Lehrerkräfte formen maßgeblich die bildungstechnische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, etablieren Regeln und fördern einen respektvollen Umgang der Schüler untereinander sowie zu ihrem sozialen Umfeld. Obwohl diese Berufsgruppe eine derartige Verantwortung trägt, unsere junge Gesellschaft zu formen und auf den Berufsalltag vorzubereiten, erfahren gerade diese Menschen häufig wenig Unterstützung - psychologisch als auch pädagogisch.
Etwa 325.000 Flüchtlingskinder sind, laut einer Studie der Kultusministerkonferenz, in den Jahren 2014 bis 2015 in deutschen Bildungseinrichtungen untergebracht worden. Im Bildungsportal Nordrhein-Westfalen wird die Herkunft der Geflüchteten wie folgt konkretisiert: Menschen aus EU-Mitgliedstaaten (hier: EU-Binnenwanderung aus Südosteuropa, d.h. aus Bulgarien und Rumänien), Menschen aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten auf dem Balkan (hier vorwiegend Sinti und Roma aus Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina), Geflüchtete mit Familie, Unbegleitete junge minderjährige Geflüchtete (in erster Linie aus Kriegsgebieten aus dem arabischen Raum und Afrika).
Mit dieser internationalen Vielfalt sehen sich Lehrkräfte mit Flüchtlingsklassen oder Internationalen Förderklassen konfrontiert. Zu den Schwierigkeiten zählt nicht nur die Kommunikation, primär die Diversität von Sprachen, sondern auch eine emotionale Komponente, der die Lehrkraft im Umgang mit seinen Schülern ausgesetzt ist. Geschichten der Flucht und persönliche Schicksale fließen ungefiltert auf den Lehrer ein, beeinflussen seine Lehrtätigkeit und sein Privatleben.
Die sozialen, motivationalen und emotionalen Herausforderungen, denen Lehrkräfte durch die Flüchtlingskrise gegenüberstehen sind enorm gewachsen. Für die jungen Flüchtlinge sind Lehrkräfte, in den Schuleinrichtungen, eine der ersten Berufsgruppen in Deutschland, die sich über lange Zeit mit ihnen beschäftigen und ihnen vor allem zuhören. Der damit verbundene Zuwachs an Verantwortung und die gleichzeitig neu entstehenden Lehraufträge intensivieren den Belastungsgrad der Lehrkräfte und bergen gesundheitliche Risiken. Dennoch ist die bestmögliche Integration von Flüchtlingen in das deutsche Bildungssystem essentiell für ein funktionierendes Miteinander, die Autonomie von geflüchteten Bildungsbürgern und aussichtsreiche Berufschancen.
Integrationsort Schule – eine Fallstudie
Sven Mascher1 (39) ist ausgebildeter Diplomökonom und ehemaliger Bildungsgangleiter Internationaler Förderklassen. Seit zehn Jahren unterrichtet er an einer Berufsschule im Bergischen Land. Das Berufskolleg hat seit Mai 2015 insgesamt zwei Flüchtlingsklassen eingerichtet mit einer Klassenstärke von jeweils 18 Schülern. Die Altersstruktur bewegt sich im Rahmen von 16 bis 18 Jahren. Acht verschiedene Lehrer betreuen die beiden Förderklassen.
Der Idealfall: Die jugendlichen Flüchtlinge schließen innerhalb eines Jahres ihren Hauptschulabschluss nach Klasse 9 ab. Von den beiden bereits etablierten Klassen hat dieses Ziel bis jetzt kein einziger Schüler erreicht.
Der Lehrer als Allround-Talent
Der Rumäne Adrian D. rechnet eine Aufgabe an der Tafel. Er ist schnell fertig, „leicht“, sagt er. Der Rest der Klasse schweigt. Adrian war in Rumänien auf dem Gymnasium. Er möchte Zahnmedizin studieren. Acht seiner Mitschüler beherrschen nicht die lateinische Alphabetisierung.
Eine besondere Herausforderung für Sven Mascher ist es, die verschiedenen Bildungsgrade der Flüchtlinge auf einen Nenner zu bringen. Denn: Die schulischen Hintergründe variieren stark. „Einige meiner Schüler sind sehr ambitioniert, wollen lernen und sich integrieren. Manche Schüler sind schon seit ihrem zwölften Lebensjahr nicht mehr in die Schule gegangen, sind es nicht gewohnt mehrere Stunden in einem Zimmer stillzusitzen. Auch das Lernen an sich fällt ihnen schwer. Komplizierte Vorgänge oder Texte sind außerhalb ihres Verständnisses.“ Für einige seiner Schüler hat Mascher deshalb aus dem Internet Grundschulaufgaben ausgedruckt. Viele lernen erst bei ihm das Alphabet. Der Hauptschulabschluss in der deutschen Sprache - eine Wunschvorstellung.
„Guter Unterricht steht und fällt mit einer guten Kommunikation. Es ist utopisch direkt mit Textaufgaben für die neunte Klasse anzufangen, wenn die Hälfte der Schüler noch gar nicht der deutschen Sprache mächtig sind. Zu meinen Aufgaben kommen also permanent neue hinzu. Ich bin jetzt sozusagen auch zusätzlich Deutschlehrer. Dieser Leistungsdruck ist sehr belastend, “ so Mascher.
Auch die Heterogenität der gemischten Flüchtlingsklassen erweist sich als Problem: „Männer möchten nicht neben Frauen sitzen, Muslime nicht neben Christen. Allein die Sitzordnung wird dadurch zu einem logistischen Problem.“ Außerdem präzisiert er: „Ich mache mir nun viel mehr Gedanken um pädagogische Maßnahmen. Ein Beispiel: Ich habe Aufgabenblätter verteilt, bei denen die einfachen Aufgaben oben standen und nach unten immer schwieriger wurden. Meine arabischen Schüler haben alle unten angefangen zu rechnen. Folge: Frustrierte Schüler, die mit meinem Material nicht umgehen konnten. Das im arabischen Raum die Bücher von hinten und die Seiten von unten gelesen werden, kam mir gar nicht in den Sinn.“
Psychologische Situationsanalyse: In der Schule übernehmen Lehrkräfte eine Vorbildfunktion. Für mehrere Stunden sind sie Alleinunterhalter, zuständig und verantwortlich für eine bestimmte Klasse und deren Lernfortschritt. Essentiell für Lehrkräfte ist es dabei ihren persönlichen Erfolg, der mit ihrem beruflichen Ehrgeiz und der Bedeutsamkeit ihrer Arbeit einhergeht, nachzuhalten. In einer Unterrichtssituation mit einer Regelbeschulung ist dies durch gute Noten der Schüler oder eine positive Rückmeldung für den Lehrenden ersichtlich. Entscheidend ist auch der Kontakt zu Kollegen, die mit gleichem Lehrplan ähnliche Methoden verfolgen und gemeinsam auf ein erreichbares Ziel, wie zum Beispiel eine Abschlussprüfung hinarbeiten.
Wird nun die Situation in einer Internationalen Förderklasse betrachtet, so wird deutlich, dass besonders die positive Rückmeldung, die den Lehrkräften Anerkennung für ihre Leistung vermittelt weitestgehend ausbleibt. Zusätzlich ist der eigene berufliche Erfolg kaum messbar. Die Aufgaben und Ziele sind nicht an das Niveau der Flüchtlinge angepasst. Ein Erfolg wäre bereits, wenn sie es schaffen, irgendwann eine Aufgabe auf Deutsch zu lesen. Stattdessen wird von ihnen erwartet sich auf eine Abschlussprüfung der neunten Jahrgangsstufe vorzubereiten. Die Folge: Die Schüler bleiben stets hinter den Leistungsanforderungen zurück. Das Ziel auf das Lehrkräfte und Schüler als Team hinarbeiten, bleibt unerreicht. Die Lehrenden fragen sich: Warum soll ich mich anstrengen?
Darunter leidet nicht nur die Motivationsfähigkeit sondern vor allem die Verausgabungsbereitschaft der Lehrkräfte. Ihre Frustrationstoleranzgrenze sinkt merklich und kann so zu langwierigen psychischen Folgeschäden, wie eine depressive Erkrankung infolge eines Erschöpfungszustandes führen. Die Lehrenden sind psychisch als auch physisch ausgebrannt, können keine eigenen Lösungsansätze finden. Im schlimmsten Fall ist eine Depression die Folge.
Eine zusätzliche Belastung entsteht durch den fehlenden fachlichen und pädagogischen Austausch mit Kollegen. Bis jetzt werden die Lehrpläne noch immer schulspezifisch erstellt. Das heißt: Jede Schule geht anders mit zugezogenen Flüchtlingen um. Eine Kommunikation der Schulen auf Landesebene fehlt. Angebotene Fortbildungen sind meist eintägig und gehen nur unzulänglich auf die spezifischen Schulsituationen ein. Ein allgemeingültiges Konzept an dem sich Lehrkräfte orientieren können, ist noch nicht gefunden.
Distanzierungsfähigkeit: Emotion am Arbeitsplatz
In der Ecke weint eine syrische Schülerin, der Platz neben ihr ist leer. Der Lehrer steht vorne, weiß nicht was er sagen soll. Die Klasse starrt das schluchzende Mädchen an. Irgendwann dreht sich eine der Mitschülerinnen zum Lehrer um. Sie nickt in die Richtung des leeren Stuhls: „Meryem ist heute Morgen von der Polizei abgeholt worden. Sie wurde abgeschoben.“ Der Lehrer beginnt mit dem Unterricht.
„Es ist besonders belastend, als Lehrer vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Die persönlichen Geschichten der Flüchtlinge sind alle auf ihre Art schockierend. Doch wie geht man als Lehrer damit um? Nie weiß man ganz genau was mit den Jugendlichen passiert ist. Haben sie Familienangehörige verloren? Wie lange sind sie geflohen? Wo sind sie in Deutschland untergebracht? Da ist es leicht die Distanz zu verlieren, “ sagt Mascher. Er ist selbst Vater, nimmt viele Geschichten mit nach Hause. „Die Schicksale meiner Schüler beeinflussen schon meinen Alltag. Das Nachdenken hört ja nicht auf, wenn die Schulglocke klingelt.“
Psychologische Situationsanalyse: Lehrkräfte werden auf der emotionalen Ebene kaum auf die hohe Belastung vorbereitet, mit der sie hinsichtlich der Flüchtlingskrise konfrontiert werden. Im Unterricht ist die Lehrkraft plötzlich mit schweren Traumata, Schlafstörungen der Schüler und damit Unaufmerksamkeit oder einem erhöhten Aggressionspotential konfrontiert. Dazu kommt, dass sich emotionale Reaktionen der Schüler meist in anderen Dimensionen abspielen –die Lehrkraft ist hilflos.
Ein großer Teil der Arbeit einer Lehrkraft ist desweiteren die Kommunikation mit den Eltern. Doch auch das ist in einer Internationalen Förderklasse nicht zu leisten. Die Sprachbarriere behindert den Austausch über mögliche Probleme zu Hause, versagt auch potentielle Hilfe für die Schüler. Der Lehrer kann sich kein Bild von den Familienverhältnissen machen, die Schüler nicht einschätzen.
Dabei spielt die Distanzlosigkeit eine große Rolle. Was die Schüler an Problemen mit in das Klassenzimmer bringen, nimmt der Lehrer abends mit nach Hause. Die Folge: Die Lehrkraft reagiert nun auch im Privatleben schneller gereizt und übersensibel. Alltagsprobleme werden zu einem scheinbar unüberwindbaren Stressor. Auf derartigen chronischen Stress reagier Lehrkräfte unter anderem mit Ärger und Frustration, Depression, psychischen Symptomen, wie zum Beispiel Kopfschmerzen oder Schlaflosigkeit und einer wahrnehmbaren Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls (Bohnert, 2016).
Fazit
Der schulische Alltag mit jugendlichen Flüchtlingen birgt Herausforderungen, die häufig mit einer psychischen Belastung bei Lehrerinnen und Lehrer einhergeht. Lehrkräfte, insbesondere Berufsschullehrer, stoßen auch durch die angewachsende Zahl der schulpflichtigen Geflüchteten an ihre Belastungsgrenze. Die Lehrer müssen von ihren Arbeitgebern, den Ländern, unterstützt werden. Die Lehrkräfte sollten im Umgang mit Geflüchteten Jugendlichen entsprechend geschult werden und es muss für ausreichendes Lehrerpersonal gesorgt werden. Zudem ist zu fordern, dass die Länder in den Schulen ein Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) einführen, so dass, einem Gesamtkonzept folgend, Prävention und Gesundheitsförderung die Lehrergesundheit nachhaltig stärkt.
Literatur
Bohnert U: Belastung bei Lehrkräften – Regelschulen und Klinikschulen im Vergleich. Institut für Psychologie. Pädagogische Hochschule Karlsruhe. 2016.
Fußnoten
1Name ist der Redaktion bekannt
Weitere Infos
Landesprogramm Bildung und Gesundheit: „Gesundheitsressourcen“ im Lehrerberuf
Beschulung von Geflüchtetenund anderen Kindern und Jugendlichen in vergleichbaren Lebenssituationen
https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Integration/Gefluechtete/index.html
Autor
Dipl.-Psych. Ingo Zimmermann
Fachpsychologe für klinische Psychologie, Psychologischer Berater bei Medical Contact AG,
Gesundheitscoaching für GKV, PKV und Unternehmen
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