Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Arbeitsbegleitende Erhebung und Auswertung von Vitaldaten als Element der Gesundheitsförderung im Arbeitsprozess

Arbeitsbegleitende Erhebung und Auswertung von Vitaldaten als Element der Gesundheitsförderung im Arbeitsprozess

Die Arbeitswissenschaft untersucht die Bedingungen und Auswirkungen menschlicher Arbeit, um daraus Beurteilungs- und Gestaltungsregeln zu gewinnen. Mit dem Wandel des Arbeitslebens verändern sich auch die Rahmenbedingungen der Arbeit selbst dynamisch. Auslöser solcher Prozesse sind Veränderungen von Arbeits- und Lebensstil, der Mensch-Technik-Interaktion, der Arbeitszeit sowie den damit verbundenen Anforderungen an Flexibilität, Mobilität, Entscheidungsfähigkeit und Selbstorganisation. Als Folge dieser Entwicklung lässt sich ein Anstieg der Komplexität arbeitsbezogener Anforderungen feststellen. Eine korrekte Einordnung entsprechender Arbeitsbelastungen bedarf einer ganzheitlichen Betrachtung der Wirkung gegenseitiger Beziehungen. Damit schließen sich eine Vielzahl klassischer Verfahren der Arbeitsanalyse, die die einzelnen Sachverhalte situativ und losgelöst voneinander betrachten, aus.

Da eine Beurteilung komplexer Anforderungssituationen für den einzelnen Arbeitsanalytiker nur bedingt beherrschbar sein kann, setzt sich der Beitrag theoretisch und empirisch mit der Frage auseinander, ob durch den Einsatz von Wearables eine analytische Begleitung und Assistenz menschlicher Arbeit möglich ist. Es wird der Frage nachgegangen, ob mittels Wearables objektive und belastbare Aussagen zur Wirkung dynamischer Bündel unterschiedlicher Belastungen möglich sind, um anerkannte Verfahren der Arbeitssystemanalyse zu ergänzen, zu substituieren bzw. weiterzuentwickeln.

Schlüsselwörter: Wearables – Belastung – Beanspruchung – Arbeitsgestaltung – Arbeitsschutz – Assistenz

Work-related survey and evaluation of vital data as an element of health promotion in the work process

The science of ergonomics studies the conditions and effects of human work in order to obtain rules for assessment and design. As working life changes, the general working conditions also change dynamically. The causes of such processes are changes in working style and lifestyle, human-technology interaction, working time and the associated requirements in terms of flexibility, mobility, decision-making skills and self-organisation. The consequences of this development are a constant increase in the complexity of work-related requirements. The stresses associated with work can no longer be considered in a situational and detached way, as in many classical methods of work analysis, but require a holistic view of the effect of interrelationships in order to be correctly classified.

As an appraisal of complex requirements and situations is difficult for one work analyst to manage alone, the article deals theoretically and empirically with the question of whether the use of wearables makes it possible to provide analytical support and assistance for human work in order to supplement, substitute or further develop recognised methods of work system analysis by providing objective and reliable statements on the effect of dynamic bundles of different loads.

Keywords: wearables – workload – stress – work design – health and safety at work – assistive technologies

T. Merkel

(eingegangen am 04.06.2018, angenommen am 14.09.2018)

Ausgangssituation

Arbeitsinhalte und -aufgaben entwickeln sich beständig, von Markt, Technologie, Gesellschaft und weiteren Faktoren getrieben, dynamisch weiter. Im Rahmen des Projekts „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung“ hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ein komplexes Bild mit mehr als 20 Arbeitsbedingungsfaktoren herausgearbeitet (Rothe et al. 2017). Die Studie beschreibt grundsätzliche Forschungsbedarfe, die sich aus der wachsenden Komplexität von Anforderungen moderner Arbeitsformen ergeben. Für die Gestaltung und Bewertung von Arbeit besteht die Herausforderung in der Ermittlung der Wirkung sich gegenseitig beeinflussender Belastungsfaktoren auf den Menschen. Kombinierte Belastungen können situativ sowohl eine kumulative als auch eine ausgleichende Wirkung entfalten. Weitere Kennzeichen von Arbeit, wie die häufig nicht mehr exakt bestimmbaren Grenzen von Arbeits- und Freizeit, die Dynamik des Wechselspiels von Belastung und Erholung, Anforderungen bezüglich Erreichbarkeit und Verfügbarkeit sowie wachsende Anteile unplanbarer Störungen, Situations- und Anforderungswechsel, stellen nur eine Auswahl der Vielfalt der zu betrachtenden Rahmenbedingungen von Arbeit dar.

Arbeitssituationen lassen sich deshalb mit den derzeit praktizierten methodischen Ansätzen der Arbeitswissenschaft und der Arbeitspsychologie nicht ohne weiteres in der Gesamtheit wirkender Rahmenbedingungen erfassen und bewerten. Genutzte Lösungsansätze können in der Folge häufig nur auf Teilelemente der Arbeits- und Aufgabengestaltung angewandt werden, da eine ganzheitliche Beurteilung des Arbeitsprozesses unter Berücksichtigung der genannten Komplexität nicht möglich ist.

Alternativ werden komplexe Arbeitssituationen und auch sonst nicht exakt messbare Größen mit Hilfe von Beobachtungen, Interviews und Fragebögen beschrieben. Viele dieser Instrumente führen durch systembedingtes Einfließen subjektiver Empfindungen und individueller Wertemaßstäbe zu Bewertungsergebnissen, die situationsabhängig einen großen Interpretationsspielraum bieten. Einerseits kann ein solches Bewertungsergebnis positiv wirken, da es zu Diskussion, Widerspruch und einer intensiven Auseinandersetzung mit der betrachteten Arbeitssituation führen kann.

Andererseits kann die Unterstellung einer fehlenden Treffsicherheit und Objektivität des eingesetzten Arbeitsanalyseverfahrens zu Zweifeln bezüglich der Sinnhaftigkeit des gesamten Prozesses einschließlich der damit angestrebten Maßnahmen und Veränderungen führen. Unterschiedliche Interpretationen einer Arbeitsanalyse können das Arbeitsverhältnis zusätzlich belasten und unter Umständen zu einem Zerwürfnis des Vertrauensverhältnisses der betrieblichen (Sozial-)Partner führen. Neben den systembedingten Fehlermöglichkeiten eines Beobachtungsinterviews entstehen Mängel auch durch die momentane Situation bzw. durch den Zeitpunkt geprägte Erhebungen, die im Anschluss verallgemeinert werden. Die Beurteilung komplexer Arbeitssituationen steht also vor der Herausforderung, die Gesamtsituation ganzheitlich und zumindest kurz- sowie mittelfristige Auswirkungen der Beziehungen in dem betrachteten Arbeitssystem abzubilden.

Zielstellung

In Anbetracht der geschilderten Ausgangssituation wird die Entwicklung des Modells einer sowohl möglichst viele Einflussfaktoren umfassenden als auch langfristig begleitend angelegten Arbeitssystemanalyse angestrebt. Gesucht werden Analysetechniken, die zudem kaum eigene Belastungselemente aufweisen und somit eine Verfälschung der durchgeführten Aufnahmen ausschließen. Es wird die These aufgestellt, dass mit dem Einsatz einer Kombination ausgewählter Sensoren innerhalb tätigkeitsbezogen designter Wearables die genannten Anforderungen zu erfüllen sind.

Tragbare Geräte zur Datenverarbeitung, so genannte Wearables, wie Fitness-Armbänder, Smartwatches oder Datenbrillen, unterstützen bereits heute ihre Nutzer in zahlreichen Lebens- und Arbeitssituationen. Die Anwendungen sind vielfältig und reichen von der individuellen Überwachung der körperlichen Aktivität zum Erhalt bzw. zur Verbesserung der Fitness im privaten Bereich über das Termin- und Kontaktmanagement bis hin zu neuen Formen der Mensch-Technik-Interaktion in der Industrie. Aufgrund der zunehmenden Entwicklung von Wearable-Technologien, u.a. durch moderne Sensorik und längere Akkulaufzeiten, scheinen diese für eine parallele Erfassung und Auswertung einer notwendigen Gesamtheit von arbeitsrelevanten Daten, in Verbindung mit deren zeitnaher Interpretation, als besonders geeignet zu sein, um so neue Möglichkeiten der Arbeitsanalytik und -gestaltung zu bieten.

Mit dieser Fragestellung setzt sich die ESF-Nachwuchsforschergruppe „midasKMU“ an der Westsächsischen Hochschule Zwickau auseinander. Das interdisziplinäre Team, bestehend aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Fachgebiete Arbeitswissenschaft, Textiltechnik, Design, Wirtschaftsinformatik, Elektrotechnik und Medizintechnik, untersucht seit Juli 2017 die Möglichkeit des Einsatzes von Wearable-Technologien für eine begleitende Erfassung der Arbeitsbedingungen sowie die damit verbundenen Beanspruchungsindikatoren einschließlich der im gesamten Arbeitssystem festgestellten Auswirkungen.

Ziel des Vorhabens ist die Entwicklung von Prototypen eines modularen, zweckgebundenen und weitgehend autonom funktionierenden begleitenden Mess-, Analyse- und Assistenzsystems zur Sicherung ergonomischer Standards unter Berücksichtigung einer Vielzahl sich dynamisch ändernder Arbeitsbedingungen und der Sicherung eines präventiven Arbeitsschutzes. Als besonders geeignete Einsatzbereiche erscheinen Tätigkeiten, die durch sporadische Änderungen der Belastungssituation, wie ungeplante Orts- und Aufgabenwechsel, Störungen, Fehlerbewältigung usw., geprägt sind. Weitere Einsatzfelder ergeben sich durch neue Formen der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Technik, die im Zuge der „Digitalen Transformation“ in der Arbeitswelt entstehen. In diesem Zusammenhang verspricht der arbeitsanalytische Einsatz von Wearables für Arbeitsaufgaben, bei denen der Nutzer während der Tätigkeitsausführung mobil agiert und/oder Aufgaben ohne systematisch im Vorfeld planbare Anforderungen ausführt, eine deutliche Verbesserung der Arbeitsanalyse.

Weiterführend kann das Messsystem Leitungspersonal, Arbeitsplaner, Verantwortliche für Arbeitssicherheit und Ergonomie bei der Identifikation von Belastungsschwerpunkten, Gefährdungen und der Beobachtung von Trends zur Wirkung komplexer betrieblicher Anforderungen unterstützen. Die Technik ermöglicht teilautomatisch durchgeführte und ausgewertete Analysen von Arbeitssystemen, die Arbeitsanalyseverfahren nicht ersetzen, aber im Bereich eines Grob-Screenings in der Lage sind, Prioritäten herauszuarbeiten und damit Schwerpunkte für weiterführende Untersuchungen und die Priorisierung von Maßnahmen zu setzen. Zusammenhänge und Struktur zur Entwicklung des Assistenzmodells werden in  Abb. 1 dargestellt.

Um eine solche arbeitsbegleitende Assistenz realisieren zu können, müssen Funktionen unterschiedlicher Sensoren gezielt gekoppelt und die permanent auflaufenden Messdaten unmittelbar miteinander verknüpft, ausgewertet und interpretiert werden. Das Messkonzept bietet zugleich die Möglichkeit, dynamische Arbeitssystem- und Prozessbeschreibungen zu generieren, die durch einen Abgleich mit dem mobil verfügbaren Wissensstand der Arbeitsmedizin, -wissenschaft und -psychologie einen laufenden Arbeitsprozess unterstützen können. Innerhalb der sich dynamisch verändernden Arbeitsbedingungen sollen Wearables ihre Nutzer im Rahmen der Möglichkeiten einer selbstbestimmten Arbeitsgestaltung unterstützen und damit zur Gesunderhaltung im Arbeitsprozess beitragen.

Neben den aus wissenschaftlicher Sicht positiven Möglichkeiten einer begleitenden permanenten Vermessung und Erfassung von Arbeitsrahmendaten dürfen ethische Aspekte der individuellen Selbstbestimmung und einer möglichen Gefährdung von Persönlichkeitsrechten nicht unberücksichtigt bleiben. So lassen sich neben der angestrebten Optimierung von Rahmenbedingungen der Arbeit zur Sicherung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes auch individuelle leistungsbezogene Grenzwerte bestimmen. Damit sind eine vergleichende Beurteilung der individuellen Leistungsfähigkeit und darauf aufbauende Auslese- bzw. Auswahlprozesse denkbar. Solche potenziellen Entwicklungen wurden bereits bei der Konzeption berücksichtigt. In einem Freigabemodell wird eine Weitergabe der erhobenen Daten vor Beginn der Maßnahmen in einem vierstufigen Prozess definiert. Im Mittelpunkt steht, das Recht des einzelnen Nutzers auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen. Für die Forschung stellen die bestehenden Grauzonen im Rechtsraum hierbei eine besondere Herausforderung dar, da der Entwicklungsspielraum zwischen möglichen und selbst definierten, ethisch vertretbaren Gestaltungsoptionen immer wieder neu bestimmt werden muss. Zu den Grundsätzen des Vorhabens gehören deshalb neben der Einholung einer differenzierten Freigabe von Daten auch umfassende Informationen zur geplanten Weiterverarbeitung und die Aspekte der Anonymisierung, durch die eine nachträgliche Rückverfolgung der Daten zur Quelle verhindert wird.

Vorgehensmodell für eine ergänzende bzw. begleitende Arbeitsanalyse mittels Wearables

Mit dem Einsatz von Wearables soll eine begleitende, mobile Arbeitsanalyse, ohne jegliche Einschränkungen im Arbeitsprozess, unter Umständen auch ohne die unmittelbare Anwesenheit des Arbeitsanalytikers, abgesichert werden. Um dies zu ermöglichen, ist eine ununterbrochene Einsatzzeit des zu entwickelnden Assistenzsystems von 11 bis 24 Stunden erforderlich. Den Zeitrahmen einer zu analysierenden Tätigkeit bildet dabei das Arbeitszeitgesetz unter Berücksichtigung von Mindestpausen und gegebenenfalls vereinbarten Rufbereitschaften.

Sowohl der Energiebedarf als auch die durch den Einsatz der Messtechnik auftretenden Belastungen sind nach Möglichkeit gering zu halten. Daher sieht das Konzept vor, ausschließlich nur die Sensoren zu verwenden, die für die Beurteilung der jeweiligen Belastungs-/Beanspruchungssituation von hoher Relevanz sind. Aus dieser Entscheidung leiten sich zwei weitere Anforderungen ab: Die eingesetzten Wearables müssen modular aufgebaut sein und über eine einheitliche Schnittstelle verfügen, die mit einer zentralen Datenverarbeitungseinheit koppelbar sind. Die Auswahl der „Messmodule“ muss an eine Tätigkeitsklassifikation, gegebenenfalls an die Durchführung von Vorstudien für die zu analysierenden Arbeitsformen gebunden werden.

Inhalt solcher Vorstudien ist die Bildung von Settings, die sowohl Sensoren für relevante Trend- und Grenzwertbetrachtung als auch für nicht exakt vorher bestimmbare Situations- und Anforderungswechsel berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sind auch prozessgebundene Einsatzbedingungen der Wearables zu ermitteln, damit die verschiedenen Anforderungen hinsichtlich der Qualität der Arbeit sowie der Funktionalität unter verschiedenen Umgebungsbedingungen erfüllt werden. Eine Beeinflussung der Messung durch Dritte bzw. andere Technik ist auszuschließen.

Wearables sollen ausschließlich für eine zeitlich begrenzte Arbeitsanalyse, z. B. im Rahmen von Gefährdungsanalysen, Trainingsmaßnahmen, Einarbeitungsprozessen, sowie als Schutz für physisch und psychisch besonders belastende Situationen, wie zum Beispiel bei Rettungseinsätzen der Feuerwehr, zum Einsatz kommen. In Rahmen der Entwicklungsstufe des Projekts „midasKMU“ wird ein dauerhafter arbeitsbegleitender Einsatz zum Tracking über 24 Stunden an sieben Tagen je Woche, wie dies bei diversen Fitness-Trackern oder Smartwatches der Fall ist, nicht vorgesehen. Vielmehr soll der Einsatz der Messtechnik durch den Arbeitsanalytiker auf eine festgelegte Zeit zur sicheren Ermittlung dynamisch und situativ auftretender Arbeitsanforderungen und als Assistenz für Trainingsmaßnahmen oder auf den Zeitraum besonderer Einsatzbedingungen begrenzt werden.

Ermöglicht wird dies neben einer aktiven Begleitung der Messungen durch spezielle, vom Nutzer bewusst ausgewählte und zu aktivierende Ausrüstungsgegenstände wie Helme, Brillen, Schuhe oder Armbänder. Für das Tragen der Wearables ist die Bereitschaft und Akzeptanz der betroffenen Personen im Rahmen eines Informationsgesprächs im Vorfeld abzuklären.

Zu den Voraussetzungen für die begleitende Arbeitsanalyse gehört ein transparenter Umgang mit den erhobenen Daten. Über ein genau zu spezifizierendes Stufenmodell zur Prüfung und Freigabe der personenbezogenen Daten kann die informationelle Selbstbestimmtheit gesichert werden. Der Einsatz von Wearables im Unternehmen ist gemäß Betriebsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. September 2001, 2017 § 90 und § 91 mitbestimmungspflichtig.

Entwicklung eines Messmodells für die Arbeitssystemanalyse

Aus dem schematisch in  Abb. 2 dargestellten Modell lassen sich die spezifischen Messaufgaben zu verwendender Wearables sowie weiterer Sensorik für eine systematische Einordnung aller potenziellen internen und externen Variablen in eine der vier Ebenen des um den Menschen bestehenden Elementen eines Arbeitssystems ableiten. Im Ergebnis des Vier-Ebenen-Modells kann ein mobiles Assistenzsystem mit folgender modularer Sensorik ausgestattet sein:

  • Lagesensoren (Körperhaltung, Schrittzähler, Beschleunigung),
  • 3D-Beschleunigungssensoren (Armbewegung, Position im Raum, Bewegungsdauer),
  • Sensoren (z.B. textilintegriert oder selbsthaftend) zur Messung der Gelenkstellung,
  • Sensoren zur Messung der Druck- und Lastenverteilung unter den Fußsohlen,
  • Head-Mounted-Display (umgangssprachlich „Datenbrille“) mit Sensorik für Tiefen-, Sichtfeld- und Augenanalyse (vgl. Eye-Tracking), Messung der Arbeitsumgebung (u.a. Abstandssensoren, Lärm, Licht) sowie
  • Sensoren zur Messung der Vitaldaten (Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität, Hautleitwert, Körperkerntemperatur, Atmung etc.).

Die Zusammenführung der Messwerte der einzelnen Sensoren erfolgt in einem Wearable, das als Rechen- und Speichereinheit alle Daten sammelt und zeitlich synchronisiert. Im Ergebnis von Labor- und Feldversuchen lassen sich so statistisch ermittelte Korrelationen zwischen individueller Reaktion des Menschen und den in Frage kommenden Gestaltungsbereichen auswerten. Im Ergebnis erlauben die sich mit der Zeit verändernden Vitalwerte rekursiv Rückschlüsse bezüglich vorhandener Einflussmöglichkeiten und geeigneter Maßnahmen, die dazu geeignet sind, positiv auf die Arbeitssituation einzuwirken.

Gesucht werden Maßnahmen, die sowohl einzeln als auch als Bündel einer Ebene bzw. mehrere Ebenen übergreifend wirksam werden. Im weiteren Verlauf können diese Erkenntnisse zur Wirkung derartiger Maßnahmen zielgerichtet zur Auswahl und Gestaltung geeigneter Arbeitsbedingungen, Trainingsmethoden, einer verbesserten Arbeitsmethodik, der Optimierung eingesetzter Betriebsmittel sowie zur Beeinflussung der Rahmenbedingungen aus der Arbeitsumgebung angewendet werden. Werden beispielsweise in der Auswertung der Datenströme signifikante Veränderungen deutlich, kann die Datenbrille genutzt werden, um den Anwender automatisch mit weiterführenden Warn- und Beratungshinweisen bei der Arbeit zu unterstützen.

Definition von Einsatzszenarien für Labor- und Feldversuche

Das Konzept der Modularität des immer wieder neu zu definierenden mobilen Assistenzsystems begründet sich aus der Notwendigkeit, jeweils nur die Sensoren zu koppeln, die für eine bestimmte, definierte Arbeitssituation als besonders relevant beurteilt werden. Diese Entscheidung begründet sich durch die Notwendigkeit der Minimierung möglicher, durch das Tragen mehrere Sensoren/Messgeräte bedingter Belastungen, der Begrenzung des Energiespeichers, des Aufwandes der Auswertung von den durchschnittlich im Sekundentakt aufgenommenen Daten und des Datenschutzes. Zunächst sind dazu die Tätigkeiten bzw. Einsatzszenarien zu bestimmen, die sowohl aktuell als auch künftig unter Berücksichtigung unterschiedlicher Grade der Automatisierung (vgl. Produktion) sowie der Digitalisierung denkbar sind. Im weiteren Verlauf sind diese Tätigkeiten hinsichtlich des Merkmals der jeweils maßgeblichen gesundheits- und leistungsbestimmenden Beanspruchungen zu geeigneten Klassen („Typen von Arbeit“) zu gruppieren. Ein Beispiel für das Ergebnis einer solchen Klassifizierung ist in  Tabelle 1 dargestellt. Die hierin enthaltenen fünf unterschiedlichen Typen von Arbeit wurden im Rahmen des Forschungsprojekts in Anlehnung an die Arbeitsformen nach Rohmert (1983) erarbeitet und spiegeln die Grundformen „energetische Arbeit“ bis „informatorische Arbeit“ sowie deren Kombination wider.

  • „Typ 1“ – körperlich statische Tätigkeiten (SKT): Es wird vorwiegend eine statische Arbeit ausgeführt oder eine statische Kraft abgegeben, wie dies bei dauerhaft fixierten Körperhaltungen, Halten oder Tragen großer Lasten vorzufinden ist.
  • „Typ 2“ – dynamisch geprägte Tätigkeiten (DKT): Er beinhaltet vorzugsweise physisch geprägte Arbeiten mit einem hohen Anteil dynamischer Tätigkeitsanteile, bei denen z.B. im Rahmen mechanischer Tätigkeiten mehr als ein 1/7 der Skelett-Muskel-Masse zum Einsatz kommt.
  • „Typ 3“ – motorisch-reaktiv geprägte Tätigkeiten (MRT): Hier werden Bewegungen mit hohem Kontrollaufwand und einer vergleichsweise geringen Abgabe von Kräften betrachtet, respektive Tätigkeiten ausgeführt, bei denen Informationen aufgenommen und gespeichert werden. Beispiele hierfür sind die Tätigkeit als Picker in der Logistik oder auch die kollaborative Zusammenarbeit mit einem Roboter in der Montage.
  • „Typ 4“ – geistig geprägte auch durch digitale Aufgaben geprägte Tätigkeiten (KDT): Tätigkeiten wie Datenerfassung, Qualitätsprüfung und kreative Arbeit, erfordern eine hohe Denk- und Merkfähigkeit.
  • „Typ 5“ – physische und psychische Grenzbelastung (XKT): Dieser Typ stellt eine Sonderform dar, in die Tätigkeiten eingeordnet werden können, die durch eine sehr hohe körperliche Belastung bei gleichzeitiger sehr hoher psychischer Belastung gekennzeichnet sind, wie beispielsweise bei einem Rettungseinsatz der Feuerwehr.

Auf Basis der für diese fünf Arbeitstypen eruierten Beanspruchungen ist im weiteren Verlauf die Bestimmung der für die Beurteilung der Arbeitssituation relevanten Parameter möglich, um für jeden Arbeitstyp eine entsprechende, standardisierte Basiskombination von Sensoren abzuleiten. Das Setting ist im Ermessen des Arbeitsanalytikers bedarfsweise anzupassen.  Tabelle 2 beinhaltet eine Auswahl potenzieller Parameter.

Auf der Grundlage der in Tabelle 2 beispielhaft dargestellten Tätigkeiten wurden Testszenarien erarbeiten, die sich an realen Arbeitssituationen und den damit verbundenen Anforderungsbündeln orientieren. Die bislang verfügbaren Testszenarien werden systematisch weiterentwickelt, so dass diese als Standardversuche einen reproduzierbaren Ablauf für Laborreihen abbilden, bei denen sich Basisanalysen unter wechselnden Rahmenbedingungen, beispielsweise mit Personen unterschiedlicher individueller Leistungsvoraussetzungen, beliebig oft wiederholen lassen. Die Systematik der Standardversuche verfolgt mehrere Ziele:

  • Vergleich von Qualität und Eignung der zur Verfügung stehenden Messsysteme und Sensoren verschiedener Anbieter unter gleichen Bedingungen.
  • Bestimmung der für die Arbeitssystemanalyse notwendigen sowie optional einsetzbaren Sensoren und Auswertetechniken in Abhängigkeit des jeweils zu betrachtenden Arbeitstypus.
  • Ergebnisse der Labormessreihen als Vergleichsdaten für die Auswertung realer Arbeitstätigkeiten und -prozesse.
  • Ergebnisse bezüglich der Nutzerakzeptanz verschiedener Technologien dienen als Basis für die Entwicklung des zu integrierenden Assistenzsystems.
  • Automatische Erkennung von Tätigkeitstypen bzw. Anforderungsbündeln.
  • Bestimmung von Grenzwerten (z.B. Identifikation von Belastungsgrenzwerten, Reaktion verschiedener Personengruppen, Bestimmung notwendiger Handlungsaufforderungen an den Nutzer der Wearables zur präventiven Vermeidung möglicher Schädigungen, Ableitung von Trainingseffekten usw.).
  • Entwicklung einer funktionsfähigen Systematik zur Durchführung der betrieblichen Fallstudien bzw. fortführender Arbeitsanalysen.

In Auswertung verschiedener Studien, wie dem Weißbuch Arbeiten 4.0 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016), sowie verschiedener Experteninterviews werden die bereits begonnenen und weiter zu erwartenden Änderungen im Arbeitsleben für die Laborversuche aufbereitet und kontinuierlich weiterentwickelt. Neuartige Technologien und deren Auswirkungen sind systemisch in den gesamten Entwicklungs- und Validierungsprozess einzubeziehen und hinsichtlich notwendiger Anpassungen der Messstrategien kontinuierlich neu zu prüfen. Abhängigkeiten, die zwischen der Messstrategie zur Arbeitsanalyse und der Auswahl notwendiger und sinnvoller Sensoren/Wearables entstehen, sind vereinfacht in  Abb. 3 dargestellt.

Nach Abschluss erfolgreicher Testreihen im Laborbereich folgt die Anwendung der Wearables in der betrieblichen Praxis. Hier werden drei Formen von Tests unterschieden:

  • Tests mit Herstellern von Arbeitsausrüstungen zu Möglichkeiten der Integration von Sensorik in Standardprodukte,
  • Tests zur Akzeptanz von Wearables, bezogen auf die Bauform, den Tragkomfort und die betrieblichen Anforderungen,
  • Tests zur Bestimmung der Relevanz von Ergebnissen der Laborreihen hinsichtlich Qualität der Messergebnisse und Signifikanz von Messwertänderungen für die empfundene Belastung und Beanspruchung. Identifikation geeigneter Anwendungsbereiche mit nachweisbaren Effekten für den betrieblichen Einsatz.

Mit dem Abschluss eines Teils der vorgesehenen Laborreihen konnten im Verlauf des Jahres 2018 bislang zwei betriebliche Testläufe zur Beurteilung der Wirkung verschiedener Tätigkeiten und sowie der langfristigen Wirkung wechselnder betrieblicher Anforderungssituationen begonnen werden.

Iterative Entwicklung des Assistenzsystems

Da zu Beginn der Entwicklung eines modularen Assistenzsystems nicht alle Anforderungen hinsichtlich Arbeitsanalyse, Nutzerakzeptanz sowie weiterer rechtlicher und technischer Aspekte bekannt sind, erfolgt der Entwicklungsprozess iterativ. Ziel ist es, das Assistenzsystem durch eine anforderungsorientierte Kombination von Sensoren und Maßnahmenbündeln besser auf den realen Prozess und somit auf die nutzer- und unternehmensspezifischen Bedarfe und Anforderungen abzustimmen. Im Rahmen des Forschungsprojekts besteht jede Iteration aus den folgenden fünf Schritten:

  1. Auswahl geeigneter Messtechnik, Sensorik und am Markt verfügbarer Wearables:

Mit dem Boom an Fitness-Armbändern, Smartwatches und sonstigen Gadgets, die als Ergänzung zum Smartphone angeboten werden, etablierte sich die technologische Entwicklung von Wearables mit dem Schwerpunkt der Erfassung von Aktivitäten in Kopplung zu Vitalparametern seines Trägers. Diese Produkte führen im Weiteren zu einer Sensibilisierung für ein gesundheitsbewusstes Verhalten bzw. zur Reflexion möglicher Ursachen für das eigene Verhalten. Innerhalb weniger Jahre weitete sich das Angebot vom einfachen Schrittzähler bis zum Gesundheitscoach für allgemeine Fitness und Stressreduktion aus. Die Systeme lassen sich modular erweitern, bieten aber häufig keinen Zugriff auf die erhobenen Rohdaten, schicken ungefragt Daten an das Internetportal und setzen auf spezifische Schnittstellen und Datenaufbereitung. Eine Anwendung der sehr preiswerten Produkte aus dem Sport- und Fitnessmarkt ist damit nur in ausgewählten Einzelfällen oder auf Grundlage der individuellen Entscheidung des Nutzers (Käufers) sinnvoll.

Parallel entwickelt sich ein Markt wissenschaftlich orientierter Wearables, die offene Schnittstellen und Zugriff zu den Rohdaten einer Messung versprechen. Alternativ können frei verfügbare Sensoren zu einem eigenen Wearable kombiniert werden.

  1. Validierung der ausgewählten Messtechnik:

Die ausgewählte Sensorik/Messtechnik muss zunächst unter Laborbedingungen validiert werden und kann erst nach erfolgreich absolvierten Labortests unter realen Anforderungssituationen zur weiteren Validierung eingesetzt werden. Dabei verfolgt die Prüfung der Eignung von Wearables im Laborversuch mehrere Ziele: Neben der Durchführung rein empirischer Studien auf der Suche nach einer statistisch signifikanten Korrelation und Kausalität von Messwerten mit den empfundenen Beanspruchungen der Testpersonen im Laborversuch sowie der Untersuchung der Validität und Reliabilität der Wearables bei der Messung von Vitaldaten lassen sich die gemessenen Werte mit Daten der Grundlagenwerke von Hettinger (1970), Durnin u. Passmore (1967) oder Grandjean (1991) verifizieren. In Bezug zum Einsatzbereich müssen zudem zulässige Abweichungen bzw. Fehlertoleranzen und damit Schwellenwerte definiert und die theoretische Ermittlung von Grenzwerten festgelegt werden. Diese Daten stellen sowohl die Datenbasis für eine Auswertung der Arbeitsanalyse als auch die Ableitung von Gestaltungs- und Handlungshinweisen dar. Lassen sich eindeutige Trends und Grenzwerte ableiten, so können diese Ergebnisse an ein individuelles Assistenzsystem, ein Trainingsprogramm oder an die betriebliche Einsatz- und Arbeitsplanung weitergegeben werden.

Zusätzlich dazu ermöglichen Pretests erste Trendaussagen und Potenzialanalysen, um folgende grundlegenden Fragen zu beantworten: Welche Werte können tatsächlich gemessen werden? Worauf ist bei der Anwendung, Inbetriebnahme, Auswertung usw. zu achten? Ist die Technik für jede Person handhabbar? Zu welchen Messzwecken ist die Technik (Wearable) grundsätzlich geeignet?

  1. Aufbau einer Datenbasis und Entwicklung spezifischer Wearables:

Mit der Durchführung von Untersuchungen im Labor lassen sich die eingesetzten Sensoren vergleichend bewerten, Korrelationen zwischen verschiedenen Einflussfaktoren und Grenzwerte ermitteln. Diese Daten stellen sowohl die Datenbasis für eine Auswertung der Arbeitsanalyse als auch die Ableitung von Gestaltungs- und Handlungshinweisen dar. Lassen sich eindeutige Trends und Grenzwerte ableiten, so können diese Ergebnisse an ein individuelles Assistenzsystem, ein Trainingsprogramm oder die betriebliche Einsatz- und Arbeitsplanung weitergegeben werden.

Um den Anforderungen der Nutzer gerecht zu werden, unterliegen auch Wearables gestalterischen Anforderungen der Ergonomie, der Usability sowie weiteren akzeptanzbildenden Merkmalen. Eine mögliche Anforderung bei der menschzentrierten Gestaltung von Wearables besteht beispielsweise darin, zu gewährleisten, dass der Nutzer die Sensoren eigenständig messtechnisch korrekt positioniert. Design soll und kann auf diesem Weg helfen, möglichst genaue Messergebnisse zu liefern. Von besonderer Bedeutung ist dabei das korrekte Tragen von Wearables bei einer Nutzung über den gesamten Arbeitstag.

Die Zusammenführung der Datenströme von Sensoren aus verschiedenen Wearables stellt eine Herausforderung für die Systemintegration dar, da nur die Synchronität der erhobenen Daten die exakte und vollständige Beschreibung der gemessenen Reaktionsmuster gewährleistet und mögliche Fehlinterpretationen vermeidet.

  1. Prüfen der Integration von Wearables in valide Arbeitsanalyseverfahren und Entwicklung ergänzender Dienstleistungen

Für den erfolgreichen Einsatz von Wearables in der Arbeitsanalyse bedarf es einer umfassenden Prüfung, in welchen konkreten Einsatzfeldern Wearables klassische Arbeitsanalyseinstrumente und -tools ergänzen bzw. erweitern können. Denkbar ist dabei der Austausch einzelner Items durch Bewertungsskalen, die auf der Grundlage der ermittelten Messdaten entstehen. Die für die Prüfung durchzuführenden Untersuchungen und Versuchsreihen müssen so lange erfolgen, bis deren Messergebnisse sowie deren systemgenerierte Interpretationen als sicher und valide eingeordnet werden können – auch unter Berücksichtigung neuer Anforderungen.

Neben einer für das Individuum zu optimierenden Arbeitssituation lassen sich auf Grundlage einer anonymisierten Datenbasis zahlreiche weiterführende Dienstleistungen entwickeln. Denkbar wären Leitsysteme für Einsatzkräfte in besonders belastender Umgebung, Systeme zur Personaleinsatzplanung, die Anpassung von Technik und Arbeitsabläufen oder die Entwicklung von Trainingsprogrammen. Insbesondere Langzeitanalysen größerer Gruppen könnten zudem neue Erkenntnisse bei der Interpretation von Arbeits- und Organisationsgestaltung bzw. -bewertung liefern.

  1. Prüfung

Eine abschließende Prüfung ist nur durch umfassende Feldversuche in realen Arbeitsprozessen möglich. Hier bedarf es der vergleichenden Analyse bislang üblicher Methoden, mit den neuen Ansätzen einer auf dem Einsatz von Wearables basierenden Messung sowie der Beurteilung der Analyseergebnisse durch die Wahrnehmung der Betroffenen. Ergänzend sind die Bedingungen für Gewährleistung der Messsicherheit zu definieren. Abschließend muss eine Prüfung der eingesetzten Messtechnik, Messmethodik und Analytik vor Ort in dem jeweiligen Unternehmen erfolgen, um Ansatzpunkte für eine Optimierung des Gesamtkonzeptes zu erhalten. Bei der Betrachtung muss zwischen situativen und trendorientierten Analysen unterscheiden werden, da das gewählte zeitliche Betrachtungsmodell Anforderungen an den exakten zeitlichen Bezug, die Art der Informationsweitergabe, die Genauigkeit und den zeitlichen Abstand bzw. die Rhythmik der aufzunehmenden Messpunkte stellt.

Zur Erprobung neuer Messtechnologien (Wearables) ist die wiederholte Durchführung der beschriebenen Arbeitsschritte mit iterativer Vorgehensweise notwendig. Nach einer erfolgreichen Einführungsphase werden sowohl die weiteren Veränderungen der Arbeitswelt als auch die sich ständig weiter entwickelnden technischen Möglichkeiten verfügbarer Sensoren und Trackingsysteme eine laufende Weiterentwicklung der Systeme erfordern. Daher sollte bereits im Rahmen des Entwicklungsprojekts ein Lebenszyklus und Validierungsprozess für die spezifischen Wearables definiert werden.

Ergebnisse erster Labortests zur Potenzialanalyse von Wearables

Der erste Schritt des zuvor beschriebenen iterativen Entwicklungsprozesses beinhaltet die „Auswahl geeigneter Messtechnik, Sensorik und am Markt verfügbarer Wearables“. Hierfür wurden im Rahmen des Forschungsprojekts zunächst Pretests unter Laborbedingungen durchgeführt, um sowohl die Marktreife, die funktionale Eignung als auch Einsatzpotenziale handelsüblicher Wearables zu testen. Für diese Pretests wurde das in  Tabelle 3 dargestellte, standardisierte Versuchsprotokoll, in Anlehnung an (Schnieder et al. 2015) unter kontrollierten Laborbedingungen mit 9 Probanden (3 weiblich, 6 männlich) durchgeführt. Während des Versuchs wurden bis zu drei Wearables gleichzeitig getragen und mit einem kontinuierlichen EKG-Monitoring begleitet. Ebenso wurden die kontinuierliche Messung der Sauerstoffsättigung sowie des Hautleitwertes und eine Messung der Körpertemperatur sowohl bei Wechsel der Einzelaufgaben als auch in fünfminütigen Abständen während der Durchführung des Versuchs an sich durchgeführt.

Zum Einsatz kamen drei Wearables. Zwei Geräte waren in Form eines Armbandes mit Sensoren zur optoelektronischen Messung des Pulses ausgestattet. Ergänzend stand ein Shirt mit integrierten Elektroden zur Ableitung der Herzfrequenz an der Brustwand zur Verfügung. Das Shirt funktioniert wie bekannte Pulsgurte, bietet aber den Vorteil einer höheren Akzeptanz weiblicher Teilnehmer und vermeidet ein fehlerhaftes Anlegen der Elektroden. Laut Herstellerangaben können mit allen drei Geräten die Herzfrequenz und die Herzratenvariabilität ermittelt werden. Der durch die verschiedenen Messtechniken entstehende zeitliche Versatz bei einer belastungsbedingten Änderung der Herzfrequenz war bereits durch Voruntersuchungen bekannt und konnte durch die Versuchsreihen bestätigt werden. Der zeitliche Versatz betrug etwa 30 Sekunden. In Bezug auf eine Beurteilung arbeitsbedingter Belastungen eignen sich Wearables, die die Herzfrequenz über optoelektronische Sensoren am Handgelenk ermitteln, nicht oder nur bedingt für eine zeitlich kritische Beurteilung von Belastungssituationen. Aufgrund der hohen Verbreitung dieser Messgeräte sollte im Laborversuch ermittelt werden, ob die Messergebnisse der optoelektronischen Sensoren für schicht-, wochen- oder andere längerfristige Trendauswertungen einer arbeitsbegleitenden Analyse geeignet sind. Hintergrund der Überlegung war, eine möglichst große Nutzerzahl durch Entwicklung einer Applikation für eine arbeitsbezogene Belastungs-Beanspruchungs-Beurteilung zu gewinnen und in Auswertung des damit entstehenden Datenpools verallgemeinerbare Schlussfolgerungen für das zu entwickelnde Assistenzsystem zu ziehen. Die Nutzer der Applikation wiederum sollten von den sich durch den wachsenden Datenpool iterativ verbessernden Reflektionen, Hinweisen usw. einen Mehrwert erhalten.

Zu diesem Zweck wurde eine an gewerblicher Arbeit orientierte Versuchsreihe mit wechselnden Tätigkeiten bzw. Anforderungen definiert ( Tabelle 3, Abb. 4).

In Auswertung der Studie (s. Abb. 4) mussten große Unterschiede bei der Messqualität festgestellt werden. Während die Apple-Wach in Version 3 mit dem bereits diskutierten zeitlichen Versatz im Vergleich zur Referenzmessung verwertbare Ergebnisse lieferte, konnte der Garmin VivoSmart HR+ die qualitativen Anforderungen einer Trendaufnahme nicht erfüllen. Zusammenfassend sind optoelektronische Sensoren zur Ableitung der Herzfrequenz über den Puls am Handgelenk für eine wissenschaftliche Analyse eher ungeeignet, zumal nicht eingewiesene Testpersonen die Messgeräte teilweise lose am Handgelenk trugen, was zu weiteren Messfehlern führte.

Während der Anamnese sowie zu Beginn jeder Aktivität erfolgte die Erhebung der aktuell subjektiv erlebten psychischen Beanspruchung. Während der Laborversuche kam der Kurzfragebogen von Müller u. Basler (1993) zur aktuellen Beanspruchung (KAB) zum Einsatz, der aufgrund der kurzen Ausfülldauer von etwa 30 Sekunden und der kurzen Auswertedauer von etwa einer Minute insbesondere für die Verlaufsdiagnostik innerhalb kurzer Re-Testintervalle sehr gut geeignet ist. Für betriebliche Fallstudien erfolgt die Ermittlung von Ursachen einer möglichen Destabilisierung der Handlungsregulation. Dies dient dem Ziel, Möglichkeiten einer gezielten Tätigkeitsstrukturierung unter Nutzung des möglichen Verbesserungspotenzials im Bereich des Handlungs- und Entscheidungsspielraums abzuleiten. Nach entsprechender Beratung mit Experten wurden dazu die Erhebungsbögen FIT 2.0 – Fragebogen zum Erleben von Arbeitsintensität und Tätigkeitsspielraum nach Richter et al. (2000) – und MRK – Monopolare Ratingskalen zur Diagnostik negativer Kurzzeitbeanspruchungsfolgen von Richter et al. (2002) ausgewählt. Die ermittelten Ratings für Ermüdung, Sättigung, Monotonie und Wohlbefinden deuteten sowohl bei den kurzfristigen (MRK) als auch langfristigen Wahrnehmungen (Fit 2.0) auf eine niedrige und damit unkritische Beanspruchung. Die Untersuchung möglicher vitaler Indikatoren für psychische Belastungssituationen muss deshalb in ein weiterzuentwickelndes künftiges Untersuchungsdesign verschoben werden.

Die Analyse und Auswertung der Pretests führten zu folgenden ersten Erkenntnissen:

  • Wearables erfordern eine individuelle Kalibrierung (Lernphase ggf. durch KI-Algorithmen, Typisierung von Personengruppen etc.).
  • Eine Reihe von Wearables ist für eine Beurteilung arbeitsbedingter Belastungen/Beanspruchungen völlig ungeeignet.
  • Eine Beurteilung der Tätigkeit durch Personen mit entsprechender Fachkompetenz ist nach wie vor erforderlich (fehlende Reliabilität der „Aussagen“ der Wearables/Tracker – ob als Einzelmesswert oder Trend).
  • Die Vorteile von Wearables liegen in der Dauerbeobachtung und der Berücksichtigung von Einflussfaktoren außerhalb des beobachteten Arbeitsumfeldes.
  • Messungen zur Arbeits(system)analyse werden aktuell mit der im Handel frei verfügbaren Wearable-/Tracker-Technik nicht frei von Artefakten und Fehlern sein, so dass stets eine Prüfung und ggf. Korrektur notwendig ist.
  • Signifikante Aussagen lassen sich nur durch die Auswertung mehrere Parameter ermitteln, deren Zusammenhang im Vorfeld nachgewiesen wurde.
  • Die Verfügbarkeit der Daten ist eine zwingende Voraussetzung zur weiteren Verarbeitung.
  • Das Messdesign muss sich auf das Tätigkeitsfeld beziehen: körperlich geprägte Tätigkeiten, motorisch-reaktive geprägte Arbeit, geistig geprägte Arbeit, physische und psychische Grenzbelastungssituationen.
  • Ein Konzept zur Datensicherheit ist erforderlich.

Im Verlauf der Pretests wurde das Design der Laborversuche weiterentwickelt. Nach dem Aussortieren zahlreicher Wearables lassen sich mit den zwei verbliebenen Geräten die im Vorfeld definierten Tätigkeitsformen reproduzierbar identifizieren. In der Folge konnte mit der Analyse von Tätigkeiten im betrieblichen Umfeld begonnen werden. Derzeit werden Tätigkeiten mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen wochenweise durch eine Testperson im regulären Schichtbetrieb ausgeführt. Aus Sicht des an der Studie teilnehmenden Unternehmens erhofft man sich eine bessere und aufwandsreduzierte Identifikation ergonomischer Gestaltungsbedarfe in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Eine Pilotanwendung von Wearables zur Arbeitsanalyse mit verschiedenen festangestellten Mitarbeitern erfolgte im Juli 2018 und wird derzeit ausgewertet.

Ausblick

Wahrscheinlich werden Wearables kurzfristig nicht in der Lage sein, klassische Verfahren der Arbeits- und Tätigkeitsanalyse abzulösen. Erste Einsatzmöglichkeiten ergeben sich aber in der Ergänzung bestehender Bewertungsmodelle, die in der Integration zeitlich diskreter und in einem signifikant nachgewiesenen Zusammenhang zur Tätigkeit stehenden Belastungsbewertung bzw. Beanspruchungsbeurteilung bestehen. Sicher lassen sich Belastungsspitzen und die trendhafte Entwicklung von Beanspruchungsindikatoren erkennen. Langfristig eröffnet sich die Chance einer Weiterentwicklung von Verfahren der Arbeitsanalyse. Die Vorteile von Wearables bestehen in einer exakten, teilautomatischen Datenerfassung über größere Zeiträume und der zeitlichen Synchronisierung mehrerer Datenströme. Perspektivisch ergibt sich die Möglichkeit zur Entwicklung weiterführender Auswertungen und der damit verbundenen Möglichkeit, in Teilbereichen des Arbeitsprozesses eine unmittelbare individuelle Unterstützung im Arbeitsprozess zu ermöglichen.

Die Entwicklung modularer, auf eine spezifische Arbeitssituation zugeschnittener Wearables steht erst am Anfang. Die Herausforderungen liegen im Filtern relevanter Daten und deren Verknüpfung für eine erfolgreiche Beurteilung der Belastungs-Beanspruchungs-Situation. Erfüllen die in Entwicklung befindlichen Mess- und Assistenzsysteme die Erwartungen hinsichtlich Aussagegenauigkeit und belastungsarmer Mobilität, ergeben sich neue Möglichkeiten einer ganzheitlichen Arbeitsanalyse. Haupteinsatzbereich von Wearables werden Tätigkeiten sein, die von einer herkömmlichen Planung entkoppelt sind. Damit könnten im Zuge der digitalen Transformation der Arbeitswelt nachhaltig bessere Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Für die im Mittelpunkt der Digitalisierung und Automatisierung stehenden Beschäftigten ergibt sich mit Unterstützung modularer, digitaler Assistenzsysteme die Chance, die eigene Arbeitswelt auch langfristig wieder selbstbestimmt mitzugestalten.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Betriebsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. September 2001 (BGBl. I S. 2518), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2509) geändert worden ist.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Weißbuch – Arbeiten 4.0. BMAS, 2016.

Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V., Verein Deutscher Ingenieure, & Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V.: Industrie 4.0 – Whitepaper FuE-Themen. 7. April 2015.

Durnin JVGA, Passmore R: Energy, work and leisure. London: Heinemann Educational Books, 1967.

Grandjean É: Physiologische Arbeitsgestaltung. Leitfaden der Ergonomie, 4. überarb. Aufl. Thun: ÖTT- Verlag, 1991.

Harari YN: Homo Deus. Eine kurze Geschichte von Morgen. München: C.H. Beck, 2017.

Hettinger T: Angewandte Ergonomie. Arbeitsphysiologische und arbeitsmedizinische Probleme in der Betriebspraxis. Frechen: Bartmann, 1970.

ISO 6385:2016. Grundsätze der Ergonomie für die Gestaltung von Arbeitssystemen; Deutsche Fassung EN ISO 6385:2016. Berlin: Beuth, 2016.

Jo E, Dolezal BA: Validation of the Fitbit® SurgeTM and Charge HRTM Fitness Trackers. 2016 (Abgerufen von www.lieffcabraser.com/pdf/Fitbit_Validation_Study.pdf ).

Müller B, Basler HD: Kurzfragebogen zur aktuellen Beanspruchung (KAB). Göttingen: Hogrefe, 1993.

Richter P, Hemmann E, Merboth H, Fritz S, Hänsgen C, Rudolf M: Das Erleben von Arbeitsintensität und Tätigkeitsspielraum – Entwicklung und Validierung eines Fragebogens zur orientierenden Analyse (FIT). Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 2000; 44: 129–139.

Richter P, Debitz U, Schulze F: Diagnostik von Arbeitsanforderungen und kumulativen Beanspruchungsfolgen am Beispiel eines Call-Centers. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2002; 56: 67–76.

Rohmert W: Formen menschlicher Arbeit. In: Rohmert W, Rutenfranz J (Hrsg.): Praktische Arbeitsphysiologie (3. Aufl.). Stuttgart, New York: Georg Thieme, 1983.

Rothe I, Adolph L, Beermann B, Schütte M, Windel A, Grewer A, Lenhardt U, Formazin M: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. Wissenschaftliche Standortbestimmung. Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), 2017.

Schnieder S, Hidalgo G, Roelen S-D, Wiggerich A, Krajewski J: Validität und Usability von Wearables zur Erfassung körperlicher Aktivität in der Selbstevaluation gesundheitsbezogenen Verhaltens. In: Wienrich C, Zander T, Gramann K (Hrsg.): Trends in Neuroergonomics: Tagungsband 11. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin, 2015, S. 128–134.

Shcherbina A, Mattsson CM, Waggott D, Salisbury H, Christle JW, Hastie T, Ashley EA: Accuracy in wrist-worn sensor-based measurements of heart rate and energy expenditure in a diverse cohort. J Personalized Med 2017; 7: pii: E3.

Verfasser

Prof. Dr.-Ing. Torsten Merkel

Institut für Produktionstechnik

Professur für Arbeitswissenschaft

Westsächsische Hochschule Zwickau

Dr.-Friedrichs-Ring 2A

08056 Zwickau

torsten.merkel@fh-zwickau.de

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 665–674

Fußnoten

Institut für Produktionstechnik (Direktor: Prof. Dr.-Ing. Torsten Merkel), Westsächsische Hochschule Zwickau