Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit sind umfassend und tiefgreifend. Diese Veränderungen jedoch erfassen nicht alle Bereiche gleich und sind auch nicht in allen Bereichen gleich wahrnehmbar. So kommt es, dass in Organisationen und Unternehmen oft zwei Lager anzutreffen sind: Das eine, das eine starke Disruption durch die Digitalisierung wahrnimmt und entsprechende Veränderungen einfordert. Das andere Lager hingegen hält das für Aktionismus und setzt auf das Weiterbestehen des Bewährten. Tatsächlich haben beide Positionen ihre Berechtigung. Im digitalen Arbeitsschutz geht es darum, beides miteinander zu verbinden: Hier gilt es, das Bewährte nicht aufzugeben, sondern es adäquat in die Zukunft einer digitalisierten Arbeitswelt zu übersetzen.
Digitaler Arbeitsschutz
Im digitalen Arbeitsschutz ist es wichtig, Mechanismen und Muster der digitalen Arbeitswelt zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen, die für die eigene Organisation tragfähig sind.
Den Digitalisierungsprozessen in eigenen Unternehmen und Organisationen muss proaktiv eine Gestalt gegeben werden, statt sie einfach geschehen zu lassen. Die Weichen für eine gute und produktive digitale Arbeitskultur sollten gestellt werden, bevor sich reflexhafte Nutzung und Kopflosigkeit etabliert haben. Die Mitarbeiter, die Prozesse und die Unternehmenskultur müssen auf den Weg dieser Veränderung gut mitgenommen werden, statt sie damit zu überwältigen. Kurz: Digitaler Arbeitsschutz bedeutet souveränes Planen und Handeln in Zeiten großer Veränderungen..
Medienresilienz
Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, trotz Belastungen stabil zu bleiben und mit Veränderungen gut umgehen zu können. Genau dies ist auch und gerade in Bezug auf digitale Medien notwendig. Die menschlichen Kulturtechniken, Unternehmensstrukturen und gesellschaftlichen Erwartungen müssen sich erst noch der ständigen Verbindung und Erreichbarkeit anpassen, die von der digitalen Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird. Der technische Fortschritt gibt den Menschen etwas in die Hand, mit dem sie erst noch lernen müssen umzugehen. Die Freiheit, die der technische Fortschritt mit sich bringt, ist mit einer großen Verantwortung verbunden: Der Verantwortung für uns selbst und unser eigenes Handeln.
Die Digitalisierung erfindet die Welt nicht neu. Insofern hat das Lager „Das ist doch alles nicht neu“ Recht. Aber die Digitalisierung eskaliert die Herausforderungen an die Menschen in sehr hohem Maße. Ein souveräner Mediennutzer braucht heute wesentlich mehr und auch andere Kompetenzen und Fähigkeiten als in vordigitalen Zeiten. Die Herausforderung sind dabei nicht die technischen Nutzungskompetenzen. Diese sind – im wahrsten Sinne des Wortes – kinderleicht. Das wird jeder bestätigen, der Kinder hat.
Die wahre Herausforderung der Digitalisierung sind die sozialen Nutzungskompetenzen. Kann der Nutzer mit dem Revierstress umgehen, den die Ausweitung des beruflichen Reviers ins Digitale mit sich bringt? Kann er sich dem Sog des Nachrichtenstroms entziehen? Kann er dem Reflex widerstehen, den eine eingehende E-Mail auslöst? Kann er darauf vertrauen, seinen Platz im Team auch dann zu behalten, wenn er sich am Wochenende nicht an der Mail-Korrespondenz der Kollegen beteiligt? Wie fühlt er sich, wenn jeder seiner Schritte aufgezeichnet wird? Was macht die elektronische Akte mit den Menschen, das ständige Verbundensein über eine Datenbrille?.
Das alles ist schwer und verlangt hohe soziokulturelle Kompetenzen. Sich abgrenzen und entziehen, bremsen können, verpassen lernen, bei sich sein, filtern und priorisieren können, Verantwortung übernehmen – diese Kompetenzen sind zugleich die Kompetenzen, die Menschen allgemein gesund halten („health literacy“).
Dem kann mit Verhaltensprävention – Workshops, Schulungen, Fortbildungen und praktischen Übungen, die das individuelle Nutzungsverhalten im Fokus haben – begegnet werden.
Auf Organisationsebene bedeuten die steigenden Herausforderungen die Notwendigkeit, Digitalisierungsprozesse soziokulturell begleiten und flankieren zu müssen, ihnen in den Organisationsprozessen einen adäquaten Raum zu geben und diese mit den bisherigen Strukturen sinnvoll zu verzahnen: Das ist Verhältnisprävention. Die Kombination aus beidem – Verhaltens- und Verhältnisprävention – lässt eine gute digitale Arbeitskultur gelingen.
Das „Interaktionsmodell Digitaler Arbeitsschutz“
Das Interaktionsmodell „Digitaler Arbeitsschutz“ (IDA) ist ein Präventions- und Beratungskonzept, das sich dem Thema aus medienwissenschaftlicher Perspektive nähert und dabei Verhaltens- und Verhältnisprävention verbindet ( Abb. 1). Es wurde von der Autorin basierend auf qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden entwickelt und bereits an anderer Stelle vorgestellt (David 2013).
Digitaler Arbeitsschutz umfasst Maßnahmen, Mittel und Methoden zur Förderung eines gesunden, produktiven digitalen Leistungs- und Arbeitsumfeldes. Ziel ist es, den Fortschritt der digitalen Technologien adäquat in die Arbeitswelt zu integrieren, die Potenziale digitaler Arbeit zu nutzen und zugleich ihren Gefährdungen mit präventiven Maßnahmen zu begegnen. Digitaler Arbeitsschutz ist ein Prozess, der Organisationen konstruktiv in die digitale Zukunft begleitet und kontinuierlich den sich entwickelnden Veränderungen angepasst werden sollte. Er definiert Rahmenbedingungen für ein kooperatives mediales Klima und erschließt Mittel und Wege, wie der Wechsel zu einer guten digitalen Arbeitskultur gelingen kann.
Das mediale Klima eines Unternehmens hat Auswirkungen auf eine mögliche gesundheitliche Belastung der Arbeitenden und ist ein wichtiger Indikator für eine gesunderhaltende Führungs- und Unternehmenskultur. Wertschätzung, respektvoller Umgang, Verantwortung und Entscheidungsbereitschaft bilden sich unmittelbar in der Art ab, wie miteinander kommuniziert wird und wie E-Mails geschrieben werden. Auch die Verwendung von Diensthandys, Erwartungen an Erreichbarkeit und Vertretungsregelungen sind stark von der Unternehmenskultur geprägt. Im Umkehrschluss eignet sich das mediale Klima hervorragend als Ansatzpunkt für eine Intervention.
Der Grundgedanke des Interaktionsmodells basiert dabei auf der Erkenntnis und der praktischen Erfahrung in Organisationen, dass das mediale Klima seinerseits von mehreren Faktoren beeinflusst wird. Diese drei Faktoren sind das individuelle Nutzungsverhalten, die Absprachen auf Team-Ebene und das Führungsverhalten. Wenn diese unternehmensinternen Dynamiken und Wechselwirkungen nicht angemessen berücksichtigt werden, so können sich diese Einflussebenen gegenseitig blockieren und den Wechsel zu einer positiven Veränderung behindern.
So fühlt sich z. B. ein Mitarbeiter ohne eine vernünftige Vertretungsregelung verpflichtet, via Mail den Fortgang seiner Projekte zu sichern, obwohl er Urlaub hat. Führungskräfte, die spätnachts und am Wochenende E-Mails versenden, werden – auch unbeabsichtigt – den Ton für Erreichbarkeiten setzen. Auch Mitarbeiter, die zur Sicherheit alle Informationen an alle senden, ohne zu filtern und zu priorisieren und für diese Entscheidung Verantwortung zu übernehmen, prägen das mediale Klima für alle. Dieses individuelle Nutzungsverhalten kann aber wiederum von der Art abhängen, wie in dem Unternehmen Arbeit gemessen und bewertet wird. Wenn in Regelungen und Vorgaben nicht sowohl die Perspektiven der Führung, des Nutzerverhaltens und der Arbeitsprozessabläufe berücksichtigt werden, sind sie zum Scheitern verurteilt. Das ist der Grund dafür, dass viele große Unternehmen zwar wohlmeinende Grundsätze in Bezug auf die Nutzung digitaler Medien verfolgen, im praktischen Arbeitsalltag der Mitarbeiter aber das komplette Gegenteil herrscht.
Ein zentraler und sehr wirksamer Mechanismus des digitalen Arbeitschutz ist es deshalb, implizite Erwartungen explizit zu machen und zwischen allen Akteuren Transparenz darüber herzustellen, was wann von wem erwartet wird. Was ausdrücklich nicht erwartet ist, wird somit zum Schon- und Schutzraum, in dem Arbeitende sich von der medialen Dauerpräsenz erholen können.
Ein Grundbedürfnis: Fokus
Die vom Slow Media Institut und dem Medienforschungs-Institut d.core im Jahr 2015 durchgeführte SlowTypes-Basisstudie ( Abb. 2; slow-media-institut.net/medienforschung) hat zudem vor allem dieses Ergebnis gebracht: Der Wunsch nach Konzentration und Fokussierung ist auch (vielleicht: gerade) in der heutigen Zeit ein tief verwurzeltes Bedürfnis. Der Aussage „Es ist wichtig, sich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was man grade tut.“ stimmten 92,5 % der über 2000 für Bundesdeutschland repräsentativ Befragten zu („Trifft voll und ganz zu“ – 31,7 %, „Trifft zu“ – 60,8 %). Und dies über alle von uns identifizierten Mediennutzergruppen hinweg. Die Mediennutzer-Gruppe der „Fokussierten“ liegt erwartungsgemäß bei 98,8 %, aber auch die Digital Natives (eher unter vierzig, digital affin, lesen auch lange Texte am Smartphone) stimmen der Aussage mit überraschenden zu 87,1 % zu. Diese Zahlen verdeutlichen die derzeitige gesellschaftliche Lage gut – sowohl die private wie die berufliche: Die Menschen wünschen sich Fokus, leben aber in einer Welt ständiger Unterbrechungsreize.
In diesem Licht betrachtet stellt sich der Digitale Arbeitsschutz als ein Konzept dar, das Rahmenbedingungen schafft, in denen es Mitarbeitern in Organisationen und Unternehmen wieder gelingt, das zu tun, was sie zu großem Prozentsatz wollen: in Ruhe ihre Arbeit tun.
Digitalisierung: eine große Infragestellung
Die Digitalisierung ist ein Infragestellen aller bisherigen Strukturen, Prozesse, Vereinbarungen und Erwartungen. Konstruktiv mit dem digitalen Wandel umzugehen bedeutet, sich dieser Herausforderung zu stellen. Das heißt nicht notwendigerweise, dass alle bisherigen Muster und Regelungen über Bord geworfen werden müssen – im Gegenteil lassen sich durchaus zentrale Werte und Normen auch in Zukunft beibehalten. Entscheidend ist, sich dieser Infragestellung durch das Digitale zu stellen und alles Bisherige darauf zu überprüfen, ob es – und in welcher Form – einen Beitrag für die notwendige Zukunftsfähigkeit leisten können wird. In Hinblick auf Medienresilienz und digitalen Arbeitsschutz bedeutet dies, nach Wegen zu suchen, wie in digitalen Zeiten eine produktive und wertschätzende Zusammenarbeit, Verantwortung, Fokus und Konzentration, Veränderungsbereitschaft und Experimentierfreude möglich werden können. Insofern ist der digitale Arbeitsschutz ein Beitrag dazu, dass in der digitalen Arbeitswelt von heute und morgen auch der gesunde Menschenverstand wieder Einzug hält.
Es sind die Menschen von heute, die mit ihren Fähigkeiten, Wünschen und Werten, die Arbeitswelten und die Gesellschaft von morgen gestalten. Auch die digitale Gesellschaft.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dasss kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
David S: Sucht und Sehnsucht im digitalen Raum: Digitaler Arbeitsschutz aus medienwissenschaftlicher Perspektive. In: Badura B, Ducki A, Schröder H, Klose J, Meyer M (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2013: Verdammt zum Erfolg – die süchtige Arbeitsgesellschaft? Berlin Heidelberg: Springer, S. 115–121 (= AOK Fehlzeitenstudie)
Info
Fachbegriffe*, die die neuen Dimensionen der digitalisierten Arbeitswelt darstellen
- RevierstressDas Arbeitsumfeld ist wie ein Revier. Jeder, der arbeitet, steht in einem Wechselverhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten, muss Projekte verteidigen, Einsatzbereitschaft zeigen und Position beziehen. Im digitalen Zeitalter hat sich das berufliche Revier zeitlich und räumlich ausgedehnt: Es umfasst 24 Stunden an sieben Tagen der Woche und reicht räumlich bis in den hintersten Winkel mit Internetzugang. Diese Kombination aus Präsenzkultur und digitaler Verfügbarkeit kann zu Revierstress führen und ist eine für Arbeitnehmer höchst riskante und belastende Konstellation.
- Digitaler PräsentismusMitarbeiter hinterlassen auffällig häufig im beruflichen Revier digitale Spuren, obwohl dies sachlich nicht notwendig wäre. Das Schreiben von E-Mails an große Verteiler dient dann dem Zweck, Präsenz zu zeigen, sichtbar zu sein, um nicht vergessen zu werden. „Wer schreibt, der bleibt“ – belastet die Kollegen aber mit unnötigem Informationsrauschen.
- SendereflexDie E-Mail verleitet dazu, sie reflexhaft zu nutzen. Das reflexhafte Senden und Weiterleiten (auch an viele Leute in Kopie (cc)) ist leicht und kostet den Sender keine Mühe – es kostet den Empfänger aber Aufmerksamkeit, Kraft und Zeit. Sender und Empfänger sollten sich dieser Verantwortung bewusst sein und sich – bevor sie auf „Senden“ klicken – fragen, für wen welche Information zu welchem Zeitpunkt relevant ist.
- Mediales KlimaDas mediale Klima ist ein wichtiger Indikator für eine gesunderhaltende Führungs- und Unternehmenskultur. Wertschätzung, Respektvoller Umgang, Verantwortung und Entscheidungsbereitschaft bilden sich unmittelbar in der Art ab, wie miteinander medial kommuniziert wird. Auch die Verwendung von Diensthandys, Erwartungen an Erreichbarkeit und Vertretungsregelungen sind stark von der Unternehmenskultur geprägt. Im Umkehrschluss eignet sich das mediale Klima gut als Hebel, um positiv auf die Unternehmenskultur einzuwirken.
- Präventive KündigungEs handelt sich dabei um das zunehmende Phänomen, dass verantwortungsbewusste, leistungsfähige und engagierte Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, um gesundheitliche Schäden wegen Fehl- oder Überlastung von sich abzuwenden. Oft haben sie zuvor Gespräche geführt, versucht, die Arbeitsprozesse umzustrukturieren und ihrem Unternehmen – ohne Gehör zu finden – Verbesserungen vorgeschlagen. Präventive Kündigungen gehen in keine Burnout-Statistik ein, weil die Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, bevor es soweit ist.
* Fachbegriffe von der Autorin entwickelt.
Weitere Infos
Slow Media Institut
Digitaler Arbeitsschutz: Slow Media at work
Autorin
Sabria David, M.A.
Slow Media Institut
Heerstraße 93
53111 Bonn