Bundesteilhabegesetz
Mit Blick auf § 32 Absatz 3 Bundesteilhabegesetz (BTHG) scheint, bei aller geäußerten Kritik aus der Behindertenselbsthilfe (vgl. z. B. Bartz 2017, s. „Weitere Infos“), ein großer Wurf geglückt zu sein, denn hier wird Peer Counselling gesetzlich gefordert. § 32 BTHG befasst sich insgesamt mit der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung und Absatz 3 schreibt vor, dass „bei der Förderung von Beratungsangeboten […] die von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige ergänzende Beratung von Betroffenen für Betroffene besonders zu berücksichtigen“ ist.
In seiner Erläuterung führt der Gesetzgeber aus, dass ein besonderes Augenmerk auf dem Peer Counselling liegt, also der Beratung von Betroffenen für Betroffene. Bezogen wird sich hier auf das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD). Konkret wird Artikel 26 Absatz 1 CRPD genannt.
Behindertenrechtskonvention
In Artikel 26 Absatz 1 CRPD heißt es in der zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmten Übersetzung: „Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, einschließlich durch […] peer support, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an […] Selbstbestimmung, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in allen Aspekten des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Zu diesem Zweck organisieren, stärken und erweitern die Vertragsstaaten umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit, der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialdienste, und zwar so, dass diese Leistungen und Programme:
- im frühestmöglichen Stadium einsetzen und auf einer multidisziplinären Bewertung der individuellen Bedürfnisse und Stärken beruhen;
- die Einbeziehung in die Gemeinschaft und in die Gesellschaft in allen ihren Aspekten sowie die Teilhabe daran unterstützen, freiwillig sind und Menschen mit Behinderungen so gemeindenah wie möglich zur Verfügung stehen, auch in ländlichen Gebieten“ (Netzwerk ARTIKEL 3 e.V.).“
Peer Counselling versus Peer Support
Zur Erläuterung sei hier darauf hingewiesen, dass der Terminus „Peer Counselling“ – wie er im Bundesteilhabegesetz verwendet wird – und der Terminus „Peer Support“ – wie er in dem Menschenrecht, im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, verwendet wird – gleichbedeutend ist (vgl. Rensinghoff 2016). In der gesetzgeberischen Kommentierung von § 32 Absatz 3 BTHG werden in Bezug auf Peer Counselling/Support „entscheidende Andere“ erwähnt. Entscheidende Andere oder Angehörige sind in diesem Fall dann auch die sozialmedizinisch Tätigen. Betroffene Angehörige, wie zum Beispiel Eltern behinderter Kinder oder pflegende Angehörige (BT-Drs. 18/9522, S. 246) sollen genau dieses Beratungsangebot in Anspruch nehmen.
Finanzierung des Peer Counselling/Support
Die Finanzierung des Peer Counselling/Support scheint gesichert zu sein, denn mit dem Bundesteilhabegesetz wird von dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die gesetzliche Grundlage geschaffen, eine ergänzende unabhängige Teilhabeberatung zu fördern, die Menschen mit (drohenden) Behinderungen und ihren betroffenen Angehörigen als niedrigschwelliges Angebot bundesweit zur Verfügung steht. In § 32 Absatz 3 SGB IX wird festgelegt, dass das Beratungsangebote von Betroffenen für Betroffene (sog. Peer Counselling) bei der Förderung besonders zu berücksichtigen ist. Das BMAS erarbeitet derzeit die notwendigen Voraussetzungen und Details, damit die Förderung zum 1. Januar 2018 mit Inkrafttreten der Regelung beginnen kann.
Ziel ist es, ein bundesweit flächendeckendes Angebot zu fördern und dabei auf den bestehenden Beratungsstrukturen in den Ländern aufzubauen. Ab 2018 sind für die Laufzeit der Förderung jährlich jeweils insgesamt 58 Millionen Euro im Haushalt eingeplant. Die Mittel werden als Zuwendungen nach der Bundeshaushaltsordnung auf der Grundlage einer Förderrichtlinie zur Verfügung stehen, um die sich Interessenten bewerben können. Wie viele Beratungsangebote gefördert werden, hängt von der konkreten Ausgestaltung der Angebote und ihrer Förderfähigkeit im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel und Förderkriterien ab. Bei der Entscheidung über die Förderfähigkeit werden vom Bund die Länder um eine qualifizierte Stellungnahme gebeten.
Grundsätzlich gefördert werden unabhängige regionale Beratungsangebote, die ergänzend zur Beratung durch die Leistungsträger und Leistungserbringer zur Verfügung stehen. Hier wird es sich vor allem um die Finanzierung von Personalkosten handeln. Um die vom Gesetzgeber mit der Förderung beabsichtigten bundesweit einheitlich hohen Qualitätsstandards zu erreichen, ist geplant, die Mittel außerdem für Qualitätssicherung wie beispielsweise Schulungen und für die notwendige Vernetzung der Beratungsangebote einzusetzen. Die Einzelheiten und die konkrete Ausgestaltung der Förderung werden derzeit erarbeitet und in der Förderrichtlinie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales enthalten sein.
Aktionstag der Universität Witten/Herdecke
Seit 1993 ist der 3. Dezember nun der „Internationale Tag der behinderten Menschen“, der 2007 in „Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung“ umbenannt wurde. Anlass für diesen Gedenktag war, dass am 3. Dezember 1982 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen das Weltaktionsprogramm für Menschen mit Behinderung angenommen wurde. Zum Abschluss des Jahrzehnts der behinderten Menschen, das von 1983 bis 1992 andauerte, wurde dieser Gedenktag eingeführt. Die Universität Witten/Herdecke hat dem 3. Dezember 2016 einen Aktionstag gewidmet.
Wie Behinderung erlebt und gelehrt werden kann, hat das Seminar „Disability Studies – Peer Support als Kulturwissenschaft“, Fakultät für Kulturreflexion – Studium fundamentale am 3. Dezember 2016, am „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung“, mit einem Stand zur Selbsterfahrung in der Shoppingmall der StadtGalerie Witten gezeigt. Wie Behinderungen sich im Alltag auswirken können, konnten Wittener Bürgerinnen und Bürger in der StadtGalerie an sich selbst ausprobieren. Durchgeführt wurde dieser Stand von Studierenden der Universität Witten/Herdecke (UW/H). Beim Spiegelzeichnen lag die Behinderung in einer gestörten Auge-Hand-Koordination. Beim Sehen durch spezielle Brillen wurden verschiedene Augenerkrankungen simuliert, wie Katarakt (grauer Star), Retinitis pigmentosa und Makuladegeneration (gelber Fleck). Andere konnten erfahren, wie schwer es ist, ein Brötchen zu schmieren, wenn nur ein Arm benutzt werden kann, oder man beim Probefahren mit dem Rollstuhl auf unnötige Hindernisse stößt.
Ausblick
Es ist sinnvoll und notwendig, wenn die Sozialmedizin die behinderungsspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten der behinderungserfahrenen Expertinnen und Experten, die über eine erlebte Kompetenz verfügen, in der akademischen Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie in der täglichen Praxis im Sinne des Peer Counselling/Support mit einbezieht. Dieses Wissen ist für die Entwicklung von patientinnen- und patientenorientierten Behandlungsstrategien zu nutzen.
Literatur
NETZWERK ARTIKEL 3 e.V.: Schattenübersetzung – Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Berlin: Eigenverlag, 2009.
Rensinghoff C: Selbstbestimmtes Leben nach schwerer Schädelhirnverletzung im Alter von 12 Jahren. In: Wild KRH von, Hömberg V, Ritz A (Hrsg.): Das schädelhirnverletzte Kind. Motorische Rehabilitation – Qualitätsmanagement. München: Zuckschwerdt, 1999, S. 150f.
Rensinghoff C: Peer Support in der beruflichen Habilitation schwer hirnverletzter Jugendlicher und junger Erwachsener. Butzbach-Griedel: AFRA, 2004.
Rensinghoff C: Aktion Zweite Hilfe – Botschafter im Einsatz für hirntraumatisierte Menschen. praxis ergotherapie 2016; 29: 52–55.
Zur Person
Am 28. Februar 1982 erlitt der Autor im Alter von 12 Jahren ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, nachdem er als Rollerskate-Läufer von einem Pkw angefahren wurde. Verheilt sind beidseitige Oberschenkelfrakturen und eine komplette Unterschenkelfraktur links. Was bleibt, sind eine spastische Hemiparese links, ein Gangbild nach Wernicke-Mann und Auffälligkeiten, die dem neuropsychologischen Formenkreis zuzuschreiben sind. Die Akutbehandlung erfolgte zunächst vier Wochen in der neurochirurgischen Intensivabteilung und anschließend acht Wochen in der unfallchirurgischen Abteilung. Dieser Behandlung schloss sich direkt die stationäre Weiterbehandlung in einem neurologischen Rehabilitationskrankenhaus für Kinder und Jugendliche an. Bis zum Unfallzeitpunkt besuchte er die siebte Klasse eines Gymnasiums in seiner Heimatstadt Witten (Rensinghoff, 1999).
Nach der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik erfolgte der Wechsel in die achte Klasse einer Schule mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf in der körperlichen und motorischen Entwicklung. Bis zum Erhalt der Fachoberschulreife mit der Zugangsberechtigung für die gymnasiale Oberstufe wurde dieses Förderschulsystem in Bochum besucht. Das Abitur absolvierte der Autor in der gymnasialen Oberstufe der Förderschule mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung in Köln.
Danach studierte er das Lehramt für Sonderpädagogik an der Universität Köln. 2004 wurde der Autor vom Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen mit einer Arbeit zum Peer Support als neuropädagogische Maßnahme in der Habilitation schwer hirnverletzter Jugendlicher und junger Erwachsener im Übergang von der Ausbildung in das Berufsleben promoviert.
Seit 2008 führt er Peer Support im Dr. Carsten Rensinghoff Institut – Institut für Praxisforschung, Beratung und Training bei Hirnschädigung durch.
Peer Support lehrt und prüft der Autor seit dem Sommersemester 2015 an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke in der Sozialmedizin. Bei dieser Beratungsmethode handelt es sich um einen wesentlichen Bestandteil bei der sozialmedizinischen Begutachtung von Menschen mit Behinderung.
Weitere Infos
Bartz G: Offener Brief zum Zorn über das BTHG
BT-Drs. 18/9522: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG)
Autor
Dr. phil. Carsten Rensinghoff
Dr. Carsten Rensinghoff Institut
Institut für Praxisforschung, Beratung und Training bei Hirnschädigung
Sprockhöveler Str. 144
58455 Witten