitsanamnese beinhaltet. Klinische Untersuchungen (z. B. Biomonitoring) werden vom Arzt nur dann angeboten, wenn diese ärztlich indiziert sind (Art und Intensität der beruflichen Belastung, konkreter Nutzen der diagnostischen Möglichkeiten) und vom Beschäftigten nicht abgelehnt wurden. Diese legislativen Änderungen verlangen den Betriebärztinnen und Betriebsärzten mehr Verantwortung und Fachexpertise ab, insbesondere auch in Hinblick auf eine fundierte und gleichzeitig verständliche Kommunikation der Zusammenhänge an den betroffenen Beschäftigten. Denn ob überhaupt eine klinische Untersuchung im Einzelfall erforderlich ist, geht weder aus den DGUV-Grundsätzen, noch aus arbeitsmedizinischen Regeln (AMR) oder arbeitsmedizinischen Empfehlungen (AME) hervor. In der ArbMedVV wird daher für die Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge Facharztstandard (Facharzt Arbeitsmedizin bzw. Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin) gefordert.
Auch die Beratung des Arbeitgebers – als eine betriebsärztliche Aufgabe nach ASiG –, wann Pflicht- oder Angebotsvorsorge nach ArbMedVV erforderlich wird, ist schwieriger geworden. Denn was Exposition genau meint, ist nicht in allen Fällen scharf definiert. Grundlage der arbeitsmedizinischen Vorsorge ist weiterhin die Gefährdungsbeurteilung. Hinzu kommt, dass die Verordnung die Auslösung von Vorsorge mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten verknüpft, beispielsweise „Tätigkeiten mit Gefahrstoffen, wenn eine wiederholte Exposition nicht ausgeschlossen werden kann“ oder „Tätigkeiten mit Exposition gegenüber einem Gefahrstoff“. Die genaue Beschreibung von Kriterien in einer AMR, bei denen eine Pflicht- oder Angebotsvorsorge nicht erfolgen muss (Abschneidekriterien), ist in Arbeit. Schwierigkeiten in der Praxis ergeben sich deshalb auch daraus, dass die DGUV-Grundsätze nicht die Systematik der ArbMedVV abbilden und Empfehlungen zu Untersuchungen darstellen. Die vorgeschlagenen Methoden zu den Untersuchungen zeigen in den meisten Fällen nur dann Abweichungen von Normalbefunden, wenn eine nicht unerhebliche Exposition des Probanden vorliegt.
Zumindest für die Untersuchungen aufgrund von Expositionen gegenüber Gefahrstoffen galt früher, dass sie veranlasst wurden, wenn eine im Vergleich zu heutigen staatlichen legislativen Vorgaben weitaus höhere Exposition der Beschäftigten zu verzeichnen war. So war es fachlich meist begründet, dass klinische Untersuchungen regelhaft durchgeführt wurden, deren Rahmen in den berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen niedergeschrieben wurden.
Frühere Stellung und Bedeutung der Grundsätze
Schon in der ersten Auflage des Buches zu den berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen hieß es im ersten Kapitel: „Die Grundsätze sollen die ärztliche Handlungsfreiheit im Einzelfall nicht einschränken. Sie sind nach einer einheitlichen Systematik gegliedert (Dekadensystem), um die praktische Anwendung zu erleichtern.“ Seit der zweiten Auflage hieß es im Kapitel 1 zur Stellung der Grundsätze sinngemäß, dass die Grundsätze durchaus sicherstellen sollen, dass die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen möglichst einheitlich durchgeführt werden. Die Grundsätze sollen aber auch die ärztliche Handlungsfreiheit im Einzelfall nicht einschränken. Sie entsprechen den allgemein anerkannten Regeln der Arbeitsmedizin. Vereinzelt wurde hier hineininterpretiert, dass die Grundsätze in einer Art „Kochbuchmedizin“ durchgearbeitet werden müssen, was nicht beabsichtigt oder verlangt war (Kluckert u. Hedtmann 2014).
Insbesondere der Hinweis in der 5. Auflage (2010), dass Grundsätze im Sinne von Leitlinien zu verstehen sind und diese „eine verbindliche Grundlage für das Handeln der im arbeitsmedizinischen Bereich und in der Aufsicht tätigen Mitarbeiter der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen“ darstellen, führte zu einer erheblichen Verunsicherung innerhalb der Arbeitsmedizin.
Aktuelle Stellung und Bedeutung der Grundsätze
Die 6. Auflage dieses Buches enthält explizit Empfehlungen, die Betriebsärzte bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 3 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) unterstützen sollen. Sie will den Ärztinnen und Ärzten also eine Hilfestellung bieten, wie arbeitsmedizinische Untersuchungen im Hinblick auf vorsorge- oder tätigkeitsbezogene Eignungsfragen nach dem allgemein anerkannten Stand der Arbeitsmedizin bei verschiedenen Untersuchungsanlässen durchgeführt werden können. Darüber hinaus sollen Betriebsärzte bei der inhaltlichen Gestaltung von arbeitsmedizinischen Untersuchungen unterstützt werden. Die Grundsätze sind demnach nicht explizit zur Ausfüllung der Aufgaben nach der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) geschaffen worden, sondern ihre Inhalte können beispielsweise auch bei Untersuchungen nach der Gesundheitsschutz-Bergverordnung (GesBergV) oder Druckluftverordnung (DruckLV) zur Anwendung kommen.
Die DGUV-Grundsätze hatten und haben weder eine rechtliche Verbindlichkeit, noch stellen diese aus sich heraus eine Rechtsgrundlage für Untersuchungen dar. Die häufig missverstandene Bedeutung oder Rechtsstellung der Grundsätze war u. a. ein bedeutender Auslöser der Kritik an den DGUV-Grundsätzen.
Kritik an den Grundsätzen
Parallel zum Erscheinen der 6. Auflage der DGUV-Grundsätze gab es in verschiedenen Medien starke Kritik (Drexler 2015; Heger u. Nauert 2015; Letzel 2015). Konkret kritisiert wurden u. a. folgende Punkte:
- Der Titel „Grundsätze“ suggeriert unter Berücksichtigung der Systematik der DGUV-Nomenklatur eine nicht vorhandene Verbindlichkeit.
- Die Beratungskomponente ist für die Anforderung der ArbMedVV zu eng gefasst.
- Beurteilungskriterien finden sich nach wie vor in den Grundsätzen, aber nicht in der ArbMedVV.
- Die Grundsätze greifen nicht die Systematik der ArbMedVV auf, so gibt es z. B. keine klare Trennung zwischen Eignungs- und Vorsorgegrundsätzen.
Wenn man sich aber vor Augen hält, dass die arbeitsmedizinische Vorsorge nur einen Ausschnitt der betriebsärztlichen Tätigkeit darstellt und Untersuchungen im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge nach ArbMedVV in diesem kleinen Ausschnitt nur einen Teil darstellen ( Abb. 1) ist nachvollziehbar, dass ein Teil der Kritik darauf beruht, dass nicht so eindeutig definiert ist, welche Bedeutung den DGUV-Grundsätzen derzeit zukommt. Einerseits geben diese dem untersuchenden Arzt Empfehlungen und Hinweise, die bei arbeitsmedizinischen Untersuchungen, gleich welcher gesetzlichen Grundlagen, nützlich sein könnten, andererseits geben sie unter den Beurteilungen Hinweise auf Maßnahmen, die nur vom Arbeitgeber umgesetzt werden können. Aus der vorstehenden Erkenntnis folgt fast zwingend, dass sowohl die Gesetzliche Unfallversicherung als auch die Weiterbildungsakademien als auch die Berufsverbände und die wissenschaftliche Fachgesellschaft auf diesem Gebiet umfassender informieren sollten.
Nicht vergessen darf man, dass die Grundsätze auch von Kolleginnen und Kollegen im Ausland genutzt werden, wenngleich hier z. T. vollkommen andere Rechtssysteme bestehen, die mit dem deutschen Recht nicht vergleichbar sind. Unter Umständen gibt es dort noch Beschäftigtenkollektive, die höheren Gefahrstoffexpositionen als in Deutschland ausgesetzt sind. Hier dienen die Inhalte der Grundsätze auch dazu, Zusammenhangswissen zu Expositionen und Einwirkungen und möglichen negativen Gesundheitsfolgen an Organsystemen zu bewahren.
Weiterentwicklung der Grundsätze
Die Kritik an den Grundsätzen aufnehmend, hat die Leitung des AAMED-GUV Spitzengespräche mit DGAUM und VDBW geführt, um deren Wünsche und Anregungen aufzunehmen und denkbare Richtungen der Weiterentwicklungen zu erwägen. Insbesondere fachliche Kritik zu den Inhalten der Grundsätze wurde dabei sehr ernst genommen. Auch infolge dieser Entwicklung stellt die DGAUM einen mandatierten Vertreter im AAMED-GUV, der die fachliche Weiterentwicklung der DGUV-Grundsätze unterstützt und begleitet. DGAUM, VDBW und BsAfB wurden zusätzlich eingeladen, Fachleute in die Arbeitskreise des AAMED-GUV zu entsenden, um an der Weiterentwicklung der Grundsätze konkret und direkt mitzuarbeiten, damit künftige Empfehlungen auf einem breiten fachinternen Konsens fußen. Nur so können Verunsicherungen in der betriebsärztlichen Praxis vermieden werden.
Konkrete Ideen zur Weiterentwicklung der Grundsätze sind u. a.:
- Umbenennung des Buchtitels mit einem Hinweis auf den empfehlenden Charakter der „Grundsätze“
- Stärkung der Beratungskomponente
- Umbenennung der Beurteilungskriterien unter Beibehaltung von Bewertungsempfehlungen
- Anknüpfung der Handlungsempfehlungen an die ArbMedVV
- Mehr Transparenz durch Prüfung der Möglichkeit von Autoren- bzw. Arbeitskreismitgliedernennung
- Darlegung der wissenschaftlichen Basis, auf der die Empfehlungen beruhen.
Fazit
Grundsätzlich werden die Empfehlungen der DGUV zu arbeitsmedizinischen Untersuchungen das bleiben, was sie sind und waren: Empfehlungen zu arbeitsmedizinischen Untersuchungen, die in vielen Bereichen und nicht nur im Zusammenhang mit der ArbMedVV genutzt werden können. Sie werden Hinweise zu Untersuchungen von Beschäftigten beinhalten, die chemischen, biologischen, physikalischen oder sonstigen Einwirkungen ausgesetzt sind. Diese Hinweise sollen und dürfen aber auch zukünftig nicht ohne Anwendung des erforderlichen Facharztwissens unreflektiert abgearbeitet werden, sondern sind immer in einen Bezug zur individuellen Person und den in Frage stehenden jeweiligen Arbeitsplatzverhältnissen zu stellen. Sie werden weiterhin Information zur Auswertung der Befunde beinhalten, auch wenn viele Arbeitsplätze in Deutschland nicht mehr so hohe Expositionen beinhalten, dass alle beschriebenen Auswirkungen und Erkrankungen tatsächlich auftreten.
Die Empfehlungen und Hinweise dienen ebenfalls der Bewahrung des Zusammenhangswissens bezüglich Expositionen und Berufskrankheiten einerseits und der Unterstützung der ärztlichen Kollegenschaft im Ausland andererseits, also überall dort, wo möglicherweise mit höheren Expositionen gerechnet werden muss.
Die fachliche Richtigkeit der Inhalte soll auch durch eine enge und umfassende Einbindung der DGAUM als wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaft, die Praxisrelevanz durch Einbindung betrieblicher Experten/Expertinnen, Betriebsärztinnen/Betriebsärzten und anderer Fachleute gewährleistet sein. Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen DGAUM und DGUV bezüglich der Grundsätze in dieser Form eine neue Herausforderung darstellt und naturgemäß zu Beginn der Arbeiten an der Neuauflage noch nicht alle Inhalte, Rahmenbedingungen und erforderlichen Entscheidungen getroffen sind, so besteht unter den Autoren Einigkeit, dass man sehr engagiert, ziel- und konsensorientiert an den neuen Empfehlungen arbeiten wird.
Literatur
Berufsgenossenschaftliche Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, 1. Aufl. Stuttgart: Gentner, 1994.
DGUV: DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, 5. Aufl. Stuttgart: Gentner, 2010.
DGUV: DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen, 6. Aufl. Stuttgart: Gentner, 2014.
Kluckert M, Hedtmann J: Neuauflage der DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2014; 12: 942-944
Drexler, H.: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) zur Neuauflage der DGUV-Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 3: 218–220.
Heger M, Nauert T: Stellungnahme der Vereinigung Deutscher Gewerbeärzte e.V. zur Neuauflage DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 5: 371–373.
Letzel S: DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen – mehr Verwirrung als Nutzen; Stellungnahme des Vorsitzenden des AfAMed zur 6. vollständig neu bearbeiteten Auflage. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 5: 220–222.
Fußnoten
1 Die Unfallverhütungsvorschrift „Arbeitsmedizinische Vorsorge (VBG 100, später BGV A 4) mit Durchführungsanweisungen vom April 1993 wurde von den Unfallversicherungsträgern mit Inkrafttreten der neuen Unfallverhütungsvorschrift „Grundsätze der Prävention“ DGUV Vorschrift 1 zurückgezogen.
Für die Autoren
Dr. med. Matthias Kluckert
Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, Kompetenz-Center Arbeitsmedizin
Kurfürstenanlage 62
69115 Heidelberg