Sehr geehrter Herr Holtstraeter,
in Ihrem Artikel geben Sie den Hinweis, das BAG habe ausdrücklich offen gelassen, ob dem Betriebsarzt das BEM-Management übertragen werden dürfe. Diesen Aspekt möchte ich gerne aufgreifen.
Aus arbeitsmedizinischer Sicht könnte man dem verwegenen Gedanken verfallen, krankheitsbedingte Fehlzeiten, zumal lange dauernde oder wiederholt auftretende, seien grundsätzlich ein primär ärztliches Thema.
Vielleicht ließe sich dieser Gedanke sogar aus § 3 ASiG ableiten. Betriebsärzte haben den Arbeitgeber demnach insbesondere zu unterstützen bei Themen, die auch für das BEM Bedeutung haben:
Arbeitsphysiologischen, arbeitspsychologischen und sonstigen ergonomischen sowie arbeitshygienischen Fragen, insbesondere des Arbeitsrhythmus, der Arbeitszeit und der Pausenregelung, der Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsablaufs und der Arbeitsumgebung, Fragen des Arbeitsplatzwechsels sowie der Eingliederung und Wiedereingliederung Behinderter in den Arbeitsprozess, der Beurteilung der Arbeitsbedingungen, der Untersuchung von arbeitsbedingten Erkrankungen etc.
Auch in der DGUV V 2 finden sich zahlreiche Aufgabenfelder, die im Hinblick auf krankheitsbedingte Fehlzeiten und das BEM relevant für Betriebsärzte sind:
Gefährdungsbeurteilung, Verhältnis- und Verhaltensprävention, arbeitsmedizinische Beratung, Motivieren zum sicherheits- und gesundheitsgerechten Verhalten, Untersuchungen von Ereignissen, Ursachenanalysen und deren Auswertungen, Ermitteln von Schwerpunkten arbeitsbedingter Erkrankungen, Arbeitsgestaltung zur Vermeidung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren, Erhalt der individuellen gesundheitlichen Ressourcen im Zusammenhang mit der Arbeit u. a.
Das Sozialgesetzbuch sieht den Betriebsarzt allerdings in einer eher nachgeordneten Rolle:
Nach SGB V § 74 soll der behandelnde Arzt im Rahmen einer Wiedereingliederung lediglich „in geeigneten Fällen die Stellungnahme des Betriebsarztes“ einholen. Es könnte einem die Frage in den Sinn kommen, was denn im betrieblichen Kontext kein geeigneter Fall ist.
Das SGB IX § 84 verpflichtet den Arbeitgeber, wenn Beschäftigte länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements. Auch dabei soll nur „soweit erforderlich“ der Betriebsarzt hinzugezogen werden.
Im Gegensatz dazu lehrt die betriebliche Realität nicht nur, dass die Beteiligung des Betriebsarztes regelhaft erforderlich ist, weil es meist arbeitsmedizinischen Fachwissens bedarf, um dem gesetzlichen Auftrag gerecht werden zu können. Es zeigt sich vielmehr auch, dass der Betriebsarzt als neutraler Mittler im Betrieb und Vertrauensperson, die der Schweigepflicht unterliegt, der natürliche und primäre Ansprechpartner betroffener Beschäftigter sein sollte. Die Konfrontation (!) eines Erkrankten mit dem Arbeitgeber und anderen Beteiligten dürfte oft kontraproduktiv sein.
Aus dieser sachlichen Konstellation ließe sich durchaus ein Konzept des BEM ableiten, in dem der Betriebsarzt als Manager des BEM-Prozesses fungiert, d. h. auch die Administration, Dokumentation und insbesondere den Erstkontakt zum erkrankten Beschäftigten autark wahrnimmt. Information und praktische Einbindung des Arbeitgebers und der anderen im Gesetz genannten Parteien wären trotzdem realisierbar und unproblematisch zu organisieren.
Dem steht nun formal neben der diskutierten restriktiven Formulierung „soweit erforderlich“ insbesondere entgegen, dass § 84 SGB IX den Arbeitgeber in die Pflicht nimmt und aus guten Gründen Arbeits- und Gesundheitsschutz ohnehin in der grundsätzlichen Verantwortung des Unternehmers liegen.
Wenn man „Arbeitgeber“ als natürliche oder juristische Person versteht, die mindestens eine andere Person arbeitsvertraglich beschäftigt und die dieser Person gegenüber das Direktionsrecht innehat, wird naturgemäß der Betriebsarzt (außerhalb des Medizinbetriebs) selten in dieser Rolle sein.
Es ergibt sich daher die Frage,
- ob der Arbeitgeber im Sinne des beschriebenen Konzepts seine Pflichten im betrieblichen Eingliederungsmanagement an den Betriebsarzt delegieren darf, ohne damit den eigenen gesetzlichen Auftrag zu vernachlässigen.
Daraus leitet sich schließlich die Überlegung ab,
- ob im Falle einer rechtlichen Betrachtung (z. B. Kündigungsschutzprozess) eine entsprechende Handhabung des BEM als gesetzeskonform bestehen würde.
Mit freundlichem Gruß