Der Ausbau des Betriebsarztwesens erfolgte ab dem Jahr 1936 durch die Initiative des stellvertretenden Vorsitzenden des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP Fritz Bartels. Die Nationalsozialisten versprachen sich dadurch weitreichende Möglichkeiten zur Erfassung und Verbesserung des gesundheitlichen Zustands des „Volkskörpers“. Der Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP, Hermann Hebestreit, wurde bei öffentlichen Propagandaveranstaltungen oder auch in schriftlichen Äußerungen nicht müde zu betonen, welch große Bedeutung von Betriebsärzten für das Deutsche Reich ausginge. So schrieb er bereits im Jahr 1936 im Zentralblatt für Gewerbehygiene: „In dem schweren wirtschaftlichen und politischen Existenzkampf, den das deutsche Volk zu führen hat, um wieder die ihm gebührende Stellung in der Welt einzunehmen, ist die höchste Anspannung und größte Leistungsfähigkeit aller schaffenden Deutschen notwendig. Eine der wichtigsten und unentbehrlichsten Grundlagen der Leistungsfähigkeit ist die Gesundheit. Neben allen anderen Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit […] haben daher der Schutz der Arbeitskraft und die Vermeidung von Gesundheitsschäden bei der Arbeit heute eine viel größere und dringendere Bedeutung als früher“ (Hebestreit 1936). In seinen Äußerungen fanden sich immer wieder die Schlagworte Gesundheit, Leistung und Arbeit.
Wer durfte als Betriebsarzt tätig sein?
Bereits seit den 1870er Jahren gab es im Deutschen Reich vereinzelt Werks- bzw. Fabrikärzte, die von Unternehmern angestellt wurden, um die medizinische Versorgung ihrer Arbeitnehmer zu verbessern. Im Nationalsozialismus änderten sich jedoch die Anstellungsmodalitäten. Zwar waren immer noch die Unternehmer für die Einstellung verantwortlich, doch wer als Betriebsarzt tätig sein wollte, musste sich zunächst beim Hauptamt für Volksgesundheit lizenzieren lassen. Das stellte für die Staatsführung das entscheidende Instrument dar, um die politische Zuverlässigkeit der Betriebsärzte zu kontrollieren, denn politisch nicht konformen Ärzten wurde die Lizenz verweigert. Bei den Betriebsärzten in Thüringen war der Anteil an NSDAP-Mitgliedern mit 81,4 % im Jahr 1943 fast doppelt so hoch wie bei den übrigen Medizinern mit 44,8 % (Süß 2003; Tabelle 1). Nach erfolgreicher Lizenzierung mussten die Betriebsärzte noch an einem 14-tägigen Ausbildungskurs teilnehmen.
Quantitative Entwicklung des Betriebsarztwesens
Der Bedeutungszuwachs, den die „betriebszentrierte Gesundheitsführung“ erfuhr, wird auch aus der quantitativen Entwicklung der Betriebsärzte ersichtlich. Zunächst kam der Ausbau allerdings nur sehr langsam voran. Lediglich in den stark durch die Industrie geprägten Gegenden wurden Betriebsärzte in größerer Zahl eingesetzt. Im Jahr 1937 gab es im gesamten Deutschen Reich überhaupt erst 350 haupt- und nebenamtliche Betriebsärzte. Das Ziel der Nationalsozialisten, in jedem Betrieb, der mehr als 200 Beschäftigte hatte, einen hauptamtlichen Betriebsarzt anzustellen (Knödler 1991), wurde nie auch nur ansatzweise erreicht. Eine Wende brachte der Beginn des Zweiten Weltkriegs: Während 1939 lediglich 971 Ärzte als Betriebsärzte tätig waren, waren es 1944 ca. 8000 und damit sogar mehr als im Öffentlichen Gesundheitsdienst, der im Nationalsozialismus angesichts der Rassenhygiene eine große Rolle spielte (Süß 2003).
Der Betriebsarzt als Kamerad
Der Partei- und Staatsführung war es wichtig, immer wieder hervorzuheben, dass der Betriebsarzt ein „kameradschaftlicher Berater“, aber kein Aufsichtsbeamter sein sollte. Um das Vertrauen zwischen Belegschaft und Betriebsarzt zu stärken, sollten Letztere Teil der Belegschaft werden. Daher wurde auch von ihnen erwartet, dass sie zu Beginn ihrer Tätigkeit in einem Betrieb als normale Arbeiter mitarbeiteten. Offiziell sollte diese Maßnahme dazu dienen, dass der Betriebsarzt die im Betrieb verrichteten Tätigkeiten besser kennenlernen und nachvollziehen konnte. Doch eigentlich erhoffte das Regime sich dadurch einen besseren Zugang zu den Arbeitern. Besonders oft wurde in diesem Kontext der Kameradenbegriff verwendet, der die Verbundenheit des Betriebsarztes mit der Belegschaft ausdrücken sollte. Gleichzeitig sollte der Begriff das hohe gegenseitige Vertrauen zum Ausdruck bringen und damit die Arbeiter vor möglichem Misstrauen dem Betriebsarzt gegenüber befreien. Ein weiteres Mittel zur Stärkung des Vertrauens zwischen Arzt und Arbeiter waren die regelmäßigen Sprechstunden, in denen sich die Belegschaft mit gesundheitlichen Fragen an die Betriebsärzte wenden konnte. Gleichzeitig war dies auch ein Kontrollinstrument der Betriebsführung. Das eigentliche Ziel der Beratungen war es aber, so gut es ging Krankschreibungen vorzubeugen und dadurch umso mehr Ressourcen zu erhalten.
Aufgabengebiete der Betriebsärzte
Die Aufgaben, die die Betriebsärzte übernehmen sollten, waren nirgendwo klar definiert. Sie hingen stark von der Art des Betriebs, seinem Standort, seiner Größe und der Zusammensetzung der Belegschaft ab. Dennoch kann man die Aufgaben der Betriebsmediziner grob in drei Bereiche unterscheiden:
- Feststellung des gesundheitlichen Zustands der Belegschaft,
- Ergreifung präventiver Maßnahmen und
- Durchführung kurativer Tätigkeiten.
Feststellung des gesundheitlichen Zustands der Belegschaft
Um die Gesundheit der Betriebsangehörigen verbessern zu können, musste aus Sicht der Nationalsozialisten zunächst festgestellt werden, in welcher gesundheitlichen Verfassung sich die arbeitende Bevölkerung überhaupt befand. Dazu wurden in den Jahren 1935 bis 1939 in verschiedenen Gauen Massenuntersuchungen nach Vorbild der Tauglichkeitsuntersuchungen beim Militär durchgeführt ( Abb. 1). Hinzu kamen dann in den 1940er Jahren auch Röntgenreihenuntersuchungen in den Betrieben. Allein in den Gauen Mecklenburg, Westfalen Nord, Westfalen Süd und Württemberg wurden bis zum Jahr 1944 ca. fünf Millionen Arbeiter dadurch registriert ( Abb. 2).
Die Reihenuntersuchungen sollten jedoch lediglich der Anfang einer totalen Erfassung des gesundheitlichen Zustands der arbeitenden Bevölkerung sein. Denn es war geplant, die Untersuchungen in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, um die Veränderung des gesundheitlichen Zustands dokumentieren und eventuelle Erfolge ablesen zu können. Die Untersuchungsergebnisse wurden vielfach dokumentiert: in einer betriebsinternen Gesundheitskartei, im Gesundheitspass und im Gesundheitsstammbuch. Der Gesundheitszustand jedes Mitarbeiters sollte lückenlos festgehalten werden. Neben der regelmäßigen Untersuchung der Belegschaft wurden, wie bereits in der Zeit vor dem Nationalsozialismus, auch die neu einzustellenden Arbeiter und Lehrlinge vor Dienstantritt durch den Betriebsarzt untersucht. Wenn der Betriebsarzt nun in einer Untersuchung feststellte, dass ein Arbeiter aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes nicht für seine Arbeit geeignet erschien, so sollte er auf ihn einwirken und innerhalb des Betriebs eine andere Tätigkeit finden.
Präventive Maßnahmen
Vorbeugung wurde von den Nationalsozialisten immer wieder als die zentrale Aufgabe der Betriebsärzte genannt. Dadurch sollte auch eine klare Trennung von den Aufgaben der Haus- und Klinikärzte sichergestellt werden, die in den Betriebsärzten eine neu aufkommende Konkurrenz fürchteten. Die Betriebsärzte sollten also die Leistungsfähigkeit der Arbeiter bis ins hohe Alter erhalten und im besten Fall noch steigern.
Daher musste der Betriebsarzt die Arbeitsschutzgesetze kennen und regelmäßig deren Einhaltung kontrollieren. Darüber hinaus sollte er auf angemessene Luftverhältnisse in den Arbeitsräumen Acht geben. Durch regelmäßige Begehungen des Betriebs und Inspektionen der Arbeitsplätze sollte der Betriebsarzt mögliche gesundheitliche Mängel an den Arbeitsstätten aufdecken und zu einer Verbesserung beitragen. In Zusammenarbeit mit der Betriebsküche war es seine Pflicht, ausgewogene Speisepläne zu erstellen und auch auf die Bereitstellung etwaiger Schonkost zu achten. Insbesondere während des Krieges sollte durch seine Mitwirkung bei der Speisenzusammenstellung einer Mangelernährung der Belegschaft vorgebeugt werden. Des Weiteren war er für die gesundheitliche Überwachung des Betriebssports zuständig, dem die Nationalsozialisten eine große Bedeutung beimaßen. Es war hierbei die Aufgabe des Betriebsarztes, auf eine rege Teilnahme der Belegschaft hinzuwirken und das Sportangebot des Betriebes aus gesundheitlicher Sicht zu optimieren.
Kurative Tätigkeit
Da die Betriebsärzte nicht in Konkurrenz zu den Hausärzten treten sollten, unterlagen sie einem grundsätzlichen Behandlungsverbot. Zunächst konnten lediglich Bäder, Massagen und andere kleinere Anwendungen in Abstimmung mit dem Hausarzt im Betrieb durchgeführt werden. Doch schnell gab es weitere Ausnahmen, die im Laufe der Zeit immer weiter ausgedehnt wurden. Insbesondere der Ausbruch des Krieges trug dazu bei, die kurativen Tätigkeiten zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der Arbeiter und zur Senkung des Krankenstandes weiter auszubauen (Karbe 1992). Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) ermächtigte 1940 ihre Mitglieder, während des Krieges in wehrwirtschaftlichen wichtigen Betrieben kurativ tätig zu werden. Da diese Ärzte oft auch die nebenamtlichen Betriebsärzte in diesen Betrieben waren, wurden die Betriebsärzte de facto ermächtigt, in rüstungswichtigen Betrieben die Behandlung der Kassenmitglieder durchzuführen (Höfler-Waag 1994). Hinzu kam, dass sich ab Juni 1940 alle gehfähigen Kranken zur Krankmeldung zuerst beim Betriebsarzt einfinden mussten. Die freie Arztwahl war damit aufgehoben. Die Arbeiterschaft lernte die Betriebsärzte als „Gesundschreiber“ fürchten, deren wichtigste Aufgabe von nun an darin bestand, jeden noch so kleinen Rest Arbeitskraft im Betrieb zu erhalten.
Zusammenfassung
Die Arbeitsfähigkeit und der Wille zur Gesundheit waren neben der „Rasse“ weitere wichtige Punkte, die im Nationalsozialismus über die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft entschieden. Denn Arbeit und Leistung konnten in den Vorstellungen der Nationalsozialisten die entscheidenden Komponenten für einen „Sieg“ gegenüber anderen Staaten sein. Um die Arbeitsfähigkeit bis zu einem Maximum zu steigern, sollten Betriebsärzte die Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung sicherstellen. Zwar war die Idee der Verbesserung der Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz bereits im Kaiserreich und der Weimarer Republik entwickelt worden, doch die Mittel und Ziele der Nationalsozialisten waren neue (s. auch Abb. 3).
Vordergründig wurde der Betriebsarzt als „Präventionsarzt“ präsentiert, der die Gesundheit der Arbeiter verbessern sollte. Doch steigende Krankenstände in Zeiten des Krieges zeigten schnell, dass es eben nicht um die Gesundheit des einzelnen Arbeiters ging, sondern vielmehr um die Leistungsfähigkeit der „Volksgemeinschaft“. Viele Betriebsärzte wurden auch kurativ tätig und hatten dafür Sorge zu tragen, dass so wenige Arbeiter wie möglich dem Arbeitsplatz fernblieben. So hieß es in den NS-Monatsheften für Sozialpolitik: „Die Kriegszeit erlegt ihm in dieser Beziehung besondere Verantwortung auf, bedeutet doch jeder Arbeitsausfall infolge Krankheit oder Unfall eine Schwächung der Kampfkraft der Front“ (Gründger 1940).
Literatur
Gründger E: Die Sicherung der Schaffenskraft. Aufbau und Aufgaben des DAF.-Amtes für Volksgesundheit. Monatshefte für NS-Sozialpolitik 1940; 7: 9–11.
Hebestreit H: Umfang und Bedeutung von beruflichen Gesundheitsschäden. Zentralblatt für Gewerbehygiene und Unfallverhütung 1936; 23: 25–29.
Höfler-Waag M: Die Arbeits- und Leistungsmedizin im Nationalsozialismus von 1939–1945. Husum: Matthiesen, 1994.
Karbe K-H: Leistungsmedizin und Kriegswirtschaft – alte und neue Anforderungen an die Arbeitsmedizin 1939–1945. In: Milles D (Hrsg.): Betriebsärzte und produktionsbezogene Gesundheitspolitik in der Geschichte. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW, 1992, S. 65–69.
Knödler U: Von der Reform zum Raubbau. Arbeitsmedizin, Leistungsmedizin, Kontrollmedizin. In: Frei N (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. München: Oldenbourg, 1991, S. 113–136.
Süß W: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945. München: Oldenbourg, 2003.
Info
Betriebsärzte in der NS-Zeit – Erste Forschungsergebnisse
Lange Zeit war die Erkenntnislage über das Handeln der Betriebsärzte in der NS-Zeit rudimentär. Während andere Fachdisziplinen, allen voran Urologen und Psychiater, ihre Geschichte systematisch aufgearbeitet haben, beschränkten sich Arbeiten in der Arbeitsmedizin auf punktuelle Fragestellungen wie Biografien einzelner Hochschullehrer bzw. Werksärzte oder auf gewerbeärztliche Systeme.
Auf dem letzten Betriebsärztekongress in Dresden nun berichtete der Medizinhistoriker Dr. phil. Pierre Pfütsch von der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart seine ersten Forschungsergebnisse über die gesamte Breite der betriebsärztlichen Tätigkeit. Unter dem Titel „Arbeit für den Krieg? Betriebsärztliches Handeln in der NS-Zeit im Spiegel der Standespresse“ erläuterte er die Strukturen des damaligen Betriebsarztwesens, wie sie sich aus der Standespresse ableiten lassen.
Die anschließende rege Diskussion machte schnell deutlich, dass dies nur ein erster Einblick in die NS-Strukturen der Betriebsmedizin sein kann und dass weitere Forschungen nun der betrieblichen Realität gelten müssen. Der Zugang hierzu kann kaum noch über öffentliche Archive erfolgen. Vielmehr müsse jetzt versucht werden, Archive von Betrieben, Konzernen, Verbänden, aber auch von Gewerkschaften oder Unfallversicherungen auszuwerten.
Die Arbeit von Dr. Pfütsch war gefördert worden vom Förderverein zur Erforschung des betriebsärztlichen Handelns in der NS-Zeit e.V. (FBHNS), der für jede Unterstützung dankbar ist.
Wenn Sie
- Historiker unterstützen wollen bei dem Bemühen, zu Archiven in den von ihnen betreuten Betrieben und Konzernen Zugang zu finden,
- an den Förderverein spenden wollen oder
- Mitglied werden wollen im Förderverein
sind Sie herzlich willkommen. Mehr Informationen gibt es auf der Website des Fördervereins und gerne auch im persönlichen Gespräch.
Förderverein zur Erforschung des betriebsärztlichen Handelns in der NS-Zeit e.V. (FBHNS) Lesumstr. 3
26180 Rastede info@betriebsärzte-ns-zeit.de
Weitere Infos
Förderverein zur Erforschung des betriebsärztlichen Handelns in der NS-Zeit e.V.
Autor
Dr. phil. Pierre Pfütsch
Institut für Geschichte der Medizin
der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart