Sehr geehrter Herr Dr. Albrod,
zu Ihrer Frage möchte ich zunächst betonen, dass ich Ihre Auffassung zur Rolle des Betriebsarztes grundsätzlich teile (wenn es denn qualifiziert angegangen wird, was leider nicht durchgängig der Fall ist). Selbstverständlich ist das BEM dort in besseren Händen als bei der PA oder den Vorgesetzten, was maximal einem Krankenrückkehrergespräch entspräche. Auch ist der BEM-Prozess vom Gesetzgeber bewusst offen gehalten, um der Vielfalt betrieblicher Organsisationsformen gerecht werden zu können.
Allerdings zielt der § 84 II SGB IX im Kern auf die gemeinsame Suche der Vertrags- und Tarifpartner nach Lösungsmöglichkeiten ab. Geborene Mitglieder des Suchteams sind der Betroffene, der Betriebsrat, der AG und ggf. die Schwerbehindertenvertretung. Werden diese Rollen sämtlich (mit Ausnahme des Betroffenen) vom Betriebsarzt übernommen, kann es im Krisenfall Probleme geben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit dazu ein paar Argumente:
- BEM zielt auf alle Störungen/Gefährdungen des Arbeitsplatzes ab, nicht nur auf die gesundheitlichen.
- BEM kann diverse arbeitsrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Probleme beinhalten (Vertragsanpassungen, Rente und Arbeit usw.).
- Erst die Beteiligung des Betriebsrates sichert oft, dass der Betroffene seine Rolle bei der Suche und Lösung aktiv wahrnimmt.
- 6–8 Augen sehen mehr als vier, vor allem wenn sie in unterschiedliche Richtungen blicken.
- BEM ist nicht nur Eingliederungsmanagement, es ist eben leider auch manchmal Ausgliederungsmanagement. Ist Letzteres unabdingbar, so liegen in einem gemeinsamen Konzept zur WE an dritter Stelle häufig vernachlässigte Chancen des Erkrankten/Behinderten.
Diese Argumente sollen keinesfalls die wichtige Rolle des Betriebsarztes im BEM schmälern. Auch stellen sich die Fragen im Großbetrieb mit ggf. hauptamtlichen Betriebsarzt anders als im Klein- und Mittelbetrieb. Wichtige Ko-Faktoren sind das allgemeine soziale Klima des Unternehmens und dessen wirtschaftliche Situation sowie das Rollenverständnis des handelnden Betriebarztes. Insbesondere betrifft die von Ihnen angesprochene Frage nicht die tägliche BEM-Routine. Bleiben indes Lösungswege verschlossen und ist eine einvernehmliche Sicht von AG und AN auf die Zukunft nicht darstellbar, kann es ein Problem mit der „Gerichtsfestigkeit“ des BEM geben, sofern nicht die organisatorischen Minimalvoraussetzungen des BEM (Beteiligungsangebot an alle Stakeholder des Verfahrens und formal ordnungsgemäßer Suchprozess) Beachtung fanden.
Ich selbst führe BEM-Verfahren für Unternehmen als Rehamanager durch. Dabei ziehe ich weitere Partner entsprechend dem Ergebnis des Erstgespräches mit dem AN je nach Situation und Bedarf hinzu. Die Praxis zeigt, dass Lösungen überwiegend (bis zu 90 %) ohne das große Team möglich sind. Hier wird es mangels Kläger auch nie eines Richters bedürfen. Zeichnet sich aber eine Frontenstellung ab, sollte dem Worst-case angemessen auch in formaler Hinsicht Rechnung getragen werden. Der Rehamanager, sei er Jurist oder sei er Arzt, sollte sich m. E. in diesem Falle seiner begrenzten Aufgabe als Vermittler/Coach/Sachverständiger/Berater bewusst sein. Die Aufgaben des BEM weist das Gesetz den Beteiligten und Tarifpartnern zu. Die Entscheidung liegt letztlich in deren Hand und der Richter wird im Streitfalle prüfen, ob diese ihren Rollen gerecht wurden bzw. werden konnten.
… und nein, das Thema ist nicht in aktueller rechtlicher Diskussion. Ein Obergericht spricht ein solches „obiter dictum“ allerdings nie ohne Grund aus. Es steht daher zu befürchten, dass das BAG die personenbedingte Kündigung als sozialwidrig verwerfen könnte, wenn das negative Ergebnis des Suchprozesses auf einem BEM-Verfahren beruht, das der Betriebsarzt im Alleinauftrag mit dem Probanden durchgeführt hatte. Zumindest wird bei dieser Handhabung im Kündigungsfall das Risiko des AG deutlich größer sein (mit ggf. erheblichen Kostenfolgen), dass der Arbeitsrichter die Argumentation des beklagten AG hinsichtlich der Entbehrlichkeit eines formal korrekten BEM verwerfen wird.
Mit freundlichen Grüßen