Einführung
Aus mitteleuropäischer Sicht werden oft die Probleme unterschätzt, die sofort augenfällig sind, wenn Arbeitnehmer im Ausland verunglücken oder akut erkranken. Diese Notfälle passieren in Regionen mit möglicherweise geringer Infrastruktur (Kommunikation, medizinische Einrichtungen, lange Rettungswege), fast immer anderer Sprache, in jedem Fall anderer Mentalität und vielen anderen Faktoren statt, die die erforderlichen Maßnahmen deutlich erschweren, wenn nicht verhindern können. Der erste Fall – ein Dienstunfall der Bundeswehr im Rahmen einer Ausbildung für Auslandseinsätze in großer Höhe – zeigt dies eindrücklich. Er zeigt aber auch, was trotz scheinbar hoffnungsloser Lage möglich ist, wenn alle Beteiligten einen perfekten Job machen.
Der zweite Fall ist ein schönes Beispiel dafür, dass man nicht erst ins ferne Ausland gehen muss, um Probleme zu produzieren. So stößt man in der reisemedizinischen Beratung aus verschiedenen Quellen stammend immer wieder auf den nicht leitlinienkonformen Rat, ASS zur Reiseprophylaxe einzusetzen.
Fall 1: Schwere Sturzverletzungen fernab jeglicher Infrastruktur
Beim Abstieg vom Huascaran (6768 m, Peru) in etwa 5700 m Höhe rutschte einer der Bergsteiger etwa 100 m in einer Eisrinne bergab und stürzte in eine ca. 7 m tiefe Gletscherspalte ( Abb. 1 ). Dabei zog er sich folgende Verletzungen zu: Schädel-Hirn-Traum mit initialer Bewusstlosigkeit von ca. 45 min und deutlicher Hirnschwellung, subtotale Amputation der Nase mit Mittelgesichtsverletzung, Zungenbiss, Bulbusprellung beider Augen mit Hämatombildung im Bereich beider Skleren, Aspiration von Blut linker Lungenmittellappen, mehrere kleinere Wunden an Stirn, Lippe, Kinn.
Beim Abstieg vom Huascaran (6768 m) muss von der sog. Garganta bis zum Hochlager 1 eine eisschlaggefährdete Flanke gequert werden, daher wird dieser Bereich unangeseilt begangen. Dabei stolperte ein Bergsteiger und versuchte unmittelbar den Eispickel bremsend einzusetzen, was auch zunächst erfolgreich gelang. Als er aber über eine kurze Steilstufe rutschte, rammte er sich die Schaufel des Eispickels ins Mittelgesicht und zog sich hierbei eine subtotale Amputationsverletzung der Nase zu ( Abb. 2 ). Die weitere Sturzbahn verlief ungebremst bei reaktionslosem Patienten. Beim folgenden Sturz in eine 7 m tiefe Gletscherspalte wurde der Helm des Patienten zerstört. Der Patient kam kopfüber in der Spalte zu liegen.
Der Expeditionsleiter war bereits nach etwa zehn Minuten beim Patienten und fand diesen bewusstlos vor. Nach entsprechender medizinischer und technischer Vorbereitung (ABC, HWS-Immobilisation [SamSplint], Pulsoxymetrie, Analgesie [Dipidolor i.m.]) erfolgte die Bergung aus der Spalte mittels loser Rolle. Auf dem Gletscher wurde der immer noch bewusstlose Patient mit einem GCS von 8 auf einem Podest in stabiler Seitenlage wärmeisoliert gelagert ( Abb. 3 ). Zunehmend wurde der Patient bewusstseinsklarer, bewegte alle Extremitäten und gab bei der vollständigen körperlichen Untersuchung nur Schmerzen im Gesicht an, er war allezeit vital stabil.
Eine Hubschrauberrettung ist in dieser Höhe nicht möglich. So wurde der Patient, nachdem aus dem Hochlager 1 entsprechendes Material heraufgebracht worden war, mit den Mitteln der behelfsmäßigen Bergrettung (Schlafsackverschnürung, Isomattenschlitten etc.) über mehrer Sektionen abgeseilt und seilgesichert über zwei größere Gletscherspalten transportiert. Bei Erreichen des Hochlagers 1 wurde es Nacht. Parallel zur Bergung des Patienten war bereits nach Hilfe von der Hütte in 4600 m geschickt sowie die Botschaft in Lima zur Organisation der weiteren Rettung informiert worden. Während der Wartezeit auf die Helfer wurde der Patient im Zeltbereich windgeschützt gelagert und mit einer Hiebler Wärmepackung versorgt. Er war inzwischen bedingt ansprechbar und wurde für den weiteren Abtransport (jetzt teilweise mit Trage) mit Dipidolor und Ketanest S abgeschirmt. Nach Ankunft in der Hütte erfolgte ein erneuter Bodycheck ohne neue Befunde. Oral wurde ihm ein Breitspektrumantibiotikum verabreicht. Der Patient wurde kontinuierlich pulsoxymetrisch überwacht. Problematisch entwickelte sich bei dem zunehmend wacheren Patienten (er ging mit Unterstützung zur Toilette) die Atmung, die wegen dem Zungenbiss mit massiver Zungenschwellung überwiegend über die Wunde im Bereich der subtotal amputierten Nase erfolgte. Aufgrund der damit verbundenen Schmerzen war die wiederholte Gabe von Dipidolor erforderlich, dies führte jeweils zu einem Anstieg der Sauerstoffsättigung.
Am Folgetag wurden Patient und Expeditionsarzt per Militärhubschrauber zum Flugplatz von Huaraz gebracht, wo bereits ein Ambulanzjet mit Notarzt wartete. Der Weitertransport nach Lima erfolgte verzugslos, dort am Flughafen wurden Patient und Expeditionsarzt von einem deutschsprachiger Vertrauensarzt der Botschaft mit KTW empfangen und in die Klinik „Padre Luis Tezza“ gebracht (28 Stunden nach Unfall). Hier war bereits ein Intensivbett vorbereitet und unmittelbar nach komplettem Bodycheck des übernehmenden Intensivmediziners wurde ein CT Schädel/Gesichtsschädel, HWS, Thorax, Abdomen durchgeführt. Neben den äußerlichen Verletzungen zeigten sich ein deutliches Hirnödem, eine Aspiration im linken Lungenunterlappen und ein kleines Hämatom im Bereich des rechten Nierenoberpols. Ein HNO- und ein Augenarzt wurden hinzugezogen. In der gleichen Nacht wurden die Wunden, insbesondere die Nasenwunde plastisch-chirurgisch versorgt. Am Folgetag wurde der Patient gegen 9 Uhr extubiert und verbrachte zwei weitere Tage auf der Intensivstation, bevor er von einer Challenger nach Deutschland repatriiert wurde.
Das fundierte Beherrschen der Techniken der behelfsmäßigen Bergrettung von allen Expeditionsteilnehmern war der Schlüssel für die erfolgreiche Rettung des Patienten. Unter Leitung des Expeditionsleiters erfolgten die Bergung und der Abtransport des Patienten in schwierigem Gelände perfekt, so dass der Patient noch vor Einbruch der Nacht das Hochlager 1 erreichte. Dieser Tatsache gebührt besondere Beachtung, denn die körperlich äußerst anstrengende Bergung des Patienten erfolgte nach einer 15-stündigen fordernden Tour auf den höchsten Gipfel Perus (6768 m). Eine Unterkühlung bestand zu keinem Zeitpunkt, dies liegt am schnellen, zielgerichteten Arbeiten aller Expeditionsteilnehmer bei Bergung und Abtransport. Alle waren sich der großen Unterkühlungsgefahr auf dem Gletscher in 5700 m Höhe bewusst und ständig bemüht, Isolierung und Wärmeerhalt des Patienten zu verbessern. Vorbildlich ist die parallel zu dieser Bergung durchgeführte Information der deutschen Botschaft über Handy und der von dort mit großem persönlichem Engagement organisierte Weitertransport. So verlangt beispielsweise die Freigabe eines Hubschraubers in Peru die Zustimmung des Innenministers. Der gesamte Transport von der Hütte bis in die Klinik war vorbildlich, die Klinik mit europäischem Standard sehr gut gewählt. Dass parallel hierzu bereits die Repatriierung eingeleitet wurde, hat wesentlich zum guten Outcome des Patienten beigetragen.
Dieser Fall – übrigens ein Dienstunfall, denn es handelte sich um eine militärische Ausbildung zum Einsatz in großer Höhe – zeigt eindrücklich, vor welchen Problemen Beteiligte eines Unfalls und Helfer stehen, wenn gravierende Ereignisse abseits gewohnter Infrastruktur geschehen. Die Beteiligten sind oft völlig auf sich selbst gestellt und das zur Verfügung stehende Material zur Patientenversorgung wird immer minimal sein. Daher ist das solide Beherrschen von Erster Hilfe und der behelfsmäßigen Rettungstechniken essentiell. Von Vorteil war im konkreten Fall sicherlich, dass der Unfall im Rahmen einer militärischen Ausbildungsmaßnahme passiert ist, denn dadurch stand deutlich mehr „Infrastruktur“ (Manpower, Ausbildungsstand, Ausrüstung, Kommunikation usw.) zur Verfügung als bei einem Freizeitunfall. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie der Fall ausgegangen wäre, wenn der Unfall bei einem kleinen Team (zwei bis vier Personen) von Bergsteigern ausgegangen wäre.
Ein kompetenter Arzt vor Ort ist bei derartigen Verletzungen notwendig, das komplexe Zusammenspiel von ausgeprägter Höhenhypoxie, lebensgefährlichen Kombinationsverletzungen und der Einsatz von hochpotenten (BTM-pflichtigen) Medikamenten erfordert viel Erfahrung, insbesondere da bei derartigen Unternehmungen die medizinische Ausstattung immer erheblich eingeschränkt sein wird. An den Arzt bestehen hohe konditionelle Anforderungen, und er muss sich selbständig im schwierigen Gelände bewegen können, da bei einer derartigen Rettungsaktion die Konzentration aller Beteiligten dem Verletzten gilt und keine Kapazität besteht, den Arzt durch einen Bergführer zu eskortieren.
Daneben sind personelle Strukturen erforderlich, die vor Ort im Reiseland in der Lage sind, eine professionelle Rettung sowie eine Repatriierung zeitnah zu organisieren. Dies kann, wie im vorgestellten Fall, die Botschaft oder auch eine Flugrettungsorganisation wie beispielsweise die REGA oder die DRF sein. Entscheidend ist dabei sicherlich, dass die Kontaktaufnahme sowie eine Grobplanung vor einem Unfallereignis erfolgt. Für berufliche Auslandsaufenthalte bedeutet dies, dass der Betriebsarzt eng in die Planung – auch möglicher „Worst-case Szenarios“ – eingebunden wird.
Fall 2: Thromboseprophylaxe „einmal anders“
Eine ansonsten gesunde 53-jährige Frau nahm zur Vorbeugung einer Thrombose bei rezidivierender Thrombophlebitis 100 mg Azetylsalizylsäure (ASS) am Vortag und am Abreisetag vor einem Mittelstreckenflug ein. Kurz nach Ankunft am Reiseziel kam es zu einer primär als Bagatelle eingestuften Verletzung. Sie war mit dem Oberschenkel an eine abgerundete Tischecke gestoßen. Dabei verspürte sie einen kurzen, hellen Schmerz, ohne dem eine besondere Bedeutung beizumessen. Im Laufe des nächsten Tages entwickelte sich an der Außenseite des Oberschenkels ein schmerzloser, massiver Bluterguss mit einer gänseeigroßen Schwellung. Im weiteren Verlauf floss der weiterhin kaum schmerzhafte Bluterguss unter zentraler Aufhellung nach unten bis zum Kniegelenk ( Abb. 4 ). Nach etwa einer Woche entwickelte sich ein einseitiges, leicht eindrückbares Unterschenkel- und Fußödem bei gut tastbaren Fußpulsen ohne begleitende Unterschenkelschmerzen auf der vom Bluterguss betroffenen Seite.
Unter dem Verdacht einer venösen Thrombose wurde die Betroffene in ein weiter entferntes Krankenhaus gebracht. Aufgrund der lokalen Gegebenheiten konnte keine Dopplersonographie durchgeführt werden, so dass nach spontanem Rückgang des Ödems unter Hochlagerung ohne weitere Beschwerden und unauffälligem klinischen Befund die Diagnose eines einseitig betonten Unterschenkelödems bei starker orthostatischer und klimatischer Belastung gestellt wurde. Es wurde nur die Anwendung von Lokaltherapeutika zur Förderung der Hämatomrückbildung empfohlen.
Bemerkenswert sind dabei drei Dinge: zum einen die nicht leitlinienkonforme Thromboseprophylaxe mit ASS bei einem Mittelstreckenflug, zum zweiten eine mögliche Störung des Wasser- und Elektrolythaushalts durch klimatische Belastung und zum dritten erhebliche Schwierigkeiten, kurzfristig eine adäquate Diagnosemöglichkeit zu erreichen und den daraus resultierenden therapeutischen Nihilismus. Im Rahmen reisemedizinischer Beratung stößt man immer wieder auf ASS, wobei die Empfehlungen aus unterschiedlichsten Quellen stammen, neben dem Internet auch aus einzelnen Fachpublikationen. Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass die Datenlage zugunsten erfolgreicher Prophylaxe der Reisethrombose mit ASS bestenfalls als „dünn“ bezeichnet werden kann. Da im venösen Bereich die plasmatische Gerinnung und nicht die zelluläre Gerinnung die Hauptrolle spielt, ist ein präventiver Effekt auch nicht zu erwarten, schließlich wirkt ASS als irreversibler Cyclooxigenasehemmer (COX1) und damit Thromboxan-A2-Synthesehemmer, wodurch die Plättchenaggregation vermindert wird.
Im konkreten Fall stellt sich grundsätzlich die Frage, ob eine Prophylaxe der Reisethrombose indiziert war. Wegen des Alters der Reisenden, die sonst keine weitere Risikokonstellation aufwies, abgesehen von der Thrombophlebitis, könnte man sie in die Risikostufe 2 der „Vienna Classification“ sowie der neueren „Hall Classification“ einstufen. Für diese Risikoklasse werden nach internationalem Konsens Bewegung, isometrische Muskelkontraktion, ausreichende Trinkmenge und Kompressionsstrümpfe („Reisestrümpfe“) empfohlen (Partsch et al. 2001, 2002; Schobersberger et al. 2008; Siedenburg 2010; Ringwald et al. 2011). Unabhängig von der Risikostufe sollte auch die Fluglänge in Betracht gezogen werden. So ist gut belegt, dass das Risiko, eine Reisethrombose zu erleiden, erst ab einer Flugdauer von über 4 Stunden oder nach anderen Studien mehr als 5000 km Entfernung steigt (Lapostolle et al. 2003; Hughes et al. 2003; Paganin et al. 2003; Martinelli u. Battaglioli 2003; Martinelli et al. 2003; Schwarz et al. 2003; Kuipers et al. 2006, 2007a,b).
Schlussfolgerungen
Die vorgestellten Fälle unterstreichen die Bedeutung rechtzeitiger Planung auch von Notfällen – gemäß ASiG ist der Betriebsarzt auch für die Organisation betrieblicher Notfälle verantwortlich! – sowie die Bedeutung angemessener, die internationale Datenlage und das individuelle Risikoprofil berücksichtigender Maßnahmen in der Prävention.
Literatur
Hughes RJ, Hopkins RJ, Hill S et al.: Frequency of venous thromboembolism in low to moderate risk long distance air travellers: the New Zealand Air Traveller‘s Thrombosis (NZATT) study. Lancet 2003; 362: 2039–2044.
Kuipers S, Cannegieter SC, Middeldorp S et al.: Use of preventive measures for air travel-related venous thrombosis in professionals who attend medical conferences. J Thromb Haemost 2006; 4: 2373–2376.
Kuipers S, Cannegieter SC, Middeldorp S et al.: The absolute risk of venous thrombosis after air travel: a cohort study of 8,755 employees of international organisations. PLoS Med 2007a; 4: e290.
Kuipers S, Schreijer AJ, Cannegieter SC et al.: Travel and venous thrombosis: a systematic review. J Intern Med 2007b; 262: 615–634.
Lapostolle F, Borron SW, Surget V et al.: Stroke associated with pulmonary embolism after air travel. Neurology 2003; 60: 1983–1985.
Martinelli I, Battaglioli T. Economy-class syndrome: media hype or real risk? Haematologica 2003; 88: 486–488.
Martinelli I, Taioli E, Battaglioli T et al.: Risk of venous thromboembolism after air travel: interaction with thrombophilia and oral contraceptives. Arch Intern Med 2003; 163: 2771–2774.
Paganin F, Bourde A, Yvin JL et al.: Venous thromboembolism in passengers following a 12-h flight: a case-control study. Aviat Space Environ Med 2003; 74: 1277–1280.
Partsch H, Niessner H, Bergau L et al.: Reisethrombose 2001. Phlebologie 2001; 4: 101–1103.
Partsch H, Niessner H, Bergau L et al.: Traveller’s thrombosis 2001. Vasa 2002; 31: 66–67.
Ringwald J, Schifferdecker C, Raemsch C et al.: Travelers’ thrombosis--a state of practice in Germany. J Travel Med 2011; 18: 44–52.
Schobersberger W, Toff WD, Eklof B et al.: Traveller’s thrombosis: international consensus statement. Vasa 2008; 37: 311–317.
Schwarz T, Siegert G, Oettler W et al.: Venous thrombosis after long-haul flights. Arch Intern Med 2003; 163: 2759–2764.
Siedenburg J: Kompendium Reisemedizin und Flugmedizin. Norderstedt: BoD – Books on Demand, 2010.
Für die Autoren
Dr. med. Markus Tannheimer
Klinik für Allgemein-, Visceral, und Thoraxchirurgie
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Oberer Eselsberg 40 – 89081 Ulm