Können Expositions-Risiko-Beziehungen nach TRGS 910 für die Beurteilung von Berufskrankheiten eine Rolle spielen?
Für Kanzerogene ohne bekannte toxikologische Wirkschwelle entwickelte der deutsche Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) ein risikobezogenes Maßnahmenkonzept, das auf der Ableitung so genannter „Expositions-Risiko-Beziehungen“ (ERB) beruht. Diese dienen als Instrumente der Prävention dazu, gesundheitliche Gefahren zu minimieren und damit die Entstehung von Berufskrankheiten zu verhindern. Eine unmittelbare Übertragung von ERB in das BK-Verfahren ist ausgeschlossen. Allerdings können für einzelne Kanzerogene in den ERB-Begründungspapieren enthaltene Informationen nach kritischer Prüfung zur Abschätzung eines Orientierungsmaßes oder für Kausalitätsbeurteilungen im Einzelfall herangezogen werden. Dies erfordert epidemiologische Daten möglichst hoher Qualität und ein dem aktuellen und akzeptierten Stand der Wissenschaft entsprechendes Begründungspapier.
Schlüsselwörter: Beurteilung von Krebserkrankungen als Berufskrankheit – Expositions-Krebsrisiko-Beziehungen – TRGS 910
Can exposure-risk relationships as defined by TRGS 910 play a role in the appraisal of occupational diseases?
The German Committee on Hazardous Substances (AGS) has developed a risk-related control scheme for carcinogens with no known toxicological effect threshold that is based on the derivation of what are known as „exposure-risk relationships“ (ERR). These are used as instruments of prevention to minimise health risks and thus to prevent the development of occupational diseases. It is not possible to transfer an ERR directly into the procedure for the recognition of occupational diseases. However, information supplied by the ERR justification documents can – after a critical review – be used for individual carcinogens to estimate a guidance value or to assess causality in individual cases. This requires epidemiological data of the highest possible quality and an ERR justification paper based on the current and accepted state of science.
Keywords: assessment of tumours as work-related diseases – exposure-cancer risk relationships – TRGS 910 (German Technical Rule for Hazardous Substances)
Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51: 286–291
Allgemeiner rechtlicher Rahmen
Nach dem deutschen Zivilrecht müsste grundsätzlich der Arbeitgeber für gesundheitliche Schäden haften, die seine Beschäftigten durch ihre Tätigkeit erleiden. Diese Haftung übernimmt in Deutschland die gesetzliche Unfallversicherung als Teil der Sozialversicherung – im Gegenzug für die Beitragszahlung des Arbeitgebers.
Die gesetzliche Unfallversicherung leistet grundsätzlich immer dann, wenn ein Gesundheitsschaden dem Arbeitgeber haftungsrechtlich zuzurechnen wäre. Voraussetzung für diese Haftung ist, dass eine Einwirkung bei der Arbeit – z. B. durch einen Gefahrstoff – den Gesundheitsschaden verursacht hat (sog. Kausalzusammenhang). Die Herausforderung besteht darin, zwischen solchen Faktoren zu unterscheiden, die dem Arbeitgeber zuzurechnen sind, und jenen, die anderen Lebensbereichen zugeordnet werden müssen.
Der Gesetzgeber hat sich vor diesem Hintergrund für das so genannte Listenprinzip entschieden. Als Berufskrankheit (BK) gelten nach dem Sozialgesetzbuch VII (SGB VII 2015) nur die Krankheiten, die in der BK-Liste im Anhang zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV 2014) benannt sind. Für sie ist die gesetzliche Unfallversicherung zuständig. Diese Krankheiten müssen nach gesicherten medizinischen Erkenntnissen durch besondere Einwirkungen verursacht sein, denen bestimmte Personengruppen aufgrund ihrer versicherten Tätigkeit in erheblich höherem Grad ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung (§ 9 Absatz 1 Satz 2 SGB VII). Grundsätzliche Voraussetzung für jede Berufskrankheit ist die auf medizinisch-wissenschaftlicher Grundlage gewonnene Erkenntnis über die Eignung eines Arbeits-/Gefahrstoffs oder einer Einwirkung, eine bestimmte Erkrankung zu verursachen, der sog. generelle Ursachenzusammenhang von Einwirkung und Erkrankung, auch „generelle Geeignetheit“ genannt.
Gerade bei „offen“ formulierten BK-Tatbeständen stellt sich immer die Frage, wann Erkrankungen durch die berufliche Tätigkeit verursacht sind und als Berufskrankheit anerkannt werden können.
Im Einzelfall ist dabei nach einer gründlichen retrospektiven Expositionsermittlung zu prüfen, ob die Einwirkungen bei der versicherten Tätigkeit die vorliegende Krankheit verursacht haben (sog. haftungsbegründende Kausalität). Dieser Ursachenzusammenhang muss hinreichend wahrscheinlich sein. Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zu bejahen, muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden und deutlich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG 2006).
Verursachung von Krebserkrankungen
Der Nachweis von Ursächlichkeit kann bei Berufskrankheiten durch lange Latenz- bzw. Interimszeiten zwischen Exposition und Ausbruch klinisch manifester Symptome erschwert sein, insbesondere bei Krebserkrankungen. Zwar können einige Arbeitsstoffe sehr spezifische Tumoren induzieren. Erwähnt seien hier das Pleuramesotheliom als Folge einer Inhalation von Asbestfasern (BMAS 1994) oder das durch Vinylchlorid hervorgerufene Hämangiosarkom (BMAS 2013). Für Neoplasien an den Atemwegen, insbesondere der Lunge, werden dagegen eine Vielzahl einatembarer Arbeitsstoffe, insbesondere kanzerogene Stäube, aber auch außerberufliche Einflüsse verantwortlich gemacht.
Sofern Erkrankungen sowohl durch außerberufliche Ursachen (wie z. B. das Tabakrauchen) als auch durch arbeitsbedingte Einwirkungen entstehen können, ist ein berufsgruppenspezifisch erhöhtes Erkrankungsrisiko nachzuweisen (Mehrtens u. Brandenburg 2015). Der Begriff der Wahrscheinlichkeit im epidemiologisch-statistischen Sinn ist dabei von dem juristischen Begriff der Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden (s. auch Spellbrink 2013). Wissenschaftlich begründete statistische Wahrscheinlichkeitssätze haben, wie das Bundessozialgericht ausdrücklich betont hat, „nichts mit dem juristischen Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit zu tun“ (BSG 2012).
Für einige BK-Nummern hat der Verordnungsgeber ein Dosismaß als Abgrenzungskriterium in die Legaldefinition aufgenommen. Dieses Maß orientiert sich in der Regel an der sog. Verdopplungsdosis. Darunter versteht man die Dosis der betreffenden Noxe, die im exponierten Beschäftigtenkollektiv doppelt so viele Erkrankungsfälle im Vergleich mit einer nicht am Arbeitsplatz exponierten Kontrollpopulation induziert. Bei Anwendung dieses Maßstabs liegt die statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Erkrankung durch arbeitsbedingte Einwirkungen verursacht ist, bei mindestens 50 %. Diese Konvention, naturwissenschaftliche Verursachung anzunehmen, wenn die Verdopplungsdosis erreicht oder überschritten wird, soll hier nicht vertieft werden. In jedem Fall ist das schadstoffbezogene Erkrankungsrisiko ein rechtlich relevanter Faktor, um die Frage nach der Verursachung beantworten zu können. Informationsquellen, die über dieses Risiko Auskunft geben, sind daher für Berufskrankheiten-Verfahren interessant.
Nicht im Zusammenhang mit der Beurteilung von BK, sondern explizit zum Zweck der Prävention wurden in den vergangenen Jahren Risikoquantifizierungen im Rahmen der Ableitung von sog. „Expositions-Risiko-Beziehungen“ (ERB) vorgenommen, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen werden soll. Dazu heißt es in der Technischen Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 910 (BAuA 2014):
„Entsprechend können […] Konzentrationswerte (Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen) sowie die ihnen zugrunde liegenden ERB auch nicht Grundlage des Berufskrankheitenrechts sein und haben damit auch keine unmittelbare Bedeutung in entsprechenden Berufskrankheiten-Verfahren. Die den abgeleiteten ERB zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und die auf der Homepage der BAuA veröffentlichten Begründungen (Begründungen zu Expositions-Risiko-Beziehungen) können aber bei der Prüfung im Hinblick auf eine Einzelfallentscheidung eines Berufskrankheiten-Verfahrens herangezogen werden. Sie sind dann im Rahmen des geltenden Berufskrankheitenrechts hinsichtlich des Einzelfalls gesondert zu würdigen.“
Die Ableitung von Expositions-Risiko-Beziehungen nach TRGS 910 zum Zweck der Prävention
Ende 2004 wurde in Deutschland das Konzept der sich am Stand der Technik orientierenden „Technischen Richtkonzentrationen“ (TRK-Werte) für krebserzeugende Stoffe aufgegeben. Nach den Vorgaben der Gefahrstoffverordnung sind seither nur „gesundheitsbasierte“ Arbeitsplatzgrenzwerte zulässig. Für Kanzerogene ohne bekannte toxikologische Wirkschwelle entwickelte der Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) ein risikobezogenes Maßnahmenkonzept, das auf der statistischen Abschätzung von Risiken beruht und in der Technischen Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 910 beschrieben ist.
„Expositions-Risiko-Beziehungen“ (ERB) nach TRGS 910 dienen dazu, Lebensarbeitszeitkonzentrationen abzuleiten, die zusätzlichen arbeitsbedingten „tolerablen“ bzw. „akzeptablen“ Krebserkrankungsrisiken von 4:1000 bzw. 4:10.000 (später 4:100.000) entsprechen. Sie gelten im Rahmen des deutschen Risikokonzepts für Kanzerogene. Im Ergebnis erhält man stoffspezifische Grenzkonzentrationen, die auch als „Toleranz-“ und „Akzeptanzkonzentration“ bezeichnet werden.
Diese Risikogrenzen sind eine Übereinkunft; ihre Festlegung erfolgte unter Einbeziehung der Sozialpartner, Aufsichtspersonen der Länder und gesetzlichen Unfallversicherungen sowie weiteren Fachleuten. Dabei orientierte man sich an Zahlen zu bekannten Hintergrundrisiken in Mitteleuropa, z. B. durch Unfälle oder Umweltbelastungen, und besonders an den Erfahrungen in den Niederlanden, wo bereits ein ähnliches Modell entwickelt worden war.
Der sehr umfangreiche und detailliert ausgearbeitete „Leitfaden zur Quantifizierung stoffspezifischer Exposition-Risiko-Beziehungen und von Risikokonzentrationen bei Exposition gegenüber krebserzeugenden Gefahrstoffen am Arbeitsplatz“ findet sich in Anlage 3 der TRGS 910. Sein erklärtes Ziel ist es
„[…] die Voraussetzungen [zu] schaffen, um Expositions-Risiko-Beziehungen für krebserzeugende Stoffe nach harmonisierten Regeln zu beschreiben, und dabei die Option ein[zu]schließen, Bezugswerte bei definiertem Risiko oder Arbeitsplatzgrenzwerte für diese Stoffe zu begründen. Dazu werden Kriterien aufgestellt, um die Eignung vorliegender Daten zu einem Stoff zu bewerten, und Vorgehensweisen empfohlen, aus diesen Daten bestmögliche Expositions-Risiko-Beziehungen zu ermitteln.“
Nach einem einheitlichen und transparenten Verfahren sollen damit für einzelne krebserzeugende Arbeitsstoffe Krebserkrankungsrisiken abgeschätzt werden, die sich auf idealisierte Szenarien (gleichbleibende, lebensarbeitszeitlange Expositionskonzentration an allen Arbeitstagen über die gesamte Schicht) beziehen und aus den verfügbaren epidemiologischen oder tierexperimentellen Literaturdaten gewonnen sind. Lässt es das vorhandene Wissen über den toxikologischen Wirkmechanismus zu, sind Arbeitsplatzgrenzwerte abzuleiten, bei deren Unterschreitung keine Gefahr für die Gesundheit zu erwarten ist. Um Erkenntnislücken zu überbrücken, bedient sich das Verfahren wissenschaftlich-methodischer Konventionen. Falls für einzelne Rechenschritte stoffspezifische Informationen fehlen, muss auf Standardannahmen („Default-Werte“) zurückgegriffen werden.
Entscheidend für eine hinreichend zuverlässige Risikoquantifizierung ist die Auswahl einer oder mehrerer Schlüsselstudien. Im Risikoleitfaden finden sich Hinweise zur erforderlichen Mindestqualität. Sofern es geeignete Humandaten gibt, sind diese heranzuziehen. Muss auf tierexperimentelle Ergebnisse zurückgegriffen werden, ist die Relevanz der aufgetretenen Tumorart(en) für den menschlichen Organismus zu bewerten, bevor ggf. Extrapolationsfaktoren, die dem Leitfaden entnommen werden können, eingesetzt werden, um auf die Verhältnisse beim arbeitenden Menschen umzurechnen.
Als Startpunkt für alle weiteren Stufen der Risikoabschätzung dient der „Point of Departure“ (PoD), der auf oder nahe der Expositionshöhe liegt, zu der aus epidemiologischen oder tierexperimentellen Beobachtungen adäquate Daten über Krebshäufigkeiten vorliegen. Der PoD ist ein normalisiertes Wertepaar, das das Risiko als Krebsinzidenz in Prozent der zugehörigen Stoffkonzentration in der Luft gegenübergestellt. Unter „Normalisierung“ ist in diesem Zusammenhang die Übertragung auf den arbeitenden Menschen zu verstehen, wozu eine Umrechnung auf Lebensarbeitszeit gehört, ggf. auch die Berücksichtigung des unterschiedlichen Aufnahmewegs (z. B. Fütterungsstudie mit Versuchstieren vs. inhalative Exposition am Arbeitsplatz).
Für diejenigen Expositions-Risiko-Beziehungen, die vom AGS verabschiedet wurden, werden ausführliche Begründungspapiere, die den Ableitungsweg und die verbleibenden Unsicherheiten beschreiben, auf der Internetseite der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA o.J.) eingestellt.
Risikobetrachtung in der Prävention
Eine Krebserkrankung kann nach Einwirkung einer chemischen Noxe als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn u.a. anhand der aktuellen wissenschaftlichen Literatur die Erkenntnisse zur Kanzerogenität der Noxe, ggf. differenziert nach dem jeweiligen Zielorgan, in aussagekräftigen epidemiologischen Studien belegt sind. Im Arbeitsschutz werden dagegen nachgewiesene Humankanzerogene solchen Substanzen gleichgestellt, deren krebserzeugende Wirkung „lediglich“ an zwei Tierarten beobachtet wurde, sofern es keine wissenschaftlichen Daten gibt, die im betrachteten Einzelfall einer Übertragbarkeit vom Versuchstier auf den Menschen widersprechen. Folgerichtig dürfen Expositions-Risiko-Beziehungen nach TRGS 910 auch aus tierexperimentellen Daten abgeschätzt werden.
Expositions-Risiko-Beziehungen sind Instrumente der Prävention. Sie dienen dazu, gesundheitliche Gefahren zu minimieren und damit die Entstehung von Berufskrankheiten zu verhindern. Berufskrankheiten können entstehen, wenn Prävention versagt, weil elementare oder spezifische Arbeitsschutzregelungen missachtet werden bzw. mögliche gesundheitliche Effekte bestimmter Einwirkungen am Arbeitsplatz wissenschaftlich unvollständig oder unzureichend erforscht sind. Um trotz aller Unsicherheiten den Schutz vor arbeitsbedingten Erkrankungen zu gewährleisten, gilt das Vorsorgeprinzip.
Bei der Risikoabschätzung im Rahmen der ERB-Ableitung geht man von epidemiologischen oder tierexperimentellen Daten aus und rechnet mit physiologisch oder empirisch begründeten Extrapolationsfaktoren auf einen experimentell nicht ermittelten Erwartungswert hoch (z. B. Absenkung der Effektkonzentration bei Verlängerung der Versuchsdauer). Der Risikoleitfaden empfiehlt ferner, bei allen Rechenschritten den zentralen Schätzwert zugrunde zu legen (z. B. Mittelwert) und nicht etwa den 95 %-Vertrauensbereich. Bei der Risikoquantifizierung aus Tierversuchen werden allfällig beschriebene Tumoren in verschiedenen Organen nicht addiert, sondern getrennt quantifiziert und vergleichend betrachtet. Solche Regeln sollen verhindern, dass die Risikoberechnungen zu extrem konservativen Resultaten, also unrealistisch hohen Risikozahlen, führen. Tendenziell zu einer Risikoüberschätzung führen die Berechnungen nach Leitfaden jedoch immer dann, wenn man zwar einen „sublinearen“ (konvexen) Verlauf der Dosis-Wirkungs-Kurve im Niedrigdosisbereich annehmen muss, dieser aber aufgrund fehlender Daten nicht modelliert werden kann und deswegen eine lineare Extrapolation von experimentell zugänglichen hohen Konzentrationen zu den „Toleranz-“ und „Akzeptanzwerten“ mittels einfacher Dreisatzrechnung vorgenommen wird.
Für die ERB-Ableitung geht man aus pragmatischen Gründen von einem standardisierten Expositionsmodell (arbeitstägliche gleichmäßige Luftkonzentration über die gesamte Schicht und das ganze Arbeitsleben) aus. In der beruflichen Praxis, die im Berufskrankheiten-Verfahren individuell re-konstruiert werden muss, treten solche theo-retischen Expositionsverhältnisse jedoch in dieser Form niemals auf. Die zugrunde liegende Hypothese des Äquitoxizitätsprinzips von Zeit und Konzentration unterstellt ohne dies spezifisch zu belegen, dass eine lang dauernde geringe Exposition gleiche quantitative und qualitative Effekte hervorruft wie eine kurze und hohe Exposition.
Es gibt somit deutliche Unterschiede in der Risikobetrachtung für präventive Zwecke einerseits und bei der Beurteilung von Berufskrebserkrankungen andererseits. Eine Übersicht über wesentliche Unterschiede gibt Tabelle 1.
Relative und absolute Risiken
Die TRGS 910 legt für krebserzeugende Arbeitsstoffe, auf die nicht vollständig verzichtet werden kann, Grenzkonzentrationen fest, obwohl ein Restrisiko nicht auszuschließen ist. Die absoluten Risiken sind aber so gering, dass sie in Deutschland als gesellschaftlich akzeptiert gelten können. Für die Anerkennung von Berufskrankheiten sind dagegen nicht absolute Risiken relevant, sondern die Beurteilung orientiert sich an der relativen Erhöhung des Erkrankungsrisikos durch die Schadstoffexposition. Dürfen absolute Risiken, die zur Prävention herangezogen werden, in relative umgerechnet werden, um die berufliche Verursachung von Erkrankungen für den Einzelfall beurteilen zu können? Dazu sind einige grundsätzliche Überlegungen über Zusammenhänge und Unterschiede erforderlich.
Epidemiologische Studien schätzen in der Regel „relative Risiken“ von exponierten Gruppen im Vergleich zu Nichtexponierten oder zur Allgemeinbevölkerung. Das relative Risiko gibt das „Chancenverhältnis“ eines Exponierten im Vergleich zu einem Nichtexponierten an, beispielsweise an Lungenkrebs nach Asbestexposition zu erkranken. Es charakterisiert die statistische Verursachungswahrscheinlichkeit, im vorliegenden Kontext durch berufliche Faktoren. Das relative Risiko muss adjustiert („korrigiert“) werden für andere Risikofaktoren, die auch in der Gruppe der Nichtexponierten vorkommen.
In der Gesundheitsversorgung einer Gesellschaft spielen dagegen Erkrankungsinzidenzen und -prävalenzen eine besondere Rolle, die als „absolute Risiken“, z. B. als Anzahl der Erkrankten pro 100.000 Personen, angegeben werden. So legt das deutsche Risikokonzept fest, dass maximal vier Krebsfälle zusätzlich zur „Basisrate“ pro 1000 exponierten Personen als „Exzessrisiko“ durch eine 40-jährige berufliche Exposition tolerabel sind. Die anhand einer ERB abgeleitete Toleranzkonzentration einer Substanz, die zu einem Exzessrisiko von 4 pro 1000 Exponierten führt, kann statistisch in ein relatives Risiko umgerechnet werden. Damit dieses relative Risiko sinnvoll zu interpretieren ist, muss aber berücksichtigt werden, dass bei der Ableitung einer Toleranzkonzentration, neben den empirischen Grundlagen aus Epidemiologie und Tierversuchen, aus Vorsorgegründen möglicherweise auch Abschätzungen und Interpolationen zur „sicheren Seite“ für die Beschäftigten gemacht wurden. Seidler (2014) hat die Vereinbarkeit absoluter und relativer Risikokonzepte bereits ausführlich diskutiert; er hat auch dargelegt, dass präventive Grenzwerte, die auf der Grundlage des absoluten Risikos ermittelt wurden, teilweise nicht kompatibel sind mit den aus relativen Risiken berechneten und für die Anerkennung von Berufskrankheiten bedeutsamen Grenzwerten.
Weiterhin ist zu berücksichtigen dass die Toleranz- und Akzeptanzkonzentrationen üblicherweise im Niedrigdosisbereich liegen. Für den Niedrigdosisbereich fehlen aber in der Regel belastbare Risikoschätzungen aus epidemiologischen Studien, so dass in diesen Fällen das Risiko statistisch extrapoliert wird (vgl. OSHA 2006; Pesch et al. 2013).
Ausgangspunkt für die Anerkennung als Berufskrankheit (und damit die Haftung des Sondersystems Unfallversicherung) ist die berufliche Verursachung. Als Maßstab dafür hat der Gesetzgeber das erheblich höhere Risiko in Relation zur „übrigen Bevölkerung“ festgelegt. Maßgeblich sind also hier nicht absolute, sondern relative Risiken. Diese können auch bei absolut niedrigen Risiken relativ hoch sein, z. B. bei seltenen Tumoren wie für Asbest bei der Entstehung von Mesotheliomen (BK-Nr. 4105) oder für Holzstaub bei Adenokarzinomen der Nasenhöhlen (BK-Nr. 4203; Pesch et al. 2008, 2010).
Die ERB-Begründungspapiere
In den ERB-Begründungsdokumenten des Ausschusses für Gefahrstoffe (AGS) werden die zum Zeitpunkt der Erstellung verfügbaren wissenschaftlichen Daten zu Tumorrisiken dargestellt und im Hinblick auf eine Risikoquantifizierung gemäß der für die Prävention von krebserzeugenden Gefahrstoffen festgelegten Kriterien der TRGS 910 bewertet (BAuA o.J.). Die Qualitätskontrolle und die Bewertung unter den präventiven Maßgaben dieser Technischen Regel erfolgt durch ein Fachgremium (Unterausschuss III „Gefahrstoffbewertung“ des AGS), in dem Sozialpartner und gesetzliche Unfallversicherung vertreten sind. Die Frage ist, inwieweit die in diesen Dokumenten zusammengestellten Quellen wissenschaftlicher Daten für die Beurteilungspraxis genutzt werden können oder konkreter: Welche Informationen bieten ERB-Begründungspapiere, die für Berufskrankheiten-Verfahren relevant sein könnten?
Die meisten ERB-Berechnungen beruhen auf tierexperimentellen Daten. Risikoabschätzungen zur Begründung von Kausalität zwischen beruflicher Exposition und Krebserkrankung sollten auf Humandaten beruhen. Tierversuche sind zwar ein bewährtes und anerkanntes Präventionsinstrument und werden deshalb zur ERB-Berechnung nutzbar gemacht, eignen sich aber nicht zur Quantifizierung eines Orientierungsmaßes für die Beurteilung der Verursachung beim Menschen. Für Kanzerogene, deren Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen in der TRGS 910 aus Mangel an geeigneten Humandaten aus Tierversuchen abgeleitet wurden, lässt sich somit auch kein fundierter Orientierungswert für die BK-Beurteilung angeben.
Die Beurteilung von Berufskrankheiten erfordert qualitativ hochwertige und quantitativ verwertbare Humanstudien. Wenn solche Studien vorhanden sind, müssen sie nach den Vorgaben des Risikoleitfadens auch für die Aufstellung der Expositions-Risiko-Beziehung des betreffenden Stoffs herangezogen und im ERB-Begründungspapier detailliert dargestellt werden. Entspricht ein solches Begründungsdokument dem aktuellen und akzeptierten Stand der Wissenschaft und erfüllen die epidemiologischen Studien die Anforderungen, die für die Prüfung des Vorliegens einer Berufskrankheit gelten, kann stoffspezifisch im Einzelfall anhand dieser Schlüsselstudien eine quantitative Risikoabschätzung erfolgen und als Ausgangspunkt für die Ableitung eines Orientierungsmaßes oder für Kausalitätsbeurteilungen in BK-Verfahren genutzt werden.
In manchen Fällen liegen zwar Humandaten vor, diese haben aber nicht die notwendige Qualität und Aussagekraft für eine ERB-Ableitung. Entsprechend ist dann im Einzelfall zu prüfen, inwiefern die vorhandenen Studien dennoch bei quantitativen Bewertungen im Rahmen von BK-Verfahren Hilfestellung leisten können.
Brüning et al. (2015) zeigten am Beispiel der Chrom(VI)-Verbindungen, für die vom AGS allerdings keine Akzeptanz- und Toleranzkonzentration, sondern lediglich ein Beurteilungsmaßstab abgeleitet wurde, dass die auf der BAuA-Internetseite publizierten Begründungspapiere des AGS einen guten Überblick über vorhandene Datenquellen geben können. In diesem speziellen Fall konnten die Autoren anhand der im Begründungsdokument des AGS aufgeführten Schlüsselstudien begrenzter Qualität einen Vorschlag für ein Orientierungsmaß für BK-Anerkennungsverfahren ausarbeiten.
Fazit
Quantitative Dosis-Wirkungs-Beziehungen sind für die Beurteilung von Berufskrankheiten dann besonders wertvoll, wenn der inkriminierte Arbeitsstoff beim Menschen Tumorspezies mit einer hohen Spontanrate in der Allgemeinbevölkerung, wie Lungenkrebs oder Leukämie, auslösen kann. In solchen Fällen ist eine Abgrenzung gegenüber einer außerberuflichen Ursache äußerst schwierig. Trotzdem muss stets individuell beurteilt werden, ob die diagnostizierte Erkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folge der konkreten schädigenden arbeitsbedingten Einwirkungen ist.
Für viele krebserzeugende Arbeitsstoffe, die in der BK-Liste aufgeführt sind, fehlen verlässliche Angaben zu einem risikobezogenen Beurteilungsmaßstab. Deshalb stellt sich die Frage, ob nach der TRGS 910 aufgestellte Expositions-Risiko-Beziehungen (ERB) oder die daraus abgeleiteten Toleranz- und Akzeptanzkonzentrationen auch zur Beurteilung von Berufskrankheiten genutzt werden können.
Für die Beurteilung, ob eine diagnostizierte Erkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folge der konkreten schädigenden arbeitsbedingten Einwirkungen ist, eignen sich nach der TRGS 910 aufgestellte Expositions-Risiko-Beziehungen (ERB) oder die daraus abgeleiteten Toleranz- und Akzeptanzkonzentrationen aus unserer Sicht nicht. Das Risikokonzept nach TRGS 910 ist als präventiver Ansatz entwickelt und dem Vorsorgeprinzip verpflichtet. Wegen der unterschiedlichen Anforderungen (absolute vs. relative Risikoerhöhung; gleichbleibende Exposition über ein ganzes Arbeitsleben vs. unterschiedlich lange und unterschiedlich hohe, begrenzte Expositionszeiträume; tierexperimentelle Daten für Präventionszweck nutzbar) ist eine unmittelbare Übertragung von ERB in das BK-Verfahren ausgeschlossen.
Sofern die ERB für einen bestimmten Stoff aus epidemiologischen Daten hoher Qualität abgeleitet wurde und das entsprechende Begründungspapier des Ausschusses für Gefahrstoffe den aktuellen und akzeptierten Stand der Wissenschaft reflektiert, kann das AGS-Dokument als Datenquelle genutzt werden. Die darin beschriebene(n) Schlüsselstudie(n) sollten aber erst nach kritischer Prüfung, die Sachverstand auf dem Gebiet der Epidemiologie voraussetzt, als Ausgangspunkt zur Ableitung eines Orientierungsmaßes oder für Kausalitätsbeurteilungen im Einzelfall herangezogen werden.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass Orientierungsmaße nie starre Grenzen sind; die konkreten Verhältnisse jedes Einzelfalles müssen immer berücksichtigt werden.
Literatur
BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin): Begründungen zu Exposition-Risiko-Beziehungen. www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/Gefahrstoffe/TRGS/Begruendungen-910.html
BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin): TRGS 910. Tech-nische Regel für Gefahrstoffe „Risikobezogenes Maßnahmenkonzept für Tätigkei-ten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen“. Ausgabe: Februar 2014. GMBl 2014 S. 258–270 vom 02.04.2014 [Nr. 12], geändert und ergänzt: GMBl 2014 S. 1313 v. 28.10.2014 [Nr. 64].
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Brüning T, Pesch B, Zschiesche W et al.: Wissenschaftliche Datenlage zur BK-Nr. 1103 im Hinblick auf die kanzerogene Wirkung von Chrom(VI)-Verbindungen. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 9: 666–676.
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Pesch B, Pierl CB, Gebel M et al.: Occupational risks for adenocarcinoma of the nasal cavity and paranasal sinuses in the German wood industry. Occup Environ Med 2008; 65: 191–196.
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SGB VII: Das Siebte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254), das durch Artikel 4 des Gesetzes vom 17. Juli 2015 (BGBl. I S. 1368) geändert worden ist ( www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/sgb_7/gesamt.pdf ).
Seidler A: Ableitung von Grenzwerten auf der Grundlage von epidemiologischen Studien. Zentralbl Arbeitsmed 2014; 64: 325–329.
Spellbrink W: Synkanzerogenese aus rechtlicher Sicht. In: Erfahrungen mit der Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB VII (6. Erfahrungsbericht). Berlin: DGUV, 2013.
Interessenkonflikt: Die Autorinnen und Autoren sind Beschäftigte der gesetzlichen Unfallversicherung. Es bestehen keine Interessenkonflikte.
Für die Verfasser
Dr. rer. nat. Eberhard Nies
Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA)
Alte Heerstraße 111
53757 Sankt Augustin
Fußnoten
1 Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA), Sankt Augustin
2 Berufsgenossenschaft Holz und Metall, Bielefeld
3 Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Bereich Berufskrankheiten, Berlin
4 Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung – Institut der Ruhr-Universität Bochum (IPA), Bochum (Direktor: Prof. Dr. med. Thomas Brüning)