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HIV-assoziierte Diskriminierung: eine Situationsanalyse in Sachsen

Einleitung: Die Zahl der Menschen, die Ende des Jahres 2015 mit HIV oder AIDS in Deutschland lebten, wird vom Robert Koch-Institut auf etwa 84 700 geschätzt. Diese sind trotz langjähriger und aufwändiger Aufklärungsarbeit nach wie vor von HIV-bezogener Stigmatisierung und Diskriminierungen in allen Lebensbereichen betroffen. Ziel der vorliegenden Kurzdarstellung ist die Erfassung von HIV-assoziierter Diskriminierung in den Lebensbereichen Arbeit und Gesundheit.

Methode: Über eine Zweigstelle der sächsischen Aidshilfe (AH) wurden drei Betroffene und drei Experten (Mitarbeiter der Aidshilfe) rekrutiert, die an standardisierten Interviews zum Thema Diskriminierung teilnahmen. Für die Auswertung der Interviews wurden die Audioaufnahmen vollständig verschriftet und nach den Regeln von Kuckartz et al. (2008) transkribiert. Danach wurden alle sechs Interviews in Anlehnung an Mayrings (2008) inhaltliche Strukturierung analysiert.

Ergebnisse: Sowohl in den Lebenswelten Arbeitsplatz als auch im Gesundheitswesen konnten die Interview-Teilnehmer von diskriminierenden Vorfällen berichten, die sich einerseits (am Arbeitsplatz) auf die Leistungsfähigkeit und die Verlässlichkeit sowie Leistungsfähigkeit der HIV-positiven Mitarbeiter bezog, und andererseits (im Gesundheitswesen) auf die vermeintliche Selbstverschuldung und stark verzerrt wahrgenommene Infektiosität der HIV-positiven Patienten/Pflegefälle abstellte. Um Abhilfe zu schaffen, werden Maßnahmen bei den Diskriminierten als auch bei den Diskriminierenden beschrieben.

Schlussfolgerungen: Trotz zahlreicher und lang andauernder öffentlicher Kampagnen erfahren HIV-positive Menschen immer noch Zurückweisung und Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Gesundheitswesen. Weiterführende Maßnahmen sind – gerade in den zentralen Lebensbereichen Arbeit und Gesundheitswesen – angezeigt.

Schlüsselwörter: HIV-Infektion – Lebenswelten – Diskriminierung – Sachsen

HIV-associated discrimination: a situation analysis in saxony

Introduction: The number of persons living with an HIV-infection or AIDS in Germany at the end of 2015 was estimated to be 84.700 by the Robert Koch Institute. These persons are still in danger of being discriminated or stigmatized in all areas of life, despite continuing and elaborate educational work. The aim of this short report is the detection of HIV-associated discrimination in the areas work and health.

Methods: A branch of the „Aidshilfe“-association in Saxony was contacted for interview partners (three persons living with HIV/AIDS, three experts (employees of the “Aidshilfe”)), who participated in standardized interviews. The interviews were recorded and transcribed according to Kuckartz et al. (2008). All six interviews were structured and analyzed according to Mayring (2008).

Results: Interviewees were able to report discriminatory situations at the workplace and in the context of the health system. At the workplace these situations referred to the reliability and productivity of the HIV-positive employees; in the health care system, these situations were associated with an alleged personal negligence and the distorted perception of contagiousness. The interview partners described measures for discriminators as well as the persons being discriminated, in order to address this result.

Conclusions: Despite many and continuous public campaigns, persons living with HIV still experience discrimination and rejection at the workplace and in the health care system. Additional measures are warranted – especially in central areas of life like the workplace and the health care system.

Keywords: HIV infection – areas of life – discrimination – Saxony

HIV-assoziierte Diskriminierung: eine Situationsanalyse in Sachsen

Voigt J1

Jager A1

Ochsmann E1,2

(eingegangen am 11.01.2017, angenommen am 15.02.2017)

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2017; 52: 208–214

Einleitung und Hintergrund

Die Zahl der Menschen, die Ende des Jahres 2015 mit HIV oder AIDS in Deutschland lebten, wird auf etwa 84 700 geschätzt (RKI 2016). Davon ist bei etwa 72 000 Personen die Diagnose HIV bekannt, etwa 12 600 Menschen leben nach den Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) mit einer HIV-Infektion, ohne dass die Diagnose bekannt ist. Nach dem steilen Anstieg der HIV-Inzidenz in den 80er Jahren und einem erneuten Anstieg zwischen 1999 und 2006, bleibt die Zahl der HIV-Neuinfektionen damit seit 2006 ungefähr konstant bei ca. 3200 Neuinfektionen pro Jahr (RKI 2015b). Ursächlich werden die meisten Neuinfektionen auf gleichgeschlechtlichen Sex unter Männern zurückgeführt (etwa 2200 Neuinfektionen).

In Sachsen lebten Ende 2015 schätzungsweise 2200 Menschen mit HIV, davon etwa 1700 mit HIV-Diagnose und etwa 550 ohne Diagnose. Der Großteil der 180 HIV-Neuinfizierten pro Jahr in Sachsen wird ebenfalls durch homosexuelle Kontakte zwischen Männern zurückgeführt (RKI 2015a).

Da die Erkrankung bzw. HIV-Infektion aufgrund der guten medizinischen Versorgungslage in Deutschland gut zu behandeln ist und ein in vielen Fällen ein „normales Leben“ möglich macht, sind die (befürchtete) Zurückweisung und Ausgrenzung aufgrund der HIV-Infektion für viele Betroffene heute ein relevanteres Thema als die gesundheitlichen Folgen der Infektion. Die aktuelle Kampagne „Positiv zusammen leben“, die die BzgA, das Bundesministerium für Gesundheit, die Deutsche AIDS-Hilfe und die Deutsche AIDS-Stiftung anlässlich des Welt-AIDS-Tages 2016 gemeinsam durchführen, soll in diesem Kontext einen weiteren Gegenpol zu Ausgrenzung und Diskriminierung setzen ( www.welt-aids-tag.de/kampagne-2016/ ). Denn trotz langjähriger und aufwändiger Aufklärungsarbeit berichten Betroffene nach wie vor von HIV-bezogener Stigmatisierung und Diskriminierungen in allen Lebensbereichen (DAH 2014), was die Lebensqualität von Menschen mit HIV stark beeinträchtigen kann. Gleichzeitig behindern Stigmatisierung und Diskriminierung – wie sowohl Praxis als auch Wissenschaft zeigen – die HIV-Prävention (DAH 2014).

Zielstellung

Ziel der vorliegenden Kurzdarstellung ist die Erfassung von HIV-assoziierter Diskriminierung von Menschen in Sachsen. Der Fokus der vorliegenden Auswertung wurde dabei auf die Lebensbereiche Arbeit und Gesundheit gelegt.

Methodik

Interview und Interviewteilnehmer

Im Zuge der vorliegenden Arbeit, wurde die Zielstellung durch die Durchführung von Interviews mit HIV-Infizierten und Experten verfolgt. Im Interview, das als niedrigschwellige und alltagsnahe Methode gilt, können neben objektiv gemachten Aussagen auch subjektive Eindrücke erfasst werden. Außerdem wird durch die direkte Befragung eine persönliche Atmosphäre geschaffen, so dass während des Interviews individuell auf den Befragten eingegangen werden kann und im Gespräch weitere Hintergrundinformationen (Erlebnisse, Erfahrungen, Meinungen, Gefühle) erfragt werden können (Döring u. Bortz 2016).

Um mit HIV-positiven Personen in Kontakt zu treten, wurde der Zugang über eine Beratungsstelle einer sächsischen Aidshilfe (AH) gewählt. Über den dortigen Ansprechpartner wurden die sächsischen Aidshilfen in Dresden, Leipzig, Chemnitz und Zwickau gebeten, die Interviewanfrage an HIV-positive Klienten mit gültiger Kontaktadresse weiterzuleiten. Da viele Betroffene in Beratung bereits schlechte persönliche Erfahrung in Zusammenhang mit der HIV-Infektion gemacht haben und den Aidshilfen auch nur wenige konkrete Kontaktdaten von AH-Klienten vorliegen, konnten durch den Aufruf über die Aidshilfe insgesamt nur drei Personen mit einer HIV-Diagnose rekrutiert werden, die sich bereit erklärten, an einem Interview zur o. g. Thematik teilzunehmen. Um weitere Informationen aus anderer Perspektive zu gewinnen, wurden daher auch Experten/hauptamtliche Mitarbeiter der Aidshilfe in die Interviews einbezogen (Döring u. Bortz 2016), die unmittelbar HIV-positive Menschen betreuen und unterstützen. Der Kontakt wurde über den Leiter der Beratungsstelle hergestellt. Um keine Differenz in den Fallzahlen zwischen HIV-Patienten und Experten zu schaffen, wurden drei Experten für ein Interview rekrutiert. Insgesamt nahmen damit drei Frauen und drei Männer am Interview teil (Klienten: 2 Frauen, 1 Mann; Experten: 2 Männer, 1 Frau). Die befragten Klienten wissen seit 19, 17 bzw. 5 Jahren, dass sie HIV-positiv sind.

Interview-Leitfaden, „Pre-Test“

Für die Entwicklung des Interview-Leitfadens wurde das Gespräch mit einem HIV-positiven Klienten der Aidshilfe gesucht, um die Fragen geeignet auszuwählen und zu formulieren. Durch diese Vorbereitung wurden auch mögliche Befangenheiten seitens des Interviewers im Vorfeld abgebaut, was zu einer besseren Interviewatmosphäre bei der Untersuchung beitragen soll.

Das Interview folgte grundlegend der nachfolgend dargestellten Struktur:

  1. Was verstehen die Interview-Teilnehmer unter dem Begriff „Diskriminierung“? Welche Ursachen gibt es ihrer Meinung nach für „Diskriminierung“?
  2. Welche konkreten Erlebnisse und Erfahrungen assoziieren die Betroffenen und Experten mit „Diskriminierung“?
  3. Welche Folgen hatten diese Erlebnisse?
  4. Wie kann gegen „Diskriminierung“ vorgegangen werden?

Die zugehörigen Ober-Kategorien des Interview-Leitfadens wurden weiter in Haupt- und Detailfragen unterteilt und orientierten sich inhaltlich an den strukturgebenden Forschungsfragen dieser Untersuchung. Die Fragen waren für Klienten und Experten gleich ausgerichtet, jedoch wurden sie entsprechend spezifiziert.

Um den Leitfaden auf Verständlichkeit und Vollständigkeit der Fragen zu überprüfen, wurden mit Klienten und Experten Probe-Interviews geplant und durchgeführt. Es wurde dabei auf Gesprächspartner abgezielt, die der gleichen Personengruppe angehören, aber nicht zu den Interviewteilnehmern gehören (Kaiser 2014). Diese Anforderung wurde bei den Experten erfüllt, jedoch stellte sich kein weiterer Klient der Aidshilfe für ein Probe-Interview zur Verfügung. Daher wurde der Interview-Leitfaden für die Klienten im Gespräch mit dem Leiter der Beratungsstelle überprüft. Nach diesen „Pre-Tests“ wurden die Interview-Leitfäden entsprechen überarbeitet und angepasst.

Interviewdurchführung

Die einzelnen Interviews wurden nach individuellen Terminabsprachen in individuell gewählten Räumlichkeiten durchgeführt. Alle potenziellen Gesprächspartner wurden bereits bei der Interviewanfrage über Ziel und Zweck der Untersuchung informiert. Vor Beginn des eigentlichen Interviews wurde nochmals das Anliegen der Untersuchung vorgestellt und die anonymisierte Erfassung und Auswertung der Daten erläutert (Mayer 2015). Die Teilnehmer gaben ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme am Interview.

Die Gespräche wurden per Diktiergerät aufgezeichnet und später transkribiert. Auf Notizen während des Interviews wurde verzichtet (Mayer 2015, S. 224). Um jedoch Besonderheiten des Gesprächs festzuhalten, wurde nach Ende der Interviews ein Postskriptum durch die Interviewerin angefertigt. Dieses Postskriptum beinhaltete Angaben zum Befragten, Räumlichkeiten und eventuellen Störungen. Nach Beendigung der Gespräche wurde alle Befragten über die Kontaktdaten der Interviewerin und die Möglichkeit zur Ergebnismitteilung informiert (Döring u. Bortz 2016). Die Experten-Interviews dauerten zwischen 17 und 49 Minuten, die Klienten-Interviews zwischen 23 und 64 Minuten (Mittelwert aller Interviews: 36 Minuten).

Datenaufbereitung

Für die Auswertung der Interviews wurden die Audioaufnahmen vollständig verschriftet und nach den Regeln von Kuckartz et al. (2008) transkribiert. Eine entsprechende Übersicht zur Entschlüsselung der Transkripte wird laut Datenschutzvorschriften getrennt von den Audioaufnahmen aufbewahrt (Kuckartz 2016). Die in den Postskripten notierten Besonderheiten wurden jeweils nach dem dazugehörigen Transkript vermerkt. Bei der Transkription wurden den Befragten in fortlaufender Reihenfolge die Kürzel B1 bis B6 zugeordnet (B1–B3: Experten und B4–B6: Klienten).

Datenauswertung

Für einen Überblick über das Interviewmaterial und zum Herausfiltern wichtiger Textpassagen, wurden je ein Experten- und Klienten-Interview analysiert und zunächst vier Kategorien als Hilfestellung für die weitere Auswertung gebildet (Kaiser 2014). Danach wurden alle sechs Interviews anhand dieser Kategorien sowie in Anlehnung an Mayrings inhaltliche Strukturierung analysiert (Mayring 2008). Dafür wurden inhaltstragende Textbestandteile für jedes Interview entsprechend den gebildeten Kategorien extrahiert, wobei diese durch Paraphrasieren auf ein ähnliches Sprachniveau gebracht wurden. Anschließend wurden diese gewonnenen Ergebnisse nochmals kategorisiert. Die Erstellung dieser Kategorien erfolgte detaillierter und orientierte sich an den Forschungsfragen ( Tabelle 1). Im nachfolgenden fünften Schritt wurden bedeutungsgleiche Paraphrasen pro Interview zusammengefasst (Mayring 2008).

Ergebnisse

Begriffsbestimmung von Diskriminierung, Ursachen für Diskriminierung

Der Begriff „Diskriminierung“ wurde von Experten und Klienten als eine Beurteilung und Ungleichbehandlung anderer Personen aufgrund bestimmter Eigenschaften definiert. Klienten definierten „Diskriminierung“ als das Hinwegsetzen über Minderheiten und das Ausgrenzen anderer Menschen. Experten beschreiben, dass sowohl Worte als auch Gesten als diskriminierend verstanden werden können. Experte B2 führte an, dass auch wohlwollende Handlungen als Diskriminierung betrachtet werden können und zwar dann, wenn grundsätzlich angenommen wird, dass eine andere Person Hilfe benötigt, ohne dies im Vorfeld zu erfragen. Er bezeichnete dies als positive Diskriminierung. „Möchte derjenige überhaupt Hilfe in Anspruch nehmen, wird gar nicht eruiert, sondern da wird sofort erstmal davon ausgegangen. Ein Helfersystem“ (B2: 490–492).

Diskriminierung wird von den Interviewteilnehmern meist anhand von Beispielen zu Vorurteilen erläutert. Als vorherrschendes Vorurteil wurde von Experten und Klienten genannt, dass eine HIV-Infektion mit AIDS gleichgesetzt wird. Damit einhergehend wurde von beiden Interviewgruppen angegeben, dass die HIV-Infektion mit einem frühzeitigen Tod des Betroffenen gleichgesetzt wird. „Also erstmal hieß das für mich, was es wahrscheinlich für ganz viele heißt, wenn man so etwas hört, dass das vielleicht Tod bedeutet“ (B4: 1757–1758). Weitere Vorurteile, die im Kategorienbereich „Diskriminierung“ genannt wurden, waren, dass das HI-Virus durch Migranten nach Deutschland gekommen sei, dass bei Besuchern und Mitarbeitern von Aidshilfe-Einrichtungen generell ein positiver HIV-Status vorliegt und dass in jedem Fall Eigenverschulden für die Infektion mit dem Virus verantwortlich ist.

Fünf von sechs Interviewpartnern gaben an, dass Unwissenheit ursächlich für Diskriminierung ist. Es wurden unterschiedliche Gründe für diese Unwissenheit genannt. Klienten und Experten sahen fehlende Informationen und unzureichende Schulungen als Grund. Interviewpartner B1 und B5 sagten aus, dass auch medizinisches und pflegerisches Personal nicht ausreichend informiert ist. „Ich dachte, ich bin hier in einer medizinischen Klinik. Gerade von dem Krankhaus, ein Ausbildungskrankenhaus ist das. Ich fragte: „Werden Sie denn gar nicht geschult?“ Und dann hat sie mir erzählt: ‚Doch, aber nicht über HIV, sondern nur über [diesen Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus]’“ (B5: 2241–2245).

Auch fehlende Berührungspunkte mit HIV-Positiven und daraus resultierende Unsicherheit und Angst wird als Grund für Diskriminierung angesehen. Die Meinung, dass betroffene Personen oft aus tabuisierten Randgruppen (Drogennutzer, Homosexuelle) stammen, führt zu Hemmungen, Fragen zu stellen. Experte B2 führte weiterhin auf, dass HIV-bezogene Themen durch Medien ungenau vermittelt werden, so z. B. in Bezug auf die neue Präexpositionsprophylaxe, die ein vermeintliches Fehlverhalten begünstigt.„Die Presse macht leider schnell ‚Jetzt wollen sie alle ohne Kondom vögeln’ daraus“ (B2: 414–415).

Experte B3 thematisiert durch Erziehung vermittelte Vorurteile durch das Elternhaus als Ursache für Diskriminierung. Die meisten Interviewpartner gaben an, dass Diskriminierung unabhängig vom Bildungsstand zu betrachten ist. Ein Betroffener merkt aber an, dass Personen mit einem höheren Bildungsstand, Diskriminierungen gezielter einsetzen, während Personen mit einen geringeren Bildungsstand diskriminierende Äußerungen eher übernehmen. „Von den Gebildeteren günstiger eingesetzt für ihre Belange. Und weniger Gebildetere eben nur viel nachreden […] und das kann manchmal etwas härter klingen“ (B6: 3115–3118).

Beispiele für diskriminierende Erlebnisse

Am Arbeitsplatz: Im beruflichen Bereich herrscht die Meinung, dass nicht alle Berufe durch einen HIV-Positiven ausgeübt werden könnten. „[…] und dann auch Ausgrenzung in Bezug auf Arbeit, so ‚Koch kannst du nicht werden. (.-.) Pfleger kannst du nicht werden.’ Ist ja alles Quatsch, geht alles“ (B1: 216–218). Auch die Meinungen, dass HIV-positive Arbeitnehmer nicht so leistungsfähig wie Nicht-HIV-Positive sind, dass HIV-positive Arbeitnehmer durch erhöhte Fehlzeiten auffallen und dass HIV-positive Menschen verantwortungslos sind, kommen am Arbeitsplatz vor. „Zum Beispiel, wenn ich zu einem Arbeitgeber gehe und ehrlich antworten möchte, wenn er mich das fragt. Er darf mich das gar nicht fragen, aber wenn das Gespräch irgendwie über den Dienstarzt herauskommt, dann haben die Leute natürlich auch, sind ja auch Menschen, auch diese Bilder mit drin. Das heißt, dann denken sie vielleicht noch: ‚Okay, als Arbeitgeber, ich brauche ja einen Arbeitnehmer, der auch wirklich zuverlässig ist, der nicht krank wird und so. Der sagt aber schon, er hat eine chronische Infektion.’ Das heißt, da ist auch schon eine Abschwächung drin, wo Menschen sich denken: ‚Naja gut, ist der denn so gut belastbar, wie jemand anderer? Der hat bestimmt oft Fehlzeiten, vielleicht stirbt er irgendwann’“ (B2: 518–528).

Von Experten und Klienten wurde gleichermaßen über die Verbreitung der Information über den positiven HIV-Status an Kollegen und Vorgesetzten am Arbeitsplatz berichtet. Weiter sagte Klient B4 aus, dass durch Mobbing eine Kündigung des HIV-positiven Mitarbeiters angestrebt wurde. Experte B1 gab an, dass HIV-positive Kollegen Ausgrenzungen am Arbeitsplatz erlebt haben, z. B. durch die verweigerte gemeinsame Nutzung von Kaffeetassen und Personaltoilette. Experte B2 sagte aus, dass bei ihm aufgrund seines Arbeitsplatzes bei der Aidshilfe ein positiver HIV-Status und Homosexualität vermutet werden.

Im Gesundheitswesen: In erlebten Fällen von Diskriminierung im Gesundheitswesen erfolgte diese sowohl durch medizinische, als auch pflegerische Fachkräfte. Sowohl Experten als auch Klienten gaben an, dass Patientenunterlagen und Patientenzimmer auch für Außenstehende gut sichtbar als „HIV-Fall“ gekennzeichnet wurden. Nach Angaben vom Experten B3 wurde sich zum vermeintlichen Schutz anderer lautstark und für jeden gut hörbar über den positiven HIV-Status des Patienten ausgetauscht. „Auch so Sachen, was uns Leute erzählt haben, […] war im Klinikum hier, wo ein HIV-positiver Patient, der hatte eine Untersuchung und musste warten und hatte gehört wie, ich weiß nicht, ob es ein Arzt und ein Pfleger war oder zwei Pfleger oder so, sich unterhalten haben und der eine zum anderen gesagt hat: ‚Achtung, pass auf, dass der da dich nicht anfasst, der hat AIDS’“ (B3: 1649–1655). Auch Experte B1 sagte aus, dass Dritte und an der Behandlung unbeteiligte Personen Kenntnis über die HIV-Infektion des Patienten erlangen konnten.

Von Klienten und Experten wurde gleichermaßen beklagt, dass der Zugang zu medizinischer/pflegerischer Dienstleistung für HIV-positive Menschen erschwert sei. So war – wenn überhaupt – oft nur eine Terminvergabe am Ende der Sprechzeit möglich. Auch gab es Fälle, in denen Ärzte die Behandlung von HIV-infizierten Menschen grundsätzlich ablehnten. Weiter wurde von Klient B5 berichtet, dass der Kontakt seitens der Behandelnden möglichst vermieden wurde, z. B. durch das Schaffen einer möglichst hohen physischen Distanz, nachdem der positive HIV-Status offengelegt wurde. Weiter wurde berichtet, dass die Versorgung durch die Pflegekraft abgelehnt und dem Arzt übergeben wurde. „Und dann kam ein Arzt. ‚Herr Doktor, was haben Sie für eine Größe?’ Es ging um die Handschuhgröße. Und da wusste ich schon, das macht der nicht jeden Tag, das macht sonst die Schwester, hat sich nicht an mich heran getraut“ (B5: 2196–2199). Experten und Klienten gaben auch an, dass bei der Versorgung und Behandlung von HIV-positiven Patienten unnötige Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Dazu zählen das Tragen von zwei Paar Handschuhen, Mundschutz und Ganzkörperschutzkleidung. Klient B5 erzählte von einem sehr raschen Transport im Rettungswagen mit Blaulicht in die nächstgelegene Spezialklinik direkt nach Bekanntgabe des positiven HIV-Testergebnisses und ohne anderen erkennbaren Anlass. Kardiologische Untersuchungsergebnisse wurden nicht – wie sonst üblich – mit dem behandelnden Arzt vor Ort besprochen, sondern erst später mit dem Hausarzt. Die teilnehmenden Experten berichteten außerdem, dass die Suche nach einem Pflegeplatz in einer stationären und ambulanten Pflegeeinrichtung aufgrund der HIV-Infektion des Patienten erschwert wurde. Darüber hinaus berichtete Experte B2, dass ein Arzt einem HIV-positiven Patienten ohne weiteren Anlass Drogenkonsum unterstellte. Klient B4 gab an, durch Pflegepersonen vorverurteilt worden zu sein, beschrieb das aber nicht näher.

Andere Lebenswelten: In anderen Lebenswelten wurde von den Experten angeben, dass Berührungen mit HIV-positiven Menschen möglichst vermieden werden. „Ich habe immer wieder Auffassungen erlebt wie: ‚Na, ich kann die Türklinge doch nicht anfassen, wenn in meinem Haus ein Positiver wohnt. Ich kann mich doch infizieren. Obstessen kann ich doch nicht machen, von dem Positiven. Der hat das doch angefasst’“ (B1:88-92). Experte B3 berichtete von einem Fall, in dem einem HIV-positiven Kind nach dem Sturz im Kindergarten nicht sofort geholfen wurde, da es sich dabei eine blutende Schürfwunde zugezogen hatte. Weiter beschrieb der Experte einen Fall, in dem aufgrund des positiven HIV-Status und des Migrationshintergrunds eine verlängerte Dauer von Verwaltungsprozessen vermutet wird. Im Interview mit Klient B4 wurde vom Kontaktabbruch durch Freunde nach Bekanntgabe des positiven HIV-Status erzählt. Weiter wurde darüber berichtet, dass HIV-negative Personen gefordert hätten, dass HIV-positive Personen durch Tattoos gekennzeichnet werden.

Folgen der Diskriminierung

Im Vordergrund der Folgen stand die zusätzliche psychische Belastung der HIV-Infizierten. Diese entsteht durch Unsicherheit und Angst bei der Notwendigkeit, den positiven HIV-Status erneut bekannt geben zu müssen. Beispielhaft wurden die Fälle einer neuen Partnerschaft oder eines operativen Eingriffs genannt.„Ich habe vor kurzem eine Fuß-OP gehabt. Und da dachte ich: Okay, da müssen die wieder schneiden, wieder etwas mit Blut. Und ich wollte es eigentlich nicht sagen. Habe mir gedacht: Was mache ich jetzt“ (B5: 2272–2275). Klienten gaben auch an, dass die Bekanntgabe des positiven HIV-Status bereut wurde und dass man gegenüber Worten und Gesten sensibler geworden ist. Klient B5 benannte die Angst davor, dass die Information über die HIV-Infektion ohne vorherige Zustimmung im Wohnort oder Unternehmen an Dritte weitergeben wird, als relevanten Stressor. Nur von Klient B4 wurde der Verlust von sozialen Beziehungen als Chance gesehen, „wahre Freunde“ zu erkennen.

Als weiterreichende Folge der Diskriminierung wurde der Verlust des Arbeitsplatzes, durch „einfache“ Kündigung oder durch Kündigung mit Unterstützung durch einen Anwalt von beiden Interviewgruppen benannt. Ebenso wurde ein Arbeitsplatzwechsel innerhalb des Unternehmens, initiiert durch den HIV-Positiven selbst, genannt, darüber hinaus fanden Umschulungsmaßnahmen statt. Im Gesundheitsbereich wurden eine schlechtere Behandlung und Probleme bei der Inanspruchnahme von medizinischen Dienstleistungen angedeutet.

Maßnahmen gegen Diskriminierung

Ansatzpunkte bei den Diskriminierenden: Beide Interviewgruppen forderten die Herstellung eines realistischen Bildes und einen offenen Umgang mit HIV/AIDS in der (meist HIV-negativen) Bevölkerung, um weitere Diskriminierungen zu verhindern. Als Maßnahmen werden hierbei Aufklärungskampagnen und das zur Verfügungstellen von Informationen genannt. Aufklärungskampagnen zum Schutz vor einer Übertragung von HIV werden aber auch kritisch betrachtet, gerade dann, wenn die Aufklärung „Angst macht“, was früher häufiger der Fall war: „HIV/AIDS wurde lange, lange Zeit immer mit dem Angstfaktor bekämpft. Es ist hieß immer so: ‚Wenn du nicht sterben willst, dann nehme ein Kondom.’ Das hat nie richtig gezogen, aber es kam immer mit dem Zeigefinger“ (B2: 727–730). Ein Experte weist in diesem Kontext darauf hin, dass Information und Aufklärung gerade über soziale Netzwerke vorsichtig und mit viel Bedacht zu betreiben sind, da besonders in Internet-Foren und sozialen Netzwerken von den Lesern nur noch Überschriften und die dazugehörigen Kommentare wahrgenommen werden und der eigentliche Textinhalt oft nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Auch andere Klienten und Experten sahen Aufklärung und Information der diskriminierenden Person als hilfreich an. Dies kann auch „im Kleinen“, wie im Bereich des Arbeitsplatzes, erfolgen, z. B. mit Unterstützung des Betriebsrates.

Ein anderer Ansatzpunkt ist das Schaffen von alltagstauglichen Berührungspunkten mit HIV-positiven Menschen. Einer der Experten schlug vor, durch Alltags-Entstigmatisierung eine Öffentlichkeit zum Thema herzustellen, so beispielsweise durch „Positiven-Restaurants“, in denen die Köche HIV-positiv sind. Dies dient zur Selbstreflexion und zum Überdenken vorhandener Meinungen, so der Experte. Grundlage dafür ist das „Outing“ von HIV-positiven Menschen. Von einem anderen Experten wurde in diesem Kontext aber betont, dass ein „Outing“ oft nur dann zielführend, d. h. entstigmatisierend ist, wenn es von einem homosexuellen Mann in einem angesehenen und öffentlichen Amt umgesetzt wird, da dieser zur größten Gruppe von HIV-positiven Menschen in Deutschland zählt. Das gleiche „Outing“ einer Frau oder eines heterosexuellen Mannes würden demgegenüber von der Allgemeinheit nur als Einzelschicksal verstanden werden, da diese nicht den herrschenden Vorurteilen der breiten Masse entsprechen würden.

Ansatzpunkte bei den Diskriminierten: Interviewte HIV-positive Personen sagten aus, dass sie sich der diskriminierenden Situation eigenständig entzogen haben, indem sie z. B. das Arbeitsverhältnis beendeten. Aber auch die Unterstützung und Betreuung des Diskriminierten durch die AH nach diskriminierenden Ereignissen können zu einer Besserung der Situation auf Seiten des Betroffenen beitragen. Diskriminierungen durch medizinisches und pflegerisches Personal wurden an die DAH und Ärztekammer gemeldet. Es wurde nicht angeben, ob diese Meldung an eine Ärztekammer auf Bundes- oder Landesebene erfolgte oder weitere Konsequenzen für den Diskriminierenden hatte.

Diskussion

Obwohl die vorliegenden Ergebnisse aus wenigen Interviews abgeleitet wurden, ermöglichen sie aufgrund des offenen und weichen Interviewstils einen weitreichenden und zielführenden Einblick in die Thematik. Sie kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie andere Forschungsarbeiten, können diese Erfahrungen aber durch konkrete Beispiele nochmals „plastischer“ darstellen.

In einer repräsentativen Befragung der deutschen Allgemeinbevölkerung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) wurden Wissen und Einstellungen zu den Infektionsrisiken mit HIV im Alltag abgefragt (BzgA 2014). Im Rahmen der Befragung wurde festgestellt, dass das Wissen zu Infektionsrisiken im Allgemeinen gut ist, in verschiedenen Bereichen aber noch verbessert werden kann. So sind sich 12 % der Befragten nicht sicher oder glauben an ein Infektionsrisiko, wenn sie in der gleichen Arztpraxis wie ein HIV-positiver Patient behandelt werden, 6 % sind sich nicht sicher oder glauben an ein Infektionsrisiko, wenn ein Arbeitskollege HIV-positiv ist.

Basierend auf diesen Berichten ist also festzuhalten, dass sich nach etwa dreißig Jahren Aufklärungsaktivitäten und -kampagnen (die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [BzgA] geleitete Aufklärungskampagne „Gib AIDS keine Chance“ läuft seit Mitte der 80er Jahre) zwar das Bewusstsein und der Kenntnisstand zum Thema HIV und AIDS in der Bevölkerung positiv verändert haben, dass diese Veränderungen aber noch nicht in allen Bereichen bei den Menschen ankommen, die mit einer HIV-Infektion leben.

Die dargestellten Beispiele zeigen, dass es in zentralen Lebensbereichen wie Beruf und medizinischer Versorgung weiterhin Defizite gibt, die zu einer (subjektiven oder objektiven) Diskriminierung und Stigmatisierung von HIV-infizierten Mitarbeitern oder Patienten führen.

Der Verlust des Arbeitsplatzes wird von den Interview-Partnern als langfristige Folge von HIV-assoziierter Diskriminierung benannt. Diese kann – das legen die vorliegenden Ergebnisse nahe – auf bestimmte Berufe bezogen sein, kann aber auch mit einem höheren oder niedrigeren Bildungsstand im beruflichen Umfeld zusammenhängen. Ergebnisse einer Studie aus Frankreich (Dray-Spira et al. 2008) legen nahe, dass der Verlust des Arbeitsplatzes mit unterschiedlichen sozialen und medizinischen Faktoren zusammenhängt. In einer Befragung von 478 HIV-positiven Mitarbeitern, von denen 149 nach Diagnosestellung ihren Job verloren hatten, stellten sie z. B. geschlechtsspezifische Unterschiede fest. Während bei Frauen das Fortschreiten der Erkrankung – gemessen an der CD4-Konzentration – im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatzverlust stand (etwa vierfach erhöhtes Risiko), war es bei Männern die Kombination aus Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz und einem niedrigeren Bildungsstand (etwa achtfaches Risiko). Die Autoren schlussfolgerten, dass die HIV-Infektion zu einem weiteren – und bislang eher unbeachteten – Ungerechtigkeitsaspekt in der Arbeitswelt führt und so wiederum gerade sozial Schwache benachteiligt werden. Auch die Auswertung einer deutschen Subgruppe der „people living with HIV/AIDS“-Studienpopulation bestätigt dieses Ergebnis für männliche Beschäftigte (Groß et al. 2015). In einer anschließenden Auswertung der französischen Arbeitsgruppe (Annequin et al. 2016) wird darüber hinaus geschlussfolgert, dass dieser Effekt besonders ausgeprägt sein kann, wenn sich die Beschäftigungssituation insgesamt ändert, wie z. B. nach der wirtschaftlichen Krise 2008, unter der die HIV-infizierten Arbeitnehmer stärker „gelitten“ haben (mit einer größeren prozentualen Erhöhung des Arbeitslosenquote) als die Arbeitnehmer ohne HIV-Infektion.

Auch die medizinische Versorgung kann sich bei Bekanntgabe des positiven HIV-Status für die Patienten problematisch darstellen. Wie beschrieben, können Anders- oder Ungleichbehandlungen die Folge sein. Eine Studie aus Großbritannien legt die Vermutung nahe, dass diese Eindrücke und Ergebnisse nicht allein für Sachsen zutreffend sind. So haben in Großbritannien knapp 35 % der Befragten, die einem Zahnarzt ihren positiven HIV-Status mitteilten, angegeben, dass sie den Eindruck hatten, dass sich dies negativ auf ihre Behandlung ausgewirkt habe, bei 6,2 % wurde die Behandlung gar abgelehnt (Levett et al. 2009). Ein ähnliches Bild liefert die Arbeit von Nöstlinger et al. (2015), in der knapp 50 % der befragten Personen mit HIV-Infektion sich durch einen medizinischen Dienstleister diskriminiert fühlten.

Wie kann dieser Situation also begegnet werden? Die Interviewpartner dieser Studie sehen Ansatzpunkte in der Gesellschaft und Ansatzpunkte bei den Menschen, die mit HIV leben, selbst. Weiterführende Kampagnenarbeit wird von allen Interviewteilnehmern als sinnvoll bewertet. Daneben sollten aber auch mehr „echte“ Berührungspunkte mit HIV-infizierten Personen geschaffen werden. Ähnliche Ergebnisse werden in der qualitativen Übersichtsarbeit von Chambers et al. (2015) vorgestellt, die der Frage nachgeht, wie mit Stigma umgegangen werden kann. Die Autoren nennen hier soziale Unterstützung – oft durch Freunde und Familie – emotionale Unterstützung, wie sie vorwiegend durch die Familie zur Verfügung gestellt werden kann, aber auch praktische Unterstützung, z. B. durch Selbsthilfegruppen oder Vereine wie die Aidshilfe, die dabei helfen, soziale Isolation nach Diagnosestellung zu verhindern, dort, wo Familie und Freunde nicht einspringen können. Auch unvoreingenommenes Verhalten, Motivation und Unterstützung gerade von Mitarbeitern im Gesundheitswesen sehen sie als einen Aspekt, der Stigmatisierung reduzieren kann. Menschen mit einer HIV-Infektion werden dann eher medizinische Hilfe suchen, die Behandlung konsequenter umsetzen und weniger sozial (und medizinisch) isoliert sein. Die aktive Arbeit gegen Diskriminierung, in der Menschen, die mit HIV leben, sich selbst vertreten und Aufmerksamkeit für ihr Anliegen schaffen („self-advocacy“), wird auch als wichtiger Aspekt identifiziert und stimmt mit den Klienten- und Expertenvorschlägen der vorliegenden Arbeit überein.

Weitere Ansatzpunkte bei den HIV-positiven Menschen selbst werden in der Studie von Bogart et al. (2016) diskutiert. Die Autoren fanden heraus, dass HIV-positive afroamerikanische Männer unterschiedliche Herangehensweisen für den Umgang mit Diskriminierung (unterschiedliche Coping-Strategien) hatten. Häufig wurde reaktive Vermeidung („reactive avoidance“) betrieben, d. h. dass nach der diskriminierenden Situation Verhalten und Gefühle reaktiv an die Situation angepasst wurden. Weiterhin gab es proaktive Vermeidungsstrategien („proactive avoidance“), d. h. die diskriminierungsauslösende Situation wurde vermieden. Ein Beispiel hierfür wurde auch von den sächsischen Interviewpartnern gegeben, als überlegt wurde, wie die Bekanntgabe des HIV-Status vor einer OP vermieden werden kann. Weiterhin wurden Aspekte einer externen Attribuierung für die Diskriminierung aufgezeigt (versus Selbstvorwürfe) und die Suche nach sozialer Unterstützung. Aktive Coping-Strategien, wie die bereits oben genannte „self-advocacy“ wurde demgegenüber von den in der Studie befragten Männern nur selten genannt, so dass die Autoren schlussfolgerten, dass neben strukturellen Antidiskriminierungsinterventionen (z. B. Kampagnen etc.) auch parallele sozial abgestimmte Interventionen angeboten werden sollten, die die HIV-positiven Menschen dabei unterstützen, aktive Coping-Mechanismen zu entwickeln.

Bei der Entwicklung solcher Maßnahmen sollte jedoch unbedingt die Expertise der Menschen einbezogen werden, die mit einem positiven HIV-Befund leben.„Mediziner haben wohl die Befunde, aber die Betroffenen haben das Befinden und können darüber Auskunft geben“ (B6: 3174-3175).

Schlussfolgerung

Trotz zahlreicher und lange andauernder öffentlicher Kampagnen erfahren HIV-positive Menschen immer noch Zurückweisung und Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Gesundheitswesen. Weiterführende Maßnahmen scheinen also angezeigt zu sein. Zur Reduzierung von HIV-assoziierter Diskriminierung ist ein offener und alltagsnaher Umgang mit der Thematik HIV/AIDS erforderlich. Dadurch können unbegründete Ängste abgebaut und eine vorurteilsfreie Interaktion zwischen Infizierten und Nicht-Infizierten unterstützt werden. Es ist sinnvoll aufzuzeigen, dass es sich lohnt, HIV-negativ zu bleiben, aber dass im Falle einer Infektion mit dem HI-Virus eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben weiterhin möglich ist. Hierfür ist ein kombinierter Einsatz von Antidiskriminierungs- und Präventionsmaßnahmen gegen eine Übertragung von HIV erforderlich. Dies gilt für alle Lebensbereiche, jedoch besonderes in dem Bereich Gesundheit sollte es HIV-Betroffenen ermöglicht werden, sich sicher und unbefangen bewegen zu können. Um Maßnahmen gezielt ausrichten zu können, sollten gemeldete Fälle von Diskriminierung bei Ärztekammern und Antidiskriminierungsstellen analysiert werden. Weiter gilt es, die daraus entwickelten Strategien zur Bekämpfung von Diskriminierungen regelmäßig zu evaluieren und entsprechend anzupassen.

Literatur

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Für die Verfasser

Prof. Dr. med. Elke Ochsmann

Institut für Arbeitsmedizin

Universität zu Lübeck

Ratzburger Allee 160 – 23562 Lübeck

elke.ochsmann@uni-luebeck.de

Fußnoten

1 Fakultät Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Westsächsische Hochschule Zwickau

2 Institut für Arbeitsmedizin, Universität zu Lübeck