„Und wann kümmern wir uns um den Fahrer?“ – Erstbetreuung als Teil der Versorgung bei drohender psychischer Traumatisierung im Fahrdienst
Hintergrund und Ziel: Jedes Jahr kommt es zu tödlichen und schweren Schadensereignissen im Schienen-, Transport- und öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Aus arbeitsmedizinischer Sicht ist die adäquate Versorgung potenziell psychisch traumatisierter Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter notwendig. Ein weit verbreitetes Versorgungskonzept sind Erstbetreuungssysteme als laienbasierte Akutversorgung nach Arbeitsunfällen im Fahrdienst (VBG). Ziel der vorliegenden Arbeit war es, diese Systeme wissenschaftlich zu evaluieren.
Methodik: Hierzu wurden zwei historische Kohortenstudien hinsichtlich Einflussfaktoren auf Ausfall- und Erkrankungsverläufe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Fahrdienst zweier Deutscher Verkehrsbetriebe in Bayern und Hessen durchgeführt. Während die erste Studie Einflussfaktoren für psychische Traumafolgeerkrankungen nach Erstbetreuung ermittelte, erfolgte im Rahmen der zweiten Kohortenstudie die Prüfung der assoziierten Wirksamkeit unterschiedlicher Formen von Erstbetreuung (kollegial, hierarchisch oder fehlend). Der Untersuchungszeitraum bezog sich auf Arbeitsunfälle der Jahre 2003–2013.
Ergebnisse: Die Pilotstudie umfasste 59 Erstbetreuungseinsätze. Innerhalb der Hauptstudie waren 259 Erkrankungsverläufe von Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeitern auswertbar. Als stärkster Prädiktor stellten sich Schadensereignisse mit schwer verletzten oder getöteten Unfallbeteiligten für das Fahrpersonal dar. Unterschiede bezüglich der Betreuungssysteme fanden sich hinsichtlich Ausfallzeiten bei leichten Schadensereignissen. In der Kontrollgruppe wurden ein nichtsignifikanter Trend zur Verringerung von Ausfallzeiten und ein signifikant geringerer Wert in der Ausbildung posttraumatischer Beanspruchung deutlich.
Schlussfolgerungen: Für die Form der Akutbetreuung können peerbasierte Systeme mit Blick auf Ausfallzeiten als empfehlenswert bei leichteren Schadensereignissen eingestuft werden. Eine Umsetzung zur englischen Leitlinie (NICE) im Sinne „Beobachtenden Abwartens“ ohne zukünftige Erstbetreuung ist dagegen für Deutschland nicht ableitbar. Die Verletzungsschwere als größter Einfluss auf posttraumatische Beanspruchung nach traumatischen Schadensereignissen im Fahrdienst erfordert verbindliche Vorgaben für derartige Schadensereignisse und eine begleitende arbeitsmedizinische Forschung.
Schlüsselwörter: Trauma – Transport – Peer – Arbeitsunfähigkeit oder Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) – Unfall – Verkehr
“And when do we attend to the driver?” First response as part of the provision for drivers at risk of psychological trauma
Background and objective: Events causing fatalities and serious damage occur in the railway, transportation and regional public transport (ÖPNV) sector every year. From the perspective of occupational medicine, it is essential to provide adequate care for drivers who are potentially at risk of psychological trauma. A widespread concept of provision is first-response systems in the form of layman-based acute care after accidents at work involving drivers (VBG [German accident insurance provider]). The objective of this paper was a scientific evaluation of these systems.
Methodology: Two retrospective cohort studies were conducted with regard to factors influencing length of absence and illness progression among drivers working for two German transport companies in Bavaria and Hesse. Whilst the first study investigated factors influencing post-traumatic stress following first response care, the second cohort study examined the efficacy associated with different forms of first response (collegial, hierarchical or none). The study covered accidents at work between 2003 and 2013.
Results: The pilot study covered 59 first response deployments. It was possible to analyse the progression of 259 cases of illness among drivers within the scope of the main study. Accidents in which the casualties were seriously or fatally injured constituted the strongest predictor for drivers. Differences relating to response systems were found in terms of the length of absences when slight damage occurred. There was clear evidence in the control group of an insignificant trend towards a reduction in periods of absence and a significantly low score for the development of post-traumatic stress.
Conclusions: When it comes to the form of acute care provision, peer-based systems with an eye to periods of absence may be classed as worth recommending in the case of events causing less serious damage. On the other hand, it is not possible to infer a switchover to the English guideline (NICE) in the sense of “watchful waiting” without first response for Germany in future. The severity of injury is the biggest factor in post-traumatic stress after traumatic events in driving jobs and necessitates binding regulations for damaging events of this kind and accompanying research in the field of occupational medical care.
Keywords: trauma – transport – incapacity for work or PTSD – accident – traffic
Einleitung
Im Schienen-, Transport- und öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gibt es jährlich eine erhebliche Anzahl tödlicher und schwerer Schadensereignisse. Allein in Deutschland kam es im Jahr 2015 zu 806 Suiziden im Gleisbereich. Darüber hinaus gab es 101 versuchte Suizide und 306 signifikante Unfälle (nach Richtlinie 2004/49/EG sind dies Unfälle mit Beteiligung von mindestens einem bewegten Schienenfahrzeug, bei dem mindestens eine Person getötet oder schwer verletzt wird, erheblicher Sachschaden oder beträchtliche Betriebsstörungen entstehen; Eisenbahn-Bundesamt 2016, RL2004/49/EG).
Während der Ausübung ihres Berufs sind Zugführer dem Risiko ausgesetzt, an diesen schweren Unfällen und Suiziden beteiligt zu werden.
Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) berichtet, dass der Suizid anderer Personen im Gleisbereich den häufigsten Arbeitsunfall für das Fahrpersonal und insbesondere die Triebfahrzeugführer darstellt. Messbare Folgen dieser Unfälle schlugen sich im Jahr 2011 z. B. durch mehr als 15 600 Fehltage nieder (EVG 2014).
Auch zeigte eine Auswertung zur internationalen Studienlage, dass es bei 69–81 % der Fahrer nach potenziell traumatisierenden Ereignissen zu beruflichen Ausfällen kommt, die durchschnittlich 3 bis 19 Tage andauern. Weiterhin konnten erhebliche Spannweiten in der Prävalenz Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS, englisch PTSD) nach schweren Schienenunfällen von 0,7–17 % nachgewiesen werden (Clarner et al. 2015a).
In diesem Zusammenhang wurden Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nicht immer als Geschädigte und Opfer wahrgenommen (Mishera 2007).
Nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) § 1 Abs. 1 sind „Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern“ (ArbSchG § 1, beck-online 2016). Die Arbeitsschutzmaßnahmen sollen eine menschengerechte Arbeitsgestaltung unter Berücksichtigung der psychischen Einwirkungen auf den Beschäftigten gewährleisten (Kollmer et al. 2016, ArbSchG § 1 Rn. 35–36, beck-online 2016), und nach § 4 Nr. 6 ArbSchG sind spezielle Gefahren für besonders schutzbedürftige Beschäftigtengruppen zu berücksichtigen (ArbSchG § 4, beck-online 2016). Demzufolge richtet sich der Arbeitsschutz für Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter auch auf die Frage der adäquaten Versorgung nach schweren Schadensereignissen wie Unfällen, Suiziden oder Angriffen.
Für Arbeitgeberinnen und -geber empfiehlt die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) nach Extremereignissen im Fahrdienst für den Bereich der Akutversorgung so genannte Erstbetreuungssysteme als Handlungsmaßnahme im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung (DGUV2015b). Hinsichtlich der Frage nach der Risikogefährdung für Personal im Fahrdienst wurde in den 90er Jahren ein Phasenmodell seitens der Unfallversicherungsträger in Deutschland eingeführt (DGUV). Wesentlicher Bestandteil dieses Phasenmodells ist neben der betrieblichen Prävention und professionellen Folgebetreuung durch Betriebsärztinnen und -ärzte die „Erstbetreuung“ als Form der Akutversorgung am Unfallort (VBG 2015; Clarner 2014). Diese laienbasierte Form des „zeitnahe[n] „Sich-Kümmern“ und „Nicht-Alleine-Lassen“ (VBG 2015, S. 9) schließt umfangreiche Aufgabenstellungen mit ein ( Abb. 1).
Beginnend bei der schnellstmöglichen Kontaktaufnahme mit dem oder der Betroffenen erstreckt sie sich über situative Hilfe und Schutz, emotionalen Beistand sowie umfassende organisatorische Unterstützung und Begleitung des weiteren Vorgehens (VBG 2015, S. 10).
Zum Umfang psychischer Traumatisierung liegen keine einheitlichen Richtlinien vor, wie die konträre Empfehlung des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) zum „Beobachtenden Abwarten“, englisch „watchful waiting“ verdeutlicht. Diese impliziert eine kontrollierte Versorgungsleistung ohne Erstbetreuung nach deutschem Modell und wirft die Fragestellung nach der adäquaten Versorgung des Fahrpersonals auf (NICE 2005).
Ziel
Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit war es, Erstbetreuungssysteme wissenschaftlich zu evaluieren und eine arbeitsmedizinische Einschätzung zur Versorgung für potenziell psychisch traumatisierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Arbeitsunfällen im straßen- und schienengebundenen Fahrdienst abzuleiten.
Kollektiv und Methode
Für beide Studien wurden als Untersuchungsdesign historische Kohortenstudien gewählt, wobei „historisch“ die Auswertung bereits zurückliegender Fälle bedeutet (Weiß 2005).
Aus epidemiologischer Sicht handelt es sich bei einer Kohorte um eine Gruppe von Personen, die bestimmte Erfahrungen oder Merkmale teilen und über einen längeren Zeitraum hinsichtlich des Auftretens bestimmter Ereignisse (normalerweise Krankheiten) beobachtet werden. Kohortenstudien bestehen häufig aus verschiedenen Kohorten, die sich bezüglich eines Merkmals unterscheiden, das im Verdacht steht, eine Krankheit auszulösen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine Kohorte zu untersuchen, die unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt ist oder war und anschließend hinsichtlich unterschiedlicher Expositionen Untergruppen zu bilden (Högel 2014).
Für die erste Kohortenstudie wurde nach der zweiten Variante einer heterogenen Ausgangsgruppe zunächst die Inzidenz posttraumatischer Beanspruchung nach Schadensereignissen und kollegialer Erstbetreuung in einem bayerischen Verkehrsunternehmen, namentlich der VAG Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg, der Jahre 2004–2009 ausgewertet. Eine genauere Beschreibung findet sich in Clarner et al. (2015b).
Im Anschluss wurde eine zweite Kohortenstudie mit drei Interventionsarmen durchgeführt. Diese folgte der klassischen Vorgehensweise einer Kohortenbildung nach unterschiedlicher Exposition im Vorfeld. Hierbei wurden Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nach Schadensereignissen mit anschließender kollegialer (VAG-1), hierarchischer (VGF) oder fehlender Erstbetreuung (VAG-0) und arbeitsmedizinischer Betreuung der Jahre 2003 bis 2013 untersucht. Bei den Untersuchungsgruppen VAG-1 und VAG-0 handelte sich um Kohorten eines Unternehmens. Als zweites deutsches Verkehrsunternehmen wurde zur Prüfung der assoziierten Wirksamkeit von Ausfallzeiten und psychischen Traumafolgestörungen die VGF Stadtwerke Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main mbH vergleichend hinzugezogen. Verwiesen sei auf Clarner et al. (online first 2016).
In beiden Kohortenstudien wurde jeweils ein standardisiertes Messinstrument entwickelt. Alle verwendeten Daten stammen aus den betriebs- und arbeitsmedizinischen Verlaufsdaten (Clarner et al. 2015b, im Druck 2016). Im Falle der zweiten Kohortenstudie enthielt das Messinstrument ein eigenes Dateneingabetool. Dieses ermöglichte Anwenderinnen und Anwendern die Dateneingabe per grafischer Front-End-Bereitstellung. Zur Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen wurden personenbezogene und Fachinformationen getrennt und eine primäre sowie mehrere sekundäre Datenbanken generiert. Durch die grafische Benutzeroberfläche wurde sowohl die Eingabe von Daten als auch die Aktualisierung von persönlichen Aufzeichnungen erleichtert. Auch war eine Navigation nach Datum und Alphabet möglich. Die Grunddaten der Unternehmen wurden aus einer Excel-Tabelle (XLS) in die primäre Datenbank importiert, die automatisch ein Pseudonym erzeugte. Innerhalb eines Unternehmens konnten die einzelnen Abteilungen auf ihre jeweiligen sekundären Datenbanken getrennt voneinander zuzugreifen. Die personenbezogenen Daten wurden von einem Treuhänder überwacht und die Daten im Anschluss über ein sicheres File Transfer Protocol (FTP) weitergeleitet.
Die Datenrestrukturierung und Vereinheitlichung mit Structured Query Language (SQL) und Microsoft Visual Basic für Applikationen (VBA) ermöglichte eine nahtlose Integration von Datenkorrekturen während des gesamten Projektlebenszyklus. Integrität und Konsistenz der Daten wurden durch unterschiedliche Validierungsskripts erreicht, Rohdaten und nutzergenerierte Daten getrennt und unter Verwendung von Korrekturtabellen zur Analyse von Anfragen ausgeführt. Unter Verwendung eines automatischen Algorithmus-basierten Gruppierungsverfahrens wurden die vorliegenden medizinischen Befunde kombiniert, um einen umfassenden medizinischen Datensatz für jede Person zu konstruieren. Die psychosomatische Fall- und Befundbeurteilung erfolgte durch die Koautorin A.M.
Beide Studien wurden unter Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen durchgeführt und ein positives Ethikvotum der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingeholt. Die statistischen Analysen erfolgen mittels SPSS 12 und R (Version 3.1.3, www.r-project.org ). Als Testverfahren wurden bivariat der Kendall-tau-b-Koeffizient und für die multivariaten Auswertungen negative binomiale Regressionen hinsichtlich der Zielgröße Ausfallzeiten und logistische Regressionen für Traumafolgestörungen verwendet (zur Vertiefung sei verwiesen auf Clarner et al. 2015b, online first 2016).
Die zur Untersuchung verwendeten Zielgrößen bezogen sich in beiden Kohortenstudien auf
- Ausfallzeiten gemessen anhand der dokumentierten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sowie
- psychische Traumafolgestörungen, fachärztlich klassifiziert nach der 10. Version der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10).
Die ICD-10-basierten Diagnosen wurden in der ersten Kohortenstudie in
- kurzfristige und
- langfristige Erkrankungen mit einer Dauer von unter bzw. über vier Wochen
klassifiziert. Alle langfristigen Erkrankungen wiesen das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS, engl. PTSD) auf (Clarner et al. 2015b). Für die zweite Kohortenstudie wurde ein verfeinertes Prüfschema zur Validierung bzw. Plausibilität der Diagnostik entwickelt.
Ausgehend von den Forschungsleitlinien zur Klassifikation psychischer Erkrankungen nach ICD-10 (Dilling et al. 2011) wurden die diagnostizierten Traumafolgeerkrankungen (Akute Belastungsreaktion F43.0, Posttraumatische Belastungsstörung F43.1, Anpassungsstörung F43.2 und F43.8 Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung) mittels eines eigens entwickelten Algorithmus gewichtet ( Tabelle 1). Auf Grundlage dieses Algorithmus wurde zunächst ein Maximalwert aus den vorliegenden Befunden ermittelt und die jeweilige Diagnose mit dem zugeordneten errechneten Punktwert verglichen. Im Falle einer Überstimmung wurde die Diagnose mit der höchsten Punktwertung in die weitere Studienauswertung einbezogen. Bei abweichenden Ergebnissen erfolgte eine explizite Einzelfallprüfung durch die Koautorin A.M unter Berücksichtigung aller vorliegenden Befunde.
Ergebnisse
Grundlegend waren in der ersten Kohorte 59 und in der zweiten Studienkohorte 259 Verläufe von Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeitern entsprechend der jeweiligen Betreuungsform auswertbar. Verwiesen sei auf Abb. 2.
Die Kohorten unterschieden sich demografisch nicht hinsichtlich Alter und Geschlecht. Jedoch fiel für die erste Studie ein jüngeres Dienstalter der Fahrerinnen und Fahrer im Vergleich zur zweiten auf. Bezogen auf die Art der Schadensereignisse waren die Verteilungen zwischen und innerhalb der Kohorten unterschiedlich. In der ersten Studie bestand die Hälfte aller Vorfälle aus Unfällen im Sinne von Zusammenstößen mit Personen, in der zweiten Studie bezogen sich etwa ein Drittel auf Unfälle und ein weiteres auf Zusammenstöße mit Fahrzeugen. In beiden Studien waren suizidale Ereignisse eingeschlossen, jedoch fielen diese innerhalb der ersten Studie höher aus. Bezogen auf die Verletzungsschwere Dritter konnten in beiden Studien Verletzungsgrade von keinen bis tödlich ausgewertet werden. Hierbei unterschieden sich die Gruppen der zweiten Studie sehr stark voneinander, die kontrollierend in die Berechnungen einbezogen wurden. Eine Beschreibung zur wesentlichen Charakteristik der Kohorten ist in Tabelle 2 zu finden.
Prädiktor Unfallschwere
Übereinstimmend zwischen den Studienkohorten stellten sich Schadensereignisse mit schwer verletzten oder getöteten dritten Unfallbeteiligten als stärkster Prädiktor für das Fahrpersonal heraus. Dies betraf sowohl das Risiko für Ausfallzeiten als auch posttraumatische Belastungsfolgen. Hierbei wirkten sich bei Ausfallzeiten Ereignisse mit Schwerverletzten gravierender als tödliche Ereignisse auf das Fahrdienstpersonal aus (Clarner et al. 2015b, im Druck 2016). Für akute Traumafolgen ergab sich ein ähnliches Bild, wohingegen bei anhaltenden Traumafolgen Getötete das Erkrankungsrisiko der Fahrerinnen und Fahrer signifikant beeinflussten ( Tabelle 3, Abb. 3).
Einfluss Erstbetreuungssysteme
Hinsichtlich der Betreuungssysteme VAG-1 und VGF konnten Unterschiede bei Schadensereignissen ohne oder mit leichten Verletzungen ermittelt werden. Dabei wurde auch ein nichtsignifikanter Trend zu geringeren Ausfallzeiten der Gruppe VAG-0 ermittelt (s. Tabelle 3, näheres Clarner et al., online first 2016). Das Risiko für psychische Traumafolgeerkrankungen nach ICD-10 F43.xx unterschied sich zwischen den Gruppen VAG-1 und VAG-0 nach Art und Schwere der Erkrankung. So war das Risiko zur Ausbildung akuter Belastungsreaktionen (F43.0) innerhalb der VAG-0 Gruppe signifikant im Vergleich zur VAG-1 niedriger, ebenso wie bei der Gesamtgruppe aller Traumafolgeerkrankungen (s. Tabelle 3, Abb. 3).
Schlussfolgerungen
Erstbetreuungssysteme dienen als Maßnahme der Akutversorgung nach traumatischen Schadensereignissen im Schienen-, Transport- und öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Ihr Einsatz wird seitens der Unfallversicherungsträger wie der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und der zuständigen Berufsgenossenschaft VBG im Rahmen des Gesundheitsschutzes empfohlen. Dabei blieb bislang ungeklärt, ob diese Systeme sich wissenschaftlich als adäquate Versorgungsleistung bestätigen lassen. Gegenstand dieser Arbeit war es, dieser Frage nachzugehen.
Die in der Untersuchung verwendeten Kohortenstudien ermöglichten den umfassenden Einbezug aller Fälle im Zeitraum 2003–2013 und waren aufgrund der hohen ethischen Anforderungen an die Forschungsfrage besonders geeignet. Als natürliche Vergleichsgruppe für die Hauptstudie diente die Kontrollgruppe VAG-0, die aus dem gleichen Unternehmen wie VAG-1 stammte, womit eine Selektion zwischen den Gruppen nicht gänzlich auszuschließen war. Zur Kontrolle des Selektionsbias wurde die angegebene Anzahl der Ablehnungen einer Erstbetreuung mit einem Anteil unter 10 % ermittelt. Im Vergleich zu randomisierten Studien konnten keine kausalen Aussagen zur Wirksamkeit getroffen werden. Die Aussagen beziehen sich auf den assoziierten Zusammenhang, d.h. den Einfluss der Erstbetreuungssysteme auf Ausfallzeiten und psychische Belastungsfolgen. Diese Fragen wurden in der bisherigen Literatur nach Meinung der Autorinnen und Autoren nicht beantwortet.
Hinsichtlich der Betreuungssysteme lassen sich peerbasierte Systeme in Bezug auf Ausfallzeiten als empfehlenswert im Vergleich zu hierarchischer bei leichteren Schadensereignissen einstufen. Dabei war der Trend bezüglich der verminderten Ausfallzeiten als auch die signifikante Reduktion des Risikos zur Entwicklung von akuten Belastungsreaktionen zwischen VAG-1 und VAG-0 (Kontrollgruppe) auffallend. Unter kritischer Würdigung des Studiendesigns scheint sich die Versorgung ohne Erstbetreuung im Fall von unmittelbaren Belastungsfolgen bei gesicherter arbeitsmedizinischer Folgebetreuung nicht negativ auszuwirken. Dies könnte als möglicher Beleg zur Umsetzung der Empfehlung des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) gesehen werden, die anstelle einer Akutversorgung „Beobachtendes Abwarten“, Englisch „watchful waiting“ vorsieht (NICE 2005). Bei derartiger Überlegung ist zudem die hohe subjektive Zufriedenheit betroffener Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nach potenziell traumatischen Ereignissen zu berücksichtigen (Wrenger et al. 2015). Vor diesem Hintergrund stellen Erstbetreuungsmaßnahmen eine besondere emotionale Form der Versorgung zwischen Beschäftigten und Arbeitsgeberinnen und -gebern dar (Wiemann u. Middendorf 2008). Zusammengefasst ist aufgrund der Anforderungen an den gesetzlichen Gesundheitsschutz in Deutschland, den bisherigen Leitlinien und den unzureichenden Forschungsdaten eine zukünftige Versorgung ohne Erstbetreuung in Deutschland unwahrscheinlich.
Anders sind die Ergebnisse zur Verletzungsschwere zu bewerten. Im Vergleich mit internationalen Untersuchungen zeigt sich der Schweregrad als größter Einflussfaktor hinsichtlich posttraumatischer Belastungsfolgen nach traumatischen Schadensereignissen (Clarner et al. 2015b). Hierbei sind verbindliche Vorgaben für derartige Schadensereignisse notwendig, um das Risiko von Erkrankungsfolgen zu reduzieren und dem Erhalt der Gesundheit für Beschäftigte im Fahrdienst nach dem Arbeitsschutzgesetz zu entsprechen. Gelingen kann dies als gemeinsame Strategie zwischen Unfallversicherungsträgern, Unternehmen sowie der innerbetrieblichen Arbeitsschutz- und arbeitsmedizinischen Verantwortlichen. Zur Klärung und Spezifizierung des ermittelten Einflusses von Erstbetreuungssystemen ist weitere Forschung dringend notwendig.
Danksagung: Besonderer Dank gilt der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) für die Förderung des Projekts DGUV-FP 335 aus dem die Publikation entstand. Die Erstautorin dankt der Hanns-Seidel-Stiftung für ihr Begabtenstipendium aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Teile dieser Arbeit wurden auf dem International Railway Safety Council (2016) präsentiert und als Abstract für die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin (DGAUM) im Jahr 2017 eingereicht.
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Für die Verfasser
Annika Clarner M.A.
Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Schillerstraße 25/29 – 91054 Erlangen
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2017; 52: 132–137
Fußnoten
1 Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg (Direktor: Prof. Dr. med. Hans Drexler)
2 Institut für Medizininformatik, Biometrie und Epidemiologie der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg (Direktor: Prof. Dr. rer. nat. Olaf Gefeller)
3 Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Bergische Universität Wuppertal (Leiterin: Prof. Dr. rer. nat. Alexandra Martin)