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Nutzung der Herzschlagfrequenz und der Herzfrequenzvariabilität in der Arbeitsmedizin und der Arbeitswissenschaft

S. Sammito1,2

B. Thielmann1

R. Seibt3

A. Klussmann4

M. Weippert5

I. Böckelmann1

1 Vorbemerkung

Die vorliegende Leitlinie ist eine Zusammenführung und grundlegende Überarbeitung der letztmalig im Jahr 2005 aktualisierten Leitlinie „Nutzung der Herzschlagfrequenz bei arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen“ (AWMF 002-012, Autoren: Frauendorf H, Pfister EA, Wirth D) [81] und der im Jahr 2006 letztmalig aktualisierten Leitlinie „Herzrhythmusanalyse in der Arbeitsmedizin“ (AWMF 002-021, Autoren: Pfister EA, Böckelmann I, Rüdiger H, Seibt R, Stoll R, Vilbrandt R) [197]. Seit der Entstehung dieser Leitlinien sind für die Erfassung und Analyse der Herzschlagfrequenz und Herzfrequenzvariabilität1 Weiterentwicklungen zu verzeichnen, weshalb dem „Forum Arbeitsphysiologie“ der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) und der Gesell-schaft für Arbeitswissenschaft e. V. (GfA) eine Überarbeitung dieser beiden Leitlinien notwendig erschien. Aufgrund ähnlicher Erfassungs-methoden für diese beiden physiologischen Parameter wurden beide Leitlinien unter Wegfall der Herzrhythmusanalyse zusammengelegt.

Diese Leitlinie wurde für den arbeitsmedizinischen bzw. ‑wissenschaftlichen Einsatz in Praxis und Forschung entwickelt, um die Einschätzung von Belastungen und die Beurteilung von Gefährdungen am Arbeitsplatz durch objektive physiologische Beanspruchungsparameter zu vervollständigen. Die Leitlinie gibt einen Überblick über die Einflussfaktoren auf die Regulation von Herzschlagfrequenz und Herzfrequenzvariabilität in Ruhe und unter den Bedingungen von Arbeitsbelastungen. Sie zeigt methodische Möglichkeiten der Messung im Labor und unter realen Arbeitsplatzbedingungen auf. Dabei werden ausgewählte Messmethoden und Anwendungsgebiete sowie Maßnahmen zur Qualitätssicherung bei der Erfassung und Auswertung der Herzschlagfrequenz und der Herzfrequenzvariabilität beschrieben.

2 Einleitung

Die Herzschlagfrequenz gibt Informationen über die Beanspruchung des Herzkreislaufsystems als Reaktion auf Belastungen. Die Herz-frequenzvariabilität liefert zusätzliche Informationen über die Mechanismen der Herzkreislaufregulation [113]. Diese beiden physiologischen Parameter sind seit Jahren aufgrund der nichtinvasiven, komfortablen Mess- und Analysetechnik, der Auswertung und der Anwendung in der stationären und ambulanten Versorgung (u. a. Kardiologie, Intensivmedizin, Endokrinologie, Neurologie, Arbeits-, Sport- und Geburtsmedizin) sowie in den verschiedenen Forschungs-bereichen der Medizin und Naturwissenschaften (u. a. Arbeitsphysio-logie, Sportphysiologie, Arbeitswissenschaft, Psychologie und Pharmakologie) etabliert.

Die bis Ende des 20. Jahrhunderts eingesetzte Aufzeichnung über Holter-Bandsysteme wurde im Zuge des technologischen Fortschritts durch Festspeichersysteme ersetzt. Aufgrund der damit einhergehenden Qualitätsverbesserung für die Aufzeichnung der Herzaktionen und die Auswertung der HRV [146] wird im weiteren Verlauf nicht mehr auf diese Bandsysteme eingegangen.

3 Definitionen

Als Herzschlagfrequenz (Hf) wird die Anzahl der Herzaktionen während einer Minute bezeichnet. Sie lässt sich auch aus dem Quotienten aus 60 000 und dem mittleren NN-Intervall2 in Millisekunden berechnen. Die Hf spiegelt die individuelle Herzkreislaufbelastung wider und wird durch unterschiedliche Faktoren (s. Abschnitt 7) beeinflusst. Sie ist zu unterscheiden von der Pulsfrequenz, die als Anzahl der Pulswellen pro Minute definiert ist und peripher erfasst wird (z. B. am Handgelenk, am Hals). Ein Unterschied zwischen beiden ist möglich, weil es bei bestimmten Formen von Herzrhythmusstörungen zu ineffekti-ven Herzkontraktionen kommt, die zu einem nicht messbaren Pulsschlag führen. Eine Differenz zwischen Hf und Pulsfrequenz wird als Pulsdefizit bezeichnet.

Die normale Ruheherzschlagfrequenz (HfRuhe) des Erwachsenen liegt zwischen 60 und 80 Schlägen/min (S/min), bei Kindern ist sie i. d. R. höher (bis 120 S/min). Bei ausdauertrainierten Personen können in Ruhe Werte deutlich unterhalb von 50 S/min gemessen werden.

Durch Belastungen kann die Hf bis zu einem Maximum ansteigen. Dieses Maximum wird überwiegend vom Lebensalter bestimmt und nimmt mit zunehmendem Alter ab. Die häufig verwendete Faust-formel zu Abschätzung der maximal erreichbaren Hf (Hfmax) lautet [79]:

Hfmax = 220 – Lebensalter.

Sie unterschätzt jedoch die Hfmax bei Personen oberhalb des 40. Lebens-jahres [249]. Basierend auf einer Metaanalyse sowie eigenen Untersuchungen ermittelten Tanaka et al. [249] eine Regressionsformel zur Abschätzung der altersbezogenen maximalen Hf:

Hfmax = 207 0,7 × Alter,

wobei auch hier geschlechtsspezifische Unterschiede nicht berücksichtigt werden [96, 249]. Zur Bestimmung der individuellen Hfmax ist eine Ausbelastung bei allgemeiner dynamischer Muskelarbeit notwendig, z. B. im Rahmen einer Laufband- oder Fahrradergometrie [244]. Ob Laufband oder Fahrrad richtet sich auch nach den spezifischen Belastungen des Probanden. Deshalb kommen evtl. auch andere Geräte wie das Handkurbelergometer in Betracht.

Als Indikator für den Trainingszustand der Person wird in der Sport-physiologie häufig der Hf-Wert verwendet, der nach einer Minute Erholung nach Ende der maximalen Belastung im Rahmen einer (Arbeits‑)Belastung festgestellt wird. Er zeigt die schnelle regulative Phase der Erholungsfähigkeit an und wird als Erholungsherzschlagfrequenz (HfErholung) bezeichnet.

Insbesondere im Bereich der Arbeitsmedizin und Arbeitswissen-schaft wird bei der Analyse der Beanspruchung, z. B. zur Beurteilung von körperlicher Arbeit, die Arbeitsherzschlagfrequenz3 (HfArbeit) betrachtet. Die HfArbeit ist definiert als Differenz zwischen der HfRuhe und dem während einer Belastung gemessenem Wert [93, 106, 108]. Gelegentlich wird diese auch als Nettoherzschlagfrequenz bezeichnet [253]. Der so ermittelte Wert korreliert dann besser als die Hf mit der Arbeitsbelastung, wenn es möglich ist, vor Aufnahme der Arbeit eine Ruhephase von mindestens fünf, idealerweise 15 min, ohne körperliche und emotionale Belastung einzuhalten. Während das im Labor eine unbedingte Voraussetzung sein sollte, kann es möglich sein, dass bei Messungen am Arbeitsplatz vor Beginn einer Arbeitsschicht diese Bedingungen nicht einzuhalten sind. Dann bildet die Hf insbesondere bei körperlichen Belastungen sicherer die reale Beanspruchung ab als die auf einer erhöhten Ruhefrequenz basierende HfArbeit. Alternativ kann auch die Bezugs-herzschlagfrequenz bei leichter dynamischer Arbeit bestimmt werden (s. Abschnitt 5.2).

Als Maß für die Ermüdung und die Erholung wird in der Arbeits-medizin und Arbeitswissenschaft zudem häufig die Erholungsherzschlagsumme ermittelt, um die individuellen körperlichen Belastungen zu beschreiben [185]. Hierbei werden die Herzschläge zusammengezählt, die in der Erholungsphase (nach Beendigung der Belastung bis zum Erreichen des Ausgangswertes, z. B. der HfRuhe) oberhalb des Ausgangswerts liegen.

Der Begriff Herzfrequenzvariabilität (HRV) vereint eine Vielzahl von mathematisch berechneten Parametern, welche die Varianz, Rhythmik oder Komplexität einer Zeitreihe von aufeinander folgenden Herzaktionen – den sog. NN-Intervallen – kennzeichnet. Aufgrund der besseren Erfassung im Rahmen der automatischen Detektierung wird in der Regel die R-Zacke anstelle der P-Welle als Zeichen der Aktivität des Sinusknoten genutzt ( Abb. 1). Eine aus-führliche Auflistung der häufig verwendeten Parameter findet sich in Abschnitt 6.

4 Physiologische Mechanismen

4.1 Physiologische Mechanismen der Hf

In Ruhe wird das Herz vom primären Taktgeber bzw. Erregungs-bildungszentrum, dem Sinusknoten, angetrieben. Die Eigenfrequenz des nichtinnervierten Sinusknotens wird unterschiedlich angegeben und beträgt je nach Literaturquelle 60 bis 80 Schläge pro Minute (S/min) [198, 266], bei Kindern üblicherweise mehr [101, 128]. Alle nachgeordneten, ebenfalls zur Spontandepolarisation fähigen Schritt-machergewebe (AV-Knoten, His-Bündel, Purkinje-Fasern) weisen geringere Eigenfrequenzen auf. Die autonome Modulation der Hf durch den Sympathikus und den Parasympathikus (Vagus) wird primär über den Sinusknoten vermittelt. Diese zweizügige Führung des autonomen Nervensystems wurde in verschiedenen Blockade-versuchen gezeigt: Sympathikusblockade mittels Propranolol und Vagusblockade mittels Atropin [66, 129, 130].

4.2 Physiologische Mechanismen der HRV

Die Hf ist auch bei konstanter Belastung einer physiologischen Variabilität unterworfen, die unter anderem das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus (Vagus) widerspiegelt. Das vegetative Nervensystem führt mit seinem sympathischen Anteil über die Noradrenalinfreisetzung zu einer reduzierten Herzfrequenz-variabilität und mit seinem parasympathischen (vagalen) Anteil über die Acetylcholinfreisetzung zu einer Erhöhung der HRV [62].

Unter Ruhebedingungen und bei geringer Belastung überwiegt die parasympathische (vagale) gegenüber der sympathischen Steuerung. Das führt zu einer höheren Variabilität des Herzrhythmus: Die Unter-schiede in den Abständen zwischen zwei aufeinander folgenden Herz-aktionen nehmen zu.

Die HRV-Analyse dient insbesondere dazu, dieses Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus bei unterschiedlichen Anforderungen differenzierter abschätzen zu können. Dabei lässt sich die autonome Aktivität vor allem durch die Analyse rhythmischer Schwankungen der Herzschlagfolge quantifizieren. Schnelle Änderungen der Hf mit einer Zyklusdauer von etwa 2–7 Sekunden sind eng mit der Atmung assoziiert (Respiratorische Sinusarrhythmie [RSA]). Diese hochfrequenten Schwankungen werden fast aus-schließlich über den parasympathischen Zweig des autonomen Nervensystems (N. vagus) moduliert; langsame Schwankungen (Zyklus-dauer etwa 10 Sekunden) dagegen sowohl durch sympathische als auch parasympathische Efferenzen [16]. Letztlich muss bei der Inter-pretation von Hf und HRV immer berücksichtigt werden, dass beide Parameter zwar primär das Endergebnis der Wirkung autonomer kardialer Efferenzen darstellen, aber darüber hinaus auch andere modulierende Faktoren wie körperliche Belastung, Hitze und weitere Umweltbedingungen Einfluss besitzen.

Der vagale Ruhetonus ist umso höher, je besser das Herz an die Bewältigung hoher physischer Belastungen angepasst ist, weshalb Trainierte (z. B. Ausdauersportler) neben einer geringeren HfRuhe i. d. R. eine höhere HRV haben.

5 Erfassung der NN-Intervalle für die Berechnung der Hf und der HRV

5.1 Technische Möglichkeiten und Voraussetzungen

Zur Erfassung der Abstände zwischen zwei normalen Herzaktionen stehen verschiedene Messsysteme zur Verfügung: Stationäre EKG-Geräte – besser geeignet für Laboruntersuchungen bzw. im intensiv-medizinischen Bereich – und mobile Messsysteme, die in Felduntersuchungen einsetzbar sind. Zu den mobilen Messsystemen gehören 24-h-EKG-Geräte und Brustgurtsysteme mit direkter Speicherung bzw. Speicherung auf einem ex-ternen Datenmodul (z. B. separate Pulsuhr).

Für die HRV-Analyse ist eine sog. „Beat-to-beat-Aufzeichnung“ mit Erfassung aller Herzaktionen und hoher Abtastrate (idealer-weise 1000 Hz) sinnvoll, um die Abstände zwischen den einzelnen Herzaktionen mit hoher zeitlicher Genauigkeit zu erfassen.

Darüber hinaus sollten eingesetzte Ge-räte folgende Voraussetzungen erfüllen:

  • Nichtinvasivität,
  • mechanische Robustheit (vor allem bei Felduntersuchungen an Arbeitsplätzen mit körperlicher Schwerarbeit bzw. Umgebungsbedingungen wie Hitze, Nässe, Kälte usw.) und
  • Rückwirkungsfreiheit (das Verfahren darf das Messergebnis selbst nicht beeinflussen).

Die Vor- und Nachteile einzelner Messsysteme sind in  Tabelle 1 zusammengestellt.

5.2 Elektroden

Um Fehler bei der Messung zu vermeiden, sollten

  • Klebeelektroden verwendet werden, die auch über einen langen Erfassungszeitraum von 24 Stunden und bei entsprechender Schweißproduktion der untersuchten Person ohne Hautkontakt-verlust einsetzbar sind,
  • die Elektroden am Brustgurt (Abnahmestellen) befeuchtet sein,
  • ein guter Sitz des Brustgurtes garantiert sein und
  • ein textiles Gurtband bevorzugt werden, da es sich optimal an die individuelle Oberkörperform anpasst.

5.3 Vorbereitung der Haut

Um ein optimales Messergebnis auch über einen längeren Zeitraum (24 h) zu erzielen, muss die Haut sorgfältig vorbereitet werden. Bei einem hochohmigen Haut-Elektroden-Kontakt ist die Qualität der Aufzeichnung geringer und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Artefakten erhöht.

Die Hautvorbereitung hat das Ziel, den Fettfilm der Haut zu ent-fernen, um den Elektroden-Haut-Übergangswiderstand zu vermindern und eine bessere Haftung der Elektroden zu ermöglichen. Die Haut wird am vorgesehenen Elektrodensitz mit hautverträglicher, fettlösender Flüssigkeit (z. B. Alkohollösung) abgerieben. Oberstes Prinzip ist jedoch, die Haut nicht zu beschädigen oder zu verletzen. Bei Brusthaarwuchs ist ggf. eine sorgfältige Entfernung der Behaa-rung an den entsprechenden Klebestellen vor Anbringen der Klebeelektroden notwendig. Eine zusätzliche Fixierung der Elektroden und der Elektrodenkabel (Pflaster) erhöht die Haftdauer und verhindert das schnelle Abreißen der Elektroden bzw. der Kabelendstücke.

5.4 Auswahl der Ableitung und Positionierung der Elektroden

Es sollte die EKG-Ableitung mit der größten Amplitude der R-Zacke des QRS-Komplexes ausgewählt werden (vgl. Abb. 1). Prinzipiell ist die Aufzeichnung einer Ableitung ausreichend, allerdings sollten zur besseren Artefaktkorrektur mehrere Ableitungen gewählt werden.

Bei einer automatischen NN-Intervall-Bestimmung ist darauf zu achten, dass bei der R-Zacken-Detektion nicht zwischen unterschiedlichen Ableitungen „gesprungen“ wird. Dies kann zu einer fälschlich gemessenen Erhöhung der HRV führen, da der Zeitpunkt der ermittelten R-Zacke zwischen unterschiedlichen Kanälen relevant variieren kann. So ist der Zeitpunkt des Beginns des QRS-Komplexes in den meisten Ableitungen von Mehrkanalsystemen nahezu identisch, nicht jedoch der Zeitpunkt des Auftretens der R-Zacke, der als Grundlage für die NN-Intervallbestimmung dient [88, 267].

Die Positionierung der Elektroden beeinflusst die Qualität der Aufnahme. Bei ungeeigneter Positionierung der Elektroden kann es zur Häufung von Artefakten kommen, was sich negativ auf die Qualität der Aufnahme auswirkt. Geeignete Stellen für die Positio-nierung der Elektroden sind die Interkostalräume. Hierbei sollten möglichst glatte Hautstellen ausgewählt werden (z. B. keine er-habenen Muttermale).

5.5 Qualitätssicherung bei der Erfassung der Hf

Zur Qualitätssicherung sollten folgende Aspekte unter dem Gesichts-punkt der Praktikabilität berücksichtigt werden:

  • die Bestimmung der HfRuhe4 vor Beginn einer Belastung als Basis der Auswertungen (s. Abschnitt 8.2),
  • eine Artefaktkontrolle und ggf. -bereinigung (z. B. durch visuelle Kontrolle der Daten im Rahmen der Analysen, automatische Artefaktkorrekturverfahren),
  • eine möglichst hohe Abtastrate (bei der Wahl des Messgerätes sollte ein Gerät mit einer Abtastfrequenz von idealerweise 1000 Hz, d. h. Millisekunden genaues Abtasten des EKG-Signals, ver-wendet werden),
  • die möglichen Einflussfaktoren je nach Fragestellung (s. Tabelle 3) und
  • die Beachtung der zirkadianen Rhythmik bei vergleichenden Unter-suchungen.

5.6 Qualitätssicherung bei der Erfassung der HRV

Zur Qualitätssicherung sollten folgende Aspekte unter dem Gesichts-punkt der Praktikabilität berücksichtigt werden:

  • die Ableitung eines Ruhe-EKGs vor der Analyse der HRV, um Herzrhythmusstörungen (z. B. Vorhofflimmern) auszuschließen,
  • Aufzeichnungen mit mehr als 1 % von ventrikulären bzw. supra-ventrikulären Extrasystolen sollten aufgrund der scheinbaren Erhöhung der HRV kritisch begutachtet werden [214],
  • eine Artefaktkontrolle und ggf. -bereinigung (z. B. durch visuelle Kontrolle der Daten im Rahmen der Analysen, automatische Artefaktkorrekturverfahren),
  • die Wahl der Analysemethode (z. B. Fast-Fourier-Transformation, Autoregressives Modell, trigonometrisch regressive Spektralanalyse), um vergleichende Interpretationen zu ermöglichen (s. Abschnitt 6),
  • die gewählte Messdauer (später Länge der Analysesequenz) bzw. die zu Grunde gelegte Datenmenge je nach gewählter Analysemethode bzw. Fragestellung ( Tabelle 2),
  • eine möglichst hohe Abtastrate (bei der Wahl des Messgerätes sollte ein Gerät mit einer Abtastfrequenz von idealerweise 1000 Hz, d. h. Millisekunden genaues Abtasten des EKG-Signal, verwendet werden),
  • die möglichen Einflussfaktoren je nach gewählter Analysemethode bzw. Fragestellung (s. Tabelle 3) und
  • die Beachtung der zirkadianen Rhythmik bei vergleichenden Untersuchungen.

Im Rahmen von Kurzzeitmessungen (Aufzeichnungen kleiner als 1 Stunde) ist die Auswahl eines geeigneten, repräsentativen Bereichs der NN-Intervalle zur HRV-Analyse ein wichtiges Kriterium zur Qualitätssicherung. Hierbei sollten nichtstationäre Einschwingphasen zu Beginn der Untersuchung und Aufzeichnungen mit Artefakten möglichst nicht zur Analyse genutzt werden ( Abb. 2).

5.7 Weitere Störquellen

Insbesondere bei Verwendung von Brustgurtsystemen mit Funkübertragung zu einer separaten speichernden Uhr in der Nähe elek-tromagnetischer Felder von Strommasten und -leitungen [113] sowie beim Einsatz in Fahrzeugen und deren Umgebung [215, 216] sind diese hoch störanfällig. Bei körperlicher Aktivität der untersuchten Person kann es zu Artefakten durch Bewegung und durch elektrische Aktivität anderer Muskeln kommen. Bei einer EKG-Aufzeichnung kann dies im Anschluss an die Aufzeichnung entdeckt und manuell entfernt werden, während bei einer Datenerfassung ohne EKG-Aufzeichnung (wie bei den meisten Brustgurtsystemen) keine Zuordnung der Bewegungsartefakte möglich ist.

6 Analyseverfahren und Parameter der HRV

Die Quantifizierung der HRV kann mittels Methoden des Zeit- und Frequenzbereichs sowie mit Methoden der nichtlinearen Analyse erfolgen ( Abb. 3).

Analysen des Zeitbereichs sind in statistische und geometrische Methoden unterteilt. Während bei den statistischen Methoden die NN-Intervalle mathematisch hinsichtlich ihrer Varianz ausgewertet werden und die Rhythmusmaße mit einer Zeitdimension oder Prozentangabe versehen sind, wird die HRV bei den geometrischen Methoden anhand von geometrischen Formen bewertet. Hierzu werden z. B. Balkendiagramme, HRV-Dreiecksindizes und seine Modifikationen, dreieckige/dreischenklige Interpolationen des NN-Intervall-Balkendiagramms verwendet [20].

Zu den Analysen des Frequenzbereichs zählen die Verfahren der Fast-Fourier-Transformation, der Autoregression [35], das Zero-Crossing-Verfahren [9], die Wavelet-Analyse [9] und die trigonometrisch regressive Spektralanalyse (TRS) [212, 213]. Insbesondere die Fast-Fourier-Transformation und die Autoregression zählen zu den am weitesten verbreiteten Methoden. Hierbei werden die rhythmischen und nichtrhythmischen Schwankungen der NN-Intervallreihen im Rahmen einer Spektralanalyse in frequenzabhängige Oszillationen umgewandelt. Dadurch ist es möglich, die NN-Intervallreihen und die periodischen Oszillationen des Herzschlages in verschiedene Frequen-zen und Amplituden aufzuspalten, die wiederum verschiedene physio-logische Prozesse bzw. verschiedene Regelsysteme abbilden [213].

In einigen Fällen wird zur Analyse bei unterschiedlichen Aufzeichnungslängen auch der Lomb-Algorithmus benutzt. Dieser stellt ein Spektralanalyseverfahren von nichtäquidistant abgetasteten Mess-werten dar [168]. Der Lomb-Algorithmus ist eine sehr langsame Technik, jedoch sind Näherungsverfahren etabliert, die die Durchführung des Lomb-Algorithmus deutlich beschleunigen [202].

Die TRS Technik von Rüdiger et al. [213] beruht auf dem gleichen mathematischen Grundprinzip, allerdings arbeitet dieser Algorithmus wesentlich effektiver (und ohne Näherungslösungen), da nicht jede Frequenz im Periodogramm berechnet werden muss, sondern nur die Frequenzen, die einen wesentlichen Beitrag zur Varianzreduzierung darstellen.

Die Methoden der nichtlinearen Dynamik (z. B. Approximierte Entropie [ApEn], Sample Entropy [SampEn], Detrended Fluctuation Analysis [DFA]) [175, 241, 264] unterscheiden sich von den traditionellen Zeit- und Frequenzparametern darin, dass sie nicht die Stärke der HRV widerspiegeln, sondern eher qualitative Aspekte der NN-Zeitreihe erfassen [175]. Oftmals sind diese Methoden sowohl für Langzeit- als auch für Kurzzeitaufzeichnungen geeignet und robust gegen Artefakte.

Eine Form der Visualisierung von NN-Intervall Zeitreihen bietet der so genannte Poincaré-Plot5 (vgl. Abb. 3). Aus der so dargestellten Punktwolke lassen sich verschiedene Indizes (z. B. Länge und Breite der Punktwolke) ermitteln und interpretieren, aber auch die Form kann Aufschluss über bestimmte Krankheitsbilder liefern [221].

Eine detaillierte Auflistung der HRV-Parameter ist in Tabelle 2 zusammengefasst.

7 Einflussfaktoren der individuellen Hf und HRV

Hf und HRV werden unabhängig von der akuten Belastung durch zahlreiche veränderbare und nicht veränderbare Faktoren beeinflusst. Wesentliche Einflussfaktoren für arbeitsmedizinische und arbeitswissenschaftliche Fragestellungen werden in  Tabelle 3 beschrieben. Der Kenntnis dieser Faktoren kommt eine besondere Bedeutung bei der Bewertung und Beurteilung der Hf und HRV zu. Darüber hinaus sind in der Literatur weitere Faktoren und Erkrankungen bekannt, die jedoch für die Arbeitsmedizin und Arbeitswissenschaft weniger bedeutsam sind (z. B. HRV beim Vorliegen einer intensivmedizinisch zu behandelnden Sepsis), so dass auf die weitere Erwähnung dieser Faktoren verzichtet wird.

Auch Medikamente mit Einfluss auf das autonome Nervensystem bzw. auf das Herzreizleitungssystem sind als externe beeinflussende Faktoren bei der Bewertung und Beurteilung der Hf und der HRV zu beachten. Aufgrund der Vielzahl möglicher pharmakologischer Interaktionen seien hier nur beispielhaft die Gruppen der Betablocker (Reduzierung der Hf, langfristig keinen Einfluss auf die HRV), ACE-Hemmer (je nach Medikament Reduzierung der HRV), Antiarrhythmika (kann zu einer Erhöhung der HRV führen) und Psychopharmaka (je nach Medikament Reduzierung der HRV) genannt [69].

8 Auswertung und Interpretation von Hf und der HRV

Um die Ergebnisse von Hf- und HRV-Analysen bewerten und inter-pretieren zu können, ist es unerlässlich, im Vorfeld der Untersuchun-gen die konkrete Fragestellung, die eingesetzte Methode der Daten-erfassung und die Auswertungsstrategie aufeinander abzustimmen. Des Weiteren sind die Hf- und HRV-Parameter als Beanspruchungs-daten konkreter belasteter Personen im individuellen, psychophysio-logischen und arbeitsplatzbezogenen Gesamtkontext zu betrachten (vgl. Tabelle 3) und ggf. mit ergänzenden Methoden (u. a. Frage-bögen zur subjektiven Beanspruchung, zum Stresserleben und dem Gesundheitszustand) zu kombinieren. Zeitgleich sollte möglichst die Erfassung von physikalischen Arbeitsplatzbedingungen wie Lärm, Temperatureinflüssen etc. erfolgen.

8.1 Herzschlagfrequenz (Hf)

Wesentliche Einflussgrößen für die Hf sind vor allem dynamische Belastungen großer Muskelgruppen, aber auch statische Muskelbelastungen, die thermische sowie die psychische Belastung [56, 57]. Diese Einflussgrößen wirken gemeinsam auf das Herzkreislaufsystem und führen bei erhöhten Belastungen zu entsprechend er-höhten Werten für die Hf. So untersuchten z. B. Hettinger et al. [107] die Einflüsse bei unterschiedlicher Muskel-, Temperatur- und Wärme-strahlungsbelastung. Eine Separierung der Einzelanteile ist so nur unter kontrollierten Bedingungen möglich. So darf z. B. die Hf bei einer dynamischen Arbeit, bei der größere Muskelgruppen eingesetzt werden, nur dann für die Abschätzung des Energieumsatzes herangezogen werden, wenn die Anteile an statischen Muskelbelastungen ebenso wie die psychischen Belastungen vernachlässigbar sind und neutrale thermische Bedingungen bestehen [56].

8.2 Ruheherzschlagfrequenz (HfRuhe)

Für die Interpretation von gemessener Hf unter Arbeitsbelastungen stellt die HfRuhe einen bevorzugten Ausgangswert dar (s. Abschnitt 5.5). Hierbei gilt es, Aufnahmebedingungen (u. a. Position der Person, Dauer der Aufnahme) bei Vergleichen mit Referenzwerten zu beachten. Erhöhte und reduzierte HfRuhe können mit kardiologischen Erkrankungen assoziiert sein [50, 272]. Personen mit einer tachykarden oder einer bradykarden HfRuhe unter Berücksichtigung der Einflussfaktoren (s. Abschnitt 7) sollten ggf. ärztlich, vorzugsweise internistisch-kardiologisch untersucht werden.

Da die Ermittlung der HfRuhe in Feldstudien häufig Schwierigkeiten bereitet (Einfluss psychischer Faktoren, Umgebungsbedingungen wie Lärm etc., die nur schwierig zu kontrollieren sind), empfehlen Hettinger und Wobbe [107] die Ermittlung einer Bezugsherzschlagfrequenz (HfBezug) bei leichter dynamischer Arbeit (z. B. 20 Watt auf einem Fahrradergometer für 10 min). Infolge der auch von den Probanden als sehr leicht empfundenen Arbeit wird der „psychische Herzschlag“ weitgehend ausgeschaltet und der Einfluss der individuellen Leistungsfähigkeit ist wegen der geringen Belastung wenig ausgeprägt. Bei Männern erwartet man durch diese Belastung eine Steigerung der Hf um ca. 18,5 S/min, bei Frauen um etwa 24,5 S/min gegenüber dem Ruhewert im Liegen bei relativ geringer individueller Schwankungsbreite [107].

8.3 Maximale Herzschlagfrequenz (Hfmax)

Die Hfmax dient als Ausbelastungskriterium und sollte mittels eines standardisierten Belastungsprotokolls erhoben werden [252]. Die am weitesten verbreiteten Methoden stellen hierbei die Laufbahn- und die Fahrradergometrie dar. Die optimale Motivation zum Erbringen der maximalen Leistung und die Beachtung von Abbruchkriterien sind wesentliche Voraussetzungen zur Bestimmung der Hfmax. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass neben Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht und aktuellem Trainingszustand [96] sowie einiger bradykardisierender Medikamente [244] die ermittelte Hfmax wesentlich von der eingesetzten Muskelmasse abhängt.

Eine Interpretation der Hf zur Abschätzung der kardialen Beanspruchung der zu untersuchenden (Arbeits-)Belastung erfolgt sinnvollerweise in Bezug zur gemessenen HfRuhe und der individuell mittels standardisiertem Belastungsprotokoll gemessen Hfmax bzw. errechneten Hfmax (s. Abschnitt 3). Hier deutet eine während der (Arbeits-)Belastung gemessene Hf in der Nähe der Hfmax auf eine hohe kardiale Beanspruchung hin. Je nach eingesetzter Muskelmasse kann die (Herzschlagfrequenz-)Dauerleistungsgrenze zur Interpretation noch hinzugezogen werden (s. Abschnitt 8.5).

8.4 Erholungsherzschlagfrequenz (HfErholung)

Zur Abschätzung der Erholungsfähigkeit des kardiovaskulären und metabolischen Systems kann die HfErholung genutzt werden. Sie korre-liert hoch mit der Funktion des parasympathischen autonomen Nerven-systems [122] und nimmt nach Belastungsende exponentiell ab. Als wesentliche Einflussfaktoren bestimmen Belastungsintensität, -dauer, -methode, initialer Leistungszustand und Art der Erholung den zeit-lichen Verlauf der Wiederherstellung der Vagusaktivität [245–247].

8.5 (Herzschlagfrequenz-)Dauerleistungsgrenze

Die Dauerleistungsgrenze (DLG) bei körperlicher Arbeit ist die maximale körperliche Arbeit, die über eine Arbeitsschicht (ca. 8 Stunden) ohne fortschreitende Ermüdungserscheinung geleistet werden kann und bei der die messbaren physiologischen Parameter nach Beendigung der Belastung etwa nach 15 Minuten den Ausgangswert wieder erreicht oder unterschritten haben [253]. Insbesondere in der Arbeitswelt kann die DLG zur Identifikation von muskulär ermüdungsfreier physischer Belastung (unterhalb der DLG) und muskulär ermüdender physischer Belastung (oberhalb der DLG), jeweils bezogen auf eine 8-stündige Arbeitsschicht, genutzt werden [93, 209, 220]. Zur Bestimmung der DLG können sowohl kardiale (z. B. Hf) als auch metabolische Kennwerte (z. B. Energieumsatz, Laktat) genutzt werden. Alternativ kommt die spiroergometrische Bestimmung (z. B. 40 % der maximalen Sauerstoffaufnahme) in Betracht. Vor allem die Hf eignet sich als leicht zu erhebender kardialer Parameter zur Erfassung der kardiopulmonalen Beanspruchung. Bei allgemeiner dynamischer Belastung liegt die Dauerleistungsgrenze etwa im Bereich von 105–110 S/min, bzw. alternativ bestimmt bei HfRuhe + 30–35 S/min [253]. Zu beachten ist, dass, wie bei der individuellen HfRuhe und Hfmax, auch die zur Abschätzung der DLG genutzte Hf individuellen Unterschieden unterliegt, die sich unter anderem durch das Alter und den Grad der körperlichen Fitness erklären lassen.

Unterhalb der DLG zeigt die Hf mit zunehmender Arbeitsschwere eine lineare Zunahme. Bei einer leichten Arbeit mit zeitlich konstanter Leistung erreicht die Hf innerhalb kurzer Zeit (wenige Minuten) eine annähernd gleichbleibende Auslenkung („steady state“). Dieses „steady state“ kann prinzipiell über die gesamte 8-stündige Arbeitsschicht beibehalten werden ( Abb. 4).

Kurzfristige geringe Überschreitungen der DLG (z. B. Hf um 130–140 S/min) sind im Arbeitsleben nicht außergewöhnlich und in der Regel ohne Gesundheitsrisiko. Bei dauernder physischer Belastung mit einer Hf > 130 S/min wird die muskuläre Ermüdung nach Belastungsende durch vorgesehene Pausen wieder abgebaut. Ermüdende Tätigkeiten sind zeitlich umso mehr zu begrenzen, je intensiver die körperliche Belastung ist und je mehr der Zustand der Erschöpfung erreicht wird, d. h. je weiter die DLG überschritten ist.

Wird die DLG ständig deutlich überschritten, wird von schwerer körperlicher Arbeit oder Schwerstarbeit im energetischen Sinne gesprochen [28]. Dies führt zu zunehmender Muskelermüdung (Hinzuziehung des anaeroben Stoffwechsels), was i. A. ohne gesundheitliche Konsequenzen reversibel ist. Die Hf steigt hierbei fortlaufend weiter an und es kommt zum sog. Ermüdungsanstieg (s. Abb. 4). Gesundheitlich bedeutsam ist darüber hinaus Schwer- und Schwerstarbeit aus motorisch-biomechanischer Sicht, da am knöchernen System (Gelenke, Bandscheiben) unter bestimmten Voraussetzungen relevante Schäden entstehen können [220]. Solche Aspekte werden in dieser Leitlinie jedoch nicht weiter vertieft.

Neben der DLG wird auch die Erholungsherzschlagsumme (s. Abb. 4) als Kenngröße der individuellen körperlichen Belastungen betrachtet [185].

Es ist zu beachten, dass die Betrachtung der oben beschriebenen DLG nur sinnvoll ist, wenn die eingesetzte Muskelmasse > 1/6 der Gesamtmuskelmasse ist. Wird dagegen kleinere Muskelmassen im Rahmen dynamischen Tätigkeiten eingesetzt, ist die DLG umso niedriger, je geringer die arbeitende Muskelmasse ist, d. h. Hf, HfArbeit und Sauerstoffaufnahme weisen in diesem DLG-Bereich niedrigere Werte als bei Ganzkörperarbeit auf, so dass sie bei reiner Arm- oder Handarbeit wegen der geringen Erhöhung nicht mehr verwertbar ist [80]. Bei statischer Arbeit bzw. bei zunehmendem Anteil statischer Muskelbeanspruchung ist eine Beurteilung der Belastungsintensität mit Hilfe der DLG ebenfalls nicht möglich.

Unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsgestaltung sollten die Tätig-keiten einer speziellen Betrachtung unterzogen werden, die für ein Überschreiten des DLG-Bereichs als verantwortlich erkannt werden.

8.6 Herzfrequenzvariabilität (HRV)

Für die Berechnung der unterschiedlichen HRV-Parameter stehen mehrere Möglich-keiten zur Auswahl. Die HRV-Zeitbereichsparameter können prinzipiell über mathe-matische Funktionen in gängigen Tabellen-kalkulationsprogrammen berechnet werden. Weiterhin bieten viele Hersteller ambulanter EKG-Messgeräte Softwareprogramme an, die eine Berechnung von HRV-Parametern im Zeit- und Frequenzbereich, aber auch eine nichtlineare Analyse von NN-Intervallreihen ermöglichen. Auch stehen frei verfügbare Softwarepakete mit guter Dokumentation zur Verfügung.

Für Aussagen zum autonomen Nervensystem (s. Abschnitte 9.1 und 9.2) sollten geeignete HRV-Parameter herangezogen und mit einem für die Tätigkeit bzw. Ruhemessung geeigneten Zeitbereich erfasst bzw. analysiert werden (s. Tabelle 2). Hierbei ist zu berücksichtigen, ob primär ein Einfluss des sympathischen oder des parasympathischen autonomen Nervensystems gemessen werden soll bzw. wie lange die Erfassungszeit sinnvoll erfolgen kann.

Während für einige HRV-Parameter Langzeitmessungen obligat sind (s. Tabelle 2), bzw. die 24-h-Messung der HRV zur Gewinnung eines Gesamteindrucks des autonomen Nervensystems von Vorteil sein kann, sollten zur Beurteilung von Belastungen am Arbeitsplatz mit kurzfristigen Änderungen der Anforderungen primär HRV-Parameter mit einer Eignung für die Kurzzeitmessungen genutzt werden. Nach Belastungswechsel sollte die erste Minute nicht in die Datenanalyse einbezogen werden, da in dieser Phase Einschwingvorgänge der autonomen Regelkreise dominieren.

Aufgrund der hohen interindividuellen Variabilität und den zahlreichen exogenen und endogenen Einflussfaktoren, die im Rahmen einer Messung der NN-Intervalle zumeist nicht verändert werden können, sollte die HRV-Analyse nur in Kombination mit einer Ruhe-HRV-Analyse bzw. im Rahmen von länger andauernden Veränderungen durch Wiederholungsmessungen unter gleichen Bedingungen genutzt werden.

Derzeit lassen sich Einzelmessungen nach wie vor nur bedingt in erhöhte bzw. reduzierte HRV aufgrund des Fehlens von geeigneten alters- und geschlechtsabhängigen Normwerten unterscheiden. Die 1995 publizierten Referenzwerte in der Leitlinie der European Society of Cardiology and the North American Society of Pacing and Electrophysiology [69] sind aufgrund deutlich fortgeschrittener Erfassungs- und Auswertealgorithmen sowie aufgrund fehlender alters- und geschlechtsabhängiger Referenzwerte nur sehr begrenzt verwertbar. Nunan et al. [190] haben in einer systematischen Übersichtsarbeit, in die 44 bisher veröffentlichten Studien einbezogen wurden, altersunabhängige Mittelwerte für die 5-min-Kurzzeitmessung der gängigen HRV-Parameter angegeben ( Tabelle 4). Hierbei stellten sie geringere Mittelwerte fest, als sie 1995 in der o. g. Leitlinie publiziert wurden [69]. Jedoch sind auch die Werte von Nunan et al. [190] aufgrund des fehlenden Bezugs zum Lebensalter nur begrenzt verwertbar.

Zusammenfassend liegen derzeit keine allgemeingültigen Grenz-werte für HRV-Parameter vor. Auch sind im Moment keine generellen gesundheitsbezogenen Aussagen möglich bzw. belastbare HRV-Trennwerte für psychosoziale Belastungen bei Gesunden fehlen. Daher kann eine Interpretation von HRV-Parametern auf Grundlage einer Einzelmessung nicht erfolgen. Standardisierte Verlaufsmessun-gen (individuelle Längsschnittuntersuchungen) der HRV in Kombination mit Anamnese, klinischer Untersuchung und weiteren Instru-menten (z. B. Fragebögen) können jedoch bei der Aufklärung des individuellen Gesundheitsrisikos bzw. bei der Wirkung von präventiv-medizinischen Maßnahmen sinn- und wertvoll sein.

9 Möglichkeiten der Anwendung in der Arbeits-medizin und der Arbeitswissenschaft

Messmethoden zur Erfassung und Analyse der Hf und HRV können zur Objektivierung der Aktivität des autonomen Nervensystems ein-gesetzt werden. Im Bereich der Arbeitsmedizin und Arbeitswissenschaft ergeben sich u. a. folgende Anwendungsbereiche:

  • ergänzende Untersuchung zur Gefährdungsanalyse und -beurteilung zur Identifizierung von betrieblichen Belastungsschwerpunkten,
  • individuelle physische und psychische Beanspruchungsanalyse sowie prozessbegleitende Messungen zur Objektivierung der Beanspruchungen im Verlauf eines Arbeitstages,
  • Erfassung eines Indikators zum Gesundheitsstatus,
  • Ableitung von individuellen Handlungsempfehlungen z. B. zur Arbeitsplatzgestaltung,
  • Erfassung des Ermüdungs- und Erholungsverhaltens und
  • Evaluation arbeitsmedizinischer bzw. gesundheitsbezogener Interventionen.

9.1 Einsatz bei physischen Belastungen

Die Beurteilung der physischen Belastung mittels Hf, insbesondere bei allgemeiner dynamischer Muskelarbeit, ist lange etabliert. Der Informationsgewinn der HRV bei solchen Fragestellungen liegt in dem zumindest unter standardisierten Bedingungen nachweisbaren Zusammenhang zwischen HRV-Parametern und metabolischen und respiratorischen Beanspruchungsindikatoren, dem mehrphasigen Verlauf bei progressiver Belastungssteigerung unter standardisierten Bedingungen und dem Erholungsverhalten nach unterschiedlichen Belastungsintensitäten [51, 132]. Dies kann eine genauere Einschätzung der physischen Beanspruchungen bei gleichzeitigem Verzicht auf eine zeitaufwändige, kostenintensive, teilweise nicht ambulant verfügbare und reaktive Messtechnik ermöglichen. Von den HRV-Parametern eignen sich für die Erfassung der akuten physischen Belastung neben den Parametern der Gesamtvariabilität wie SDNN oder Total Power insbesondere die Parameter RMSSD, LF-Power und HF-Power sowie nichtlineare Indizes. Diese zeigen unter ansteigender Belastung oftmals ein zwei- oder mehrphasiges Verhalten und besitzen somit einen Mehrwert im Vergleich zum linearen Verhalten der Hf.

9.2 Einsatz bei psychischen Belastungen

Bei psychischen Belastungen finden sich ebenso Auslenkungen der Hf und der HRV, die somit als psychische Beanspruchungsindikatoren genutzt werden können. Vor allem bei den schwer messbaren psychischen Belastungen gelten Hf und HRV als Parameter der allgemeinen Aktivierung und bieten eine Möglichkeit, die vegetative Balance des Organismus zu beschreiben. Somit können über diesen Beanspruchungsparameter Rückschlüsse auf die stattgefundene psychische Belastung gezogen werden [1, 10, 67, 68, 123, 127, 133, 171, 177, 184, 192, 193, 258, 262]. Darüber hinaus lässt sich die HRV als Indikator für psychophysische Zustände des Organismus und als Indikator für Einschränkungen einer Adaptations- und Anpassungsfähigkeit für biopsychosoziale Fragestellungen einsetzen. Als HRV-Parameter für die psychischen Belastungen eignen sich RMSSD, LF, HF bzw. LFnu und HFnu, LF/HF sowie DQ und SD1. Nicht geeignet sind ULF und VLF. Für den Einsatz als Prädiktor für kognitive Leistungen ist nach den zurzeit vorliegenden Kenntnissen aus der Literatur die Ruhe-HRV-Messung jedoch in Querschnittsanalysen nicht geeignet [268].

9.3 Einsatz zur Risikostratifizierung für Herzkreislauf-erkrankungen

Die Hf und HRV eignen sich gut zur Risikostratifizierung für Herzkreislauferkrankungen [37, 38, 92, 200, 254, 259]. Erniedrigte HRV-Parameter (z. B. reduzierte SDNN) korrelieren in großen Kohortenstudien signifikant mit der Mortalität bei Patienten mit stattgefundenen Myokardinfarkten [34, 46, 120], Bypass-Operationen [155] oder einer vorliegenden Herzinsuffizienz [217]. Aus erniedrigten HRV-Parametern jedoch das Mortalitätsrisiko bei Gesunden abzuleiten, wird aufgrund der derzeit noch fehlenden Normwerte als kritisch betrachtet. Vielmehr können die so ermittelten HRV-Parameter als Ergänzung zu etablierten diagnostischen Untersuchungen und zur Verlaufsbeobachtung genutzt werden.

9.4 Einsatz bei Präventionsmaßnahmen

Vor allem hat sich die HRV als nützlicher Parameter zur Evaluierung von Präventionsmaßnahmen etabliert, wie z. B. bei Stressbewältigungskursen, Ernährungs-, Genussmittel-, Konsumumstellungen, sportlichen Betätigungen einschließlich der präventiven Überwachung vor Übertrainingssyndromen [111] und Maßnahmen zur Gewichtsreduktion, um im Längsschnittvergleich den Präventions- bzw. Interventionserfolg bei entsprechenden Maßnahmen einzuschätzen [250]. Eine Veränderung der sympathisch-parasympathischen Balance des autonomen Nervensystems hin zu einer höheren parasympathischen Grundaktivität (z. B. erhöhte SDNN oder RMSSD, erniedrigte LF/HF-Ratio) weist hierbei auf positive Auswirkungen der Präventionsmaßnahmen hin.

9.5 Einsatz beim Biofeedback

Bei der Stressbewältigung und in jüngster Zeit auch zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen werden die Hf- und HRV-Parameter im Rahmen von Biofeedbackmethoden eingesetzt, z. B. für die Objektivierung von Entspannungseffekten [55, 90, 160–162, 196]. Jedoch konnten bislang lediglich kurzfristige Effekte nachgewiesen werden. Eine Langzeitwirkung ist bisher nicht belegt worden [90, 196]. Darüber hinaus müssen für die Nutzung der kurzfristigen positiven Wirkungen der HRV-Biofeedbackmethoden geeignete und validierte Methoden zum Einsatz kommen. Mit Verweis auf die Erfassung und Auswertung der HRV ergibt sich zwangsläufig, dass Biofeedbackmethoden, die die HRV mittels Puls-oximeter oder anhand der Atemtätigkeit ermitteln, nicht als valide Messinstrumente angesehen werden können und daher nicht als HRV-Biofeedbackmethode eingesetzt werden sollten.

10 Schlussbemerkungen

Die Praxistauglichkeit der Hf- und HRV-Analysen im Rahmen von Felduntersuchungen an Arbeitsplätzen ist erwiesen. Die Analysen können für verschiedene Fragestellungen zielführend eingesetzt werden, wenn die methodischen Anforderungen erfüllt sind. Unter diesen Voraussetzungen können sie nicht nur Forschungseinrichtungen, sondern auch praktizierenden Arbeitsmedizinern und Betriebsärzten empfohlen werden, zumal kardioassoziierte Aspekte in der modernen Arbeitsmedizin im Rahmen des Wandels der Arbeitswelt und der demografischen Situation der Erwerbstätigen in Deutschland eine zunehmend größere Bedeutung erlangen.

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Die vorliegende Leitlinie ist eine Zusammenführung und grundlegende Überarbeitung der letztmalig im Jahr 2005 aktualisierten S1-Leitlinie „Nutzung der Herzschlagfrequenz bei arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen“ (AWMF-Nr. 002-012, Autoren: Frauen-dorf H, Pfister EA, Wirth D) [81] und der im Jahr 2006 letztmalig aktualisierten S1-Leitlinie „Herzrhythmusanalyse in der Arbeitsmedizin“ (AWMF-Nr. 002-021, Autoren: Pfister EA, Böckelmann I, Rüdiger H, Seibt R, Stoll R, Vilbrandt R) [197].

Diskutiert in der Arbeitsgruppe „Forum Arbeitsphysiologie“ der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) und der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft e. V. (GfA) am 01.04.2014.

Letztmalig aktualisierte Fassung verabschiedet vom Vorstand der DGAUM im Juni 2014.

Hinweise bitte an:

Prof. Dr. med. Irina Böckelmann (irina.boeckelmann@med.ovgu.de)

oder

Dr. med. Stefan Sammito (stefan.sammito@med.ovgu.de)

oder

Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (gsdgaum@dgaum.de).