Psychisch Kranke im SGB II: zwischen Arbeitswunsch und Beratungswirklichkeit
Einleitung: Die gesundheitsförderliche Wirkung von Arbeit ist in der Psychiatrie schon lange bekannt. Dennoch bleibt in Deutschland vielen psychisch Kranken eine gleichberechtigte berufliche Teilhabe verwehrt, obwohl vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten existieren. Das Projekt „Psychisch Kranke im SGB II: Situation und Betreuung“ machte sich in diesem Kontext zur Aufgabe, einerseits die individuellen Problemlagen der Betroffenen und andererseits den institutionellen Umgangs mit ihnen zu erfassen.
Methode: Fallstudien (qualitative Interviews und Dokumentenanalysen) in acht Jobcentern.
Ergebnisse: Die Erhebungen zeigen, dass der Wunsch der Betroffenen nach einer angemessenen Erwerbstätigkeit nur unzureichend in die Beratungs- und Vermittlungsaktivitäten eingeht. Dies liegt zum einen an fehlenden geeigneten Arbeitsplätzen, zum anderen an fehlenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die die Bedürfnisse der Betroffenen aufnehmen. Die Beratung in den Jobcentern selbst greift den Wunsch der „Kunden“ nach Erwerbstätigkeit und damit nach einem selbständigeren Leben nur unzureichend auf. Gerade wohlmeinende Vermittler und Fallmanager stützen sich auf eine sequentielle Vorstellung (erst gesund werden, dann arbeiten) und unterlassen arbeitsbezogene Maßnahmen als Teil des Wiederherstellungsprozesses.
Schlussfolgerungen: Angemessen wäre eine integrierte Sichtweise auf Arbeit und Gesundheit, die Erwerbstätigkeit als Teil des Genesungsprozesses begreift. Dabei ist eine dichotome Sichtweise, die nur zwischen den Zuständen „gesund“ und „krank“ unterscheidet, nicht sinnvoll. Im Sinne des Recovery-Konzepts kommen arbeitsbezogene Maßnahmen auch dann in Betracht, wenn psychisch kranke Erwerbslose noch nicht „genesen“ sind oder vielleicht auch nie sein werden.
Schlüsselwörter: psychische Erkrankungen – SGB II – Jobcenter – Recovery-Konzept
Mentally ill persons within the Social Code II: between the desire to work and the reality of counselling
Introduction: The health promoting effect of work has long been known in psychiatry. Nevertheless, there are many persons with psychiatric disorders in Germany, who have no access to vocational participation, despite the existence of various, supportive possibilities. The project, “Mentally Ill Persons within the (German) Social Code II” in this context aims at gathering information about the individual problem-situation of those affected on one hand and on the institutional dealings on the other hand.
Method: Case studies in eight jobcentres (qualitative interviews and document analysis).
Results: The case studies show that the individual’s desire for adequate employment is only marginally reflected in the practice of counselling and job placement. Reasons for this situation are a lack of adequate jobs and labour market schemes to meet the needs of this group. Counselling in jobcentres does not sufficiently appreciate the desire of the “customers” to be employed and thus lead a more independent life. Even well-intentioned placement officers and case managers follow a set sequence (get well first, then work) rather than performing work related activities as part of the healing process.
Conclusions: A view of work and health that understands work as an integral part of health improvement would be more suitable. A dichotomous concept that only makes a distinction between “healthy” and “sick” is not helpful. Following the recovery approach, work related measures can be considered even when mentally ill unemployed people are not “healed” and perhaps never will be.
Keywords: mental disorder – Social Code II – jobcentre – recovery concept
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2017; 52: 600–604 doi:10.17147/ASU.2017-08-01-01
Einleitung
Aktuelle Forschungsergebnisse belegen, dass in Deutschland knapp ein Drittel der Bevölkerung zwischen 18 und 79 Jahren im Verlauf eines Jahres an einer psychischen Störung erkrankt. Angststörungen stellen dabei die größte Störungsgruppe dar, gefolgt von unipolaren Depressionen. Mehr als ein Drittel der Betroffenen weisen zudem Mehrfachdiagnosen auf (Jacobi et al. 2014). Psychische Erkrankungen sind allerdings nicht nur durch ihr spezifisches Symptombild geprägt, sondern gehen oft auch mit gravierenden Beeinträchtigungen psychosozialer Funktionen und einer beeinträchtigten Teilhabe der Betroffenen in verschiedenen Lebensbereichen einher. Insbesondere schwer und chronisch psychisch kranke Menschen sind hohen Risiken beruflicher Exklusion ausgesetzt. Mittlerweile lassen sich knapp 43 % aller gesundheitsbedingten Frühberentungen auf eine psychische Erkrankung zurückführen (DRV 2016). Der Anteil der Betroffenen in den Werkstätten für behinderte Menschen wächst stetig an. Ein weiterer nicht unerheblicher Anteil der psychisch kranken Menschen nimmt andere beschützte Angebote beispielsweise in Tagesstätten in Anspruch. Es wird geschätzt, dass lediglich 10–20 % der Betroffenen einer beruflichen Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachgehen. Dementsprechend hoch ist der Anteil langzeitarbeitsloser psychisch kranker Menschen (Gühne u. Riedel-Heller 2015). Eine durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Auftrag gegebene Vorgängerstudie verweist darauf, dass nach Krankenkassendaten mehr als ein Drittel der SGB-II-Leistungsempfänger im Laufe eines Jahres eine psychiatrische Diagnose erhielten (Schubert et al. 2013).
Dabei ist die gesundheitsförderliche Wirkung von Arbeit in der Psychiatrie schon lange bekannt. Die Wurzeln arbeitsrehabilitativer Ansätze reichen weit zurück (Becker et al. 2005). Zahlreiche Studien haben die positiven Effekte von Arbeit in der Rehabilitation psychisch kranker Menschen auf die körperliche und seelische Gesundheit belegt (Luciano et al. 2014). Arbeit ist in vielerlei Hinsicht auch für Menschen mit einer psychischen Erkrankung von Bedeutung, denn sie bietet neben Struktur, sozialer Kontaktmöglichkeit und finanzieller Anerkennung vor allem auch die Möglichkeit zu sinnvollem Tun und ermöglicht damit Identifikation und Bestätigung (BAR 2010).
Trotz der Bedeutung von Arbeit und vielfältiger Unterstützungsmöglichkeiten in Deutschland bleibt vielen der Betroffenen eine gleichberechtigte berufliche Teilhabe verwehrt. Wichtig erscheint vor diesem Hintergrund eine Bedingungsanalyse, um unterstützende Maßnahmen gezielter ausformen und platzieren zu können. Ziel der hier vorgestellten Studie „Psychisch Kranke im SGB II“ war eine Analyse der spezifischen Situation von Personen mit einer psychischen Erkrankung im SGB II. Das Gesetz regelt den Lebensunterhalt und Integrationsangebote für arbeitsfähige Personen, deren Einkommen nicht bedarfsdeckend ist und die keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Leistungsbeziehende werden in Jobcentern betreut, die es in zwei Varianten gibt: Drei Viertel sind gemeinsame Einrichtungen (gE) von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen, die Übrigen zugelassene kommunale Träger (zkT), die die Leistungsberechtigten in eigener Regie betreuen.
Kern des Projekts war die Erfassung der individuellen Problemlagen der Betroffenen und des institutionellen Umgangs mit ihnen. Die Erhebung bei den Betroffenen zielte auf biografische Erfahrungen mit ihrer Krankheit und mit Arbeit ab, auf die Rolle, die Arbeit für sie wieder haben könnte, sowie auf Erfahrungen mit der Betreuung durch die Jobcenter. Der andere Schwerpunkt lag auf der konkreten Fallbearbeitung durch die Jobcenter sowie der Betreuung durch die Einrichtungen des ärztlichen und psychosozialen Versorgungssystems.
Methoden des Projekts „Psychisch Kranke im SGB II“
Kern der Untersuchung waren Fallstudien in acht SGB-II-Jobcentern, drei davon zugelassene kommunale Träger (s. oben). Bei der Stichprobe wurde auf die räumliche Verteilung, die Arbeitsmarktlage und die Zugehörigkeit zu verschiedenen SGB-II-Typen nach der Typisierung des IAB (vgl. Dauth et al. 2013) geachtet. Die Studie basiert auf umfangreichen Dokumentenanalysen sowie leitfadengestützten qualitativen Interviews. Im Zentrum der Auswertung stehen der Ansatz der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014) sowie inhaltliche „Querauswertungen“ unter Verwendung der Methodik der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2003).
In den Jobcentern wurden 25 Fachkräfte (20 Frauen und fünf Männer) befragt, darunter Fallmanager, persönliche Ansprechpartner und Reha-Fallmanager. Elf Interviews wurden mit Mitarbeitern aus den Fachdiensten der Bundesagentur für Arbeit (BA) oder den zuständigen Gesundheitsämtern geführt. Weitere neun Gespräche fanden bei Führungskräften der Jobcenter statt.
In Einrichtungen der psychosozialen Versorgung wurden insgesamt 29 Mitarbeiterinnen und 15 Mitarbeiter befragt. Die vier häufigsten Berufsgruppen waren Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und Ergotherapeuten. Die Einrichtungen waren überwiegend ambulant oder teilstationär ausgerichtet. Im Durchschnitt waren die Befragten 47 Jahre alt und hatten 18 Jahre Berufserfahrung mit psychisch kranken Menschen.
Schließlich wurden 43 psychisch kranke Menschen in aktueller Behandlung bzw. Rehabilitation befragt, die SGB-II-Leistungen bezogen. Die häufigste Diagnose war eine affektive Störung, gefolgt von neurotischen Belastungs- oder somatoformen Störungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis. Knapp die Hälfte der Betroffenen wies eine Doppel- oder Dreifachdiagnose auf. Das durchschnittliche Alter der Befragten lag bei 40 Jahren, die durchschnittliche Erkrankungsdauer bei ca. acht Jahren. Der überwiegende Teil der Betroffenen befand sich zum Zeitpunkt der Befragung in einem ambulanten Behandlungssetting; fünf nahmen eine (teil)stationäre Behandlung in Anspruch. An einer beruflichen Reha-Maßnahme nahmen 15 der Befragten teil.
Die Erwerbslosigkeit bzw. der SGB-II-Bezug dauerten durchschnittlich fünf Jahre an; die längste Arbeitslosigkeit ließ sich bis 1996 zurückführen. Neben denjenigen Befragten, die aufgrund von Schul- und Ausbildungsabbrüchen nie einer „richtigen“ Tätigkeit nachgingen und mehr oder weniger Praktika, Minijobs oder Hilfstätigkeiten ausgeführt haben, beschrieb ein Teil der Befragten, über mehrere Jahre ausbildungsgemäß aktiv tätig gewesen zu sein (z.B. als Hotelfachfrau, Aufzugsmonteur, Journalist).
Ergebnisse
Der Wunsch nach Arbeit aus Sicht der Betroffenen
Die Mehrheit der Befragten maß dem Thema Erwerbsarbeit im Lebensverlauf einen zentralen Stellenwert zu. Positiv benannte Aspekte waren dabei: Anerkennung und Bestätigung erfahren, Lebensfreude und Selbstwertgefühl steigern, soziale Integration und Tagesstrukturierung verbessern, Selbstverwirklichung erreichen. Auch finanzielle Aspekte spielten eine nicht unerhebliche Rolle. Vorausgegangene berufliche Erfahrungen assoziierten die Betroffenen im Allgemeinen mit einer gesundheitsförderlichen und stabilisierenden Wirkung: „Sobald halt wie gesagt, immer irgendwo mal eine Lücke war, dann geht es einem ein bisschen schlechter, und wenn man eine Arbeit hat, geht es einem wieder gut.“ (Betroffener)
Gleichzeitig könne Arbeit zur Last und zur Qual werden, so die Betroffenenperspektive. Kritisch in diesem Zusammenhang werden beispielsweise ein zu großer Druck und eine hohe Arbeitsbelastung im Job benannt. Die Angst vor einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit oder vor einem erneuten Erkrankungsrückfall sei hier sehr groß. Gefüttert werde diese Sorge auch aus negativen Erfahrungen in der Vergangenheit. Dabei wurden Überstunden, Unterbezahlung, Nacht- und Schichtdienste, Wochenendarbeit, Springertätigkeiten, unregelmäßige Pausenzeiten und mangelnde Erholungsphasen hervorgehoben, die aus Sicht der Betroffenen psychisch destabilisierend wirken können: „Also die Firma war nicht mehr in der Lage, ihre Kunden zu bedienen, sag ich mal so. Also, die hatten einfach zu wenige Monteure für viel zu viel Arbeit. Und das hieß dann für mich, auch mal an einem Sonnabend arbeiten, und Freitag, und dann hat sich das gar nicht mehr gelohnt, die 500 Kilometer nach Hause zu tüddeln, und wieder zurück, bloß um die Wäsche zu waschen. Und das hat dann halt auf Dauer so geschlaucht. Da ging nichts mehr.“ (Betroffener)
Arbeitsdruck bedeute für die Betroffenen auch, immer präsent zu sein und neben hoher Quantität auch hohe Qualität zu liefern. Eine möglicherweise krankheitsbedingte Abwesenheit oder resultierende Mängel aufgrund von beispielsweise Konzentrationsproblemen schürten bei den Betroffenen die Angst vor einem (erneuten) Beschäftigungsverlust.
Die Angst, die beruflichen Anforderungen nicht erfüllen zu können und erneut in eine psychische Krise zu geraten, spiele deshalb eine große moderierende Rolle bei dem Wunsch nach Arbeit. Dabei gab die überwiegende Mehrheit der Befragten einen großen Wunsch nach einer beruflichen Beschäftigung in der aktuellen Lebenssituation an. Besonders groß sei der Wunsch nach einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Die Realität sieht jedoch anders aus. Laut Befragten würde in fast allen Fällen nach Beendigung der aktuellen Reha-Maßnahmen oder Arbeitsgelegenheiten (sog. AGHs) keine Übernahme erfolgen. Sollte es dennoch gelingen, eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erreichen, dann würde diese häufig am Ende der Probezeit enden oder es handele sich primär um Kurzzeitverträge mit Zeitarbeitsfirmen. Keine sichere Perspektive zu haben, stelle für die Betroffenen eine zusätzliche große emotionale Belastung dar.
Einige der Befragten berichteten auch von erlebbaren Einschränkungen in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit durch die psychische Erkrankung. Eine Vollzeitbeschäftigung stelle für sie deshalb eine unüberwindbare Herausforderung dar, deren Bewältigung sie sich aktuell nicht gewachsen fühlen. Aber auch diese Menschen wünschten sich einen „normalen“ Job auf Teilzeitbasis oder zumindest stundenweise. „Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich von heute auf morgen keine Achtstundenschicht machen kann irgendwo. Aber zumindest stundenweise, das möchte ich schon gerne machen, ja. Weil […] zuhause sitzen, das ist nicht mein Charakter.“ (Betroffener)
Lediglich ein kleinerer Anteil der Befragten schätzte sich selbst aufgrund der psychischen Erkrankung momentan nicht als arbeitsfähig ein. Für diese Menschen stünde zum jetzigen Zeitpunkt die Genesung im Vordergrund; erst unter der Voraussetzung einer psychischen Stabilisierung könne das Thema Arbeit für sie wieder an Relevanz gewinnen.
Der Wunsch nach einer „richtigen“ Arbeit ist bei den meisten der befragten psychisch kranken Menschen groß, die Hoffnung, diese zu finden, haben einige der Befragten jedoch nach vielen Jahren der erfolglosen Suche aufgeben: „Ja, [der Wunsch nach Arbeit existiert] eigentlich schon, im Grunde. Aber irgendwie habe ich immer so das Gefühl, mich lässt keiner. Also, ich versuche immer mein Bestes da zu geben. Ich habe auch überall, wo ich jetzt gewesen bin – ich habe Praktika gemacht, ich habe Lehrgänge gemacht, habe ich immer gute Resonanzen gekriegt. […] Irgendwie habe ich mich auch schon an dieses Leben gewöhnt. Also kann man auch so sagen. Ich meine das geht jetzt über, ich meine, ich kann ja jetzt mal so in Zahlen mal sagen, ohne Unterbrechung, wie eben diese Maßnahmen und so, gehen erstmal zwanzig Jahre um, ne?“ (Betroffener)
Die Beratung in den Jobcentern
Die Mehrheit der befragten Fachkräfte definiert die (Re-)Integration in Arbeit für psychisch kranke Leistungsberechtigte eher als langfristiges Ziel und stellt zunächst die Stabilisierung der Gesundheit der Betroffenen in den Vordergrund. Bis zum Zeitpunkt einer weitgehenden gesundheitlichen Stabilisierung würden die psychisch kranken Leistungsberechtigten nach Auskunft der meisten Fachkräfte aber weitgehend „in Ruhe gelassen“, was diese durchaus wohlwollend meinen und der Überzeugung sind, im Interesse der Betroffenen zu handeln.
„So, und dann kann ich beispielsweise auch sagen: Ich lasse dich jetzt erstmal ein halbes Jahr in Ruhe, aber du weist mir auch die regelmäßigen – ich sage mal – gesprächstherapeutischen, äh die Facharztgespräche nach und, und, und. Das läuft dann in der Regel auch ganz unproblematisch, weil die wissen, ähm (…) sie haben die Zeit, um gesund zu werden.“ (Fallmanager)
In der Zwischenzeit beschränkt sich der Austausch und die Beratung in diesen Fällen in der Regel darauf, lose Kontakt zu den Klienten zu halten und in größeren zeitlichen Abständen nachzufragen, wie die Behandlung bzw. Therapie voranschreitet. Die (Re-)Integration in Arbeit wird daher oftmals erst als ein Schritt nach vielen anderen angegangen.
Während dies möglicherweise im Sinne derjenigen Betroffenen ist, die eine arbeitsbezogene Aktivierung eher als bedrohlich empfinden, gibt es auch psychisch kranke Leistungsberechtigte, die sich durch diese Praxis unterfordert fühlten. Sie würden eine enge Anbindung und Förderung durch die Jobcenter favorisieren, um rascher eine Ausbildung oder eine Arbeit aufnehmen zu können.
„Man will auch nicht ewig von Hartz IV leben, sag ich mal so. Ich zumindest nicht. Und von daher war es schon ein bisschen blöd, dass, weil ich habe das nicht verstanden, ich war in Behandlung und so, und habe mich gut gefühlt, und eigentlich hätte ich auch arbeiten könne oder eine Ausbildung machen können.“ (Betroffener)
Auch eine Förderung mit arbeitsbezogenen Maßnahmen kommt durchaus für psychisch kranke arbeitslose Menschen in Frage. Neben Coachingmaßnahmen, die an sechs der acht Standorte stattfanden, wurden auch AGHs als geeignet für die Zielgruppe bezeichnet, insbesondere wenn darin sozialpädagogische Betreuung stattfindet oder Psychologen die Maßnahme mitbetreuen. Aus Sicht der befragten Akteure in den Jobcentern sorgen AGHs bei den psychisch kranken Menschen für Tagesstruktur und stabilisieren die Klienten.
Ein Teamleiter berichtete, dass manche Teilnehmende „aufblühen“, weil sie eine Tagesstruktur und eine Betreuung haben. Als besonders relevant sahen die Fachkräfte es an, dass Maßnahmen gerade für diese Zielgruppe eine gewisse Dauer haben müssen. Einvernehmlich wurde argumentiert, dass Maßnahmen mit einer Dauer von unter sechs Monaten wenig Sinn ergäben. Dies trifft auf Maßnahmen wie Bewerbungstrainings, Maßnahmen in Vollzeit und Gruppenmaßnahmen zu.
Ebenfalls von Fachkräften wurden Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gelobt („Mercedes unter den Maßnahmen“ [Reha-Fallmanager]), da Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen etc. einbezogen sind. Betont wurde aber auch, dass diese sehr teuer seien und dass wegen der hohen Anforderungen die Voraussetzungen seitens der Leistungsberechtigten stimmen müssten. Wenig erwähnt und kaum genutzt wurde dagegen die „unterstützte Beschäftigung“ nach § 38a SGB IX, die in den vorgeschalteten Expertengesprächen häufiger genannt worden war und die auch von Schubert et al. (2013) ins Spiel gebracht wurde.
Etwa drei Viertel der hier befragten Klienten hatten in der Vergangenheit arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erhalten; in erster Linie waren das Coaching-Maßnahmen und AGHs, die von der Hälfte der Befragten positiv erlebt und bewertet wurden. Insbesondere der Erhalt von Tagesstruktur („Man hat Struktur“; „entkommt dieser Tristheit“, „hängt nicht zu Hause durch“, „geregelter Ablauf des Tages“, „man kommt raus“) und eine gestaffelte zeitliche Heranführung an Arbeit wurden als zentral und hilfreich betrachtet. Andere Befragte berichteten von negativen oder ambivalenten Erfahrungen (z.B. fehlende Passgenauigkeit, das Gefühl der „Aufbewahrung“, wiederholte Abbrüche nach Maßnahmeende). Diese Beispiele zeigen, dass sich die Beratung psychisch kranker und erwerbsloser Menschen häufig auf die Erwartung einer zukünftigen Genesung konzentriert und dass andererseits das Spektrum der Maßnahmen, das für diesen Personenkreis zur Verfügung steht, überschaubar und wenig passgenau ist. Dementsprechend häufig wurde eine inadäquate Betreuung in den Jobcentern aus Perspektive der Betroffenen als eine der Barrieren im Hinblick auf eine Integration in den Arbeitsmarkt genannt. Eine weitere Barriere, auch wenn dies zunächst paradox klingt, ist jedoch der Arbeitsmarkt selbst.
Über alle Befragungsgruppen hinweg wurden Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes als zentrales Hindernis für die (Re-)Integration von psychisch Kranken benannt. So bestünden durch den Wegfall einfacher Arbeitsplätze am Arbeitsmarkt schlechte Chancen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Insgesamt sei die moderne Arbeitswelt nicht gut auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten: Die Arbeitsbedingungen seien durch einen hohen Flexibilisierungs- und Leistungsdruck sowie durch Unsicherheiten gekennzeichnet. Mitunter gebe es für psychisch kranke Menschen nur Jobs in der Zeitarbeit, die ihren Bedürfnissen nicht entsprächen, da sie dauerhafte Tätigkeiten mit fester Struktur benötigten. Schließlich gebe es auf Seiten der Arbeitgeber und Arbeitskollegen aufgrund von Unwissen über psychische Erkrankungen Vorurteile, Ängste und Vorbehalte gegenüber psychisch Kranken.
Diskussion und Handlungsempfehlungen
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass dem Arbeitswunsch vieler psychisch kranker Leistungsberechtigter im SGB II eine unbefriedigende Beratungs- und Betreuungsrealität in den Jobcentern gegenübersteht. Dies betrifft zunächst die allgemeine Beratungskompetenz in der Vermittlung, wo häufig mit Defizitzuschreibungen anstelle einer Ressourcenorientierung gearbeitet wird. Fallmanagement und Reha-Beratung schneiden im Urteil der Betroffenen dagegen besser ab. Weit verbreitet ist darüber hinaus die – dem Umgang mit körperlichen Erkrankungen entlehnte – Vorstellung, die Betroffenen müssten zunächst gesund werden; erst dann könne man sich um Integration bemühen. Schließlich fehlten den befragten Fachkräften überwiegend die fachlichen Kenntnisse und den Jobcentern die Konzepte, die erforderlich wären, um mit den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen psychisch kranker Menschen umzugehen.
Auf der institutionellen Ebene trat das Problem auf, dass die integrationsorientierte Zielsteuerung der Jobcenter eine Konzentration der Betreuung und Maßnahmenzuweisung auf leichter „Vermittelbare“ fördert, so dass psychisch kranke Menschen mit stärkeren Einschränkungen durchs Raster zu fallen drohen. Zusätzlich verhindert eine zu geringe psychosoziale Versorgungsdichte, die mit langen Wartezeiten verknüpft ist, dass die Betroffenen sinnvolle und aufeinander bezogene Unterstützungsleistungen erhalten. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die den besonderen Bedürfnissen der Betroffenen stärker gerecht werden, liegen in zu geringem Umfang vor oder können nicht finanziert werden. Besonders moniert wurden das Fehlen langfristig geförderter Beschäftigung sowie die geringe Bedeutung der unterstützten Beschäftigung.
Ein Problem, das den Gesetzgeber betrifft, liegt in der Regelung zur Erwerbsfähigkeit: Fachkräfte machen häufig die Erfahrung, dass Personen, die sie selbst sowie behandelnde Ärzte für nicht erwerbsfähig halten und für die es auch keine passenden Angebote gibt, in letzter Instanz von der Rentenversicherung „erwerbsfähig geschrieben“ werden.
Aus dieser kritischen Befundlage leiten sich die Empfehlungen ab, die allgemeine Beratungskompetenz in den Jobcentern weiter zu erhöhen, Recovery-orientierte Ansätze1 zu implementieren und die notwendigen Kenntnisse der besonderen Problemlagen psychisch kranker Menschen in Form von Schulungen, Handreichungen etc. zu verbessern. Solange es keine gesetzliche Exit-Option gibt, sollten Personen am Rande der Erwerbsfähigkeit in den Jobcentern weiterhin betreut werden und Dienstleistungen erhalten, die sich an den Zielen des Gesundheitserhalts und sozialer Stabilisierung orientieren. Der Maßnahmeeinsatz bei psychisch kranken Menschen sollte in ein längerfristiges Konzept eingebettet sein, dabei sollte eine Mindestdauer der einzelnen Maßnahme von mehreren Monaten keinesfalls unterschritten werden. Weiterhin wäre es wünschenswert, sich stärker an den Prinzipien von Supported Employment (vgl. Gühne u. Riedel-Heller 2015) zu orientieren und langfristige Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt mit der notwendigen Unterstützung zu nutzen. Schließlich erscheint es dringend erforderlich, Ansätze der Kooperation zwischen Jobcentern und Einrichtungen der psychosozialen Versorgung systematisch zu intensivieren, um psychisch kranken Leistungsberechtigten im SGB II passgenaue Dienstleistungen anzubieten, die die Integration und soziale Teilhabe dieser großen Gruppe im SGB II verbessern helfen.
Literatur
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Schrank B, Amering M: „Recovery“ in der Psychiatrie. Neuropsychiatrie 2007; 21: 45–50.
Schubert M, Parthier K, Kupka P, Krüger U, Holke J, Fuchs P: Menschen mit psychischen Störungen im SGB II. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), IAB-Forschungsbericht, 12/2013.
Danksagung. Unser Dank gilt allen Betroffenen, den Mitarbeitern in den Jobcentern und Fachdiensten der BA sowie den zuständigen Gesundheitsämtern, den Chefärzten der Regionen und teilnehmenden Behandlern, mit denen wir Kontakt hatten und die die Durchführung der Studie unterstützt haben. Darüber hinaus wollen wir Frank Oschmiansky und Sandra Popp (Zentrum für Evaluation und Politikberatung, ZEP) sowie Michaela Schwarzbach danken.
Förderung. Initiiert und unterstützt wurde die Studie „Psychisch Kranke im SGB II: Situation und Betreuung“ durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Rahmen der SGB-II-Wirkungsforschung (§ 55 Abs. 1 SGB II).
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Für die Verfasser
Dr. phil. Peter Kupka, Dipl.-Psych.
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit
Regensburger Str. 104
90478 Nürnberg
Fußnoten
1Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP) (Direktorin: Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller, MPH), Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
2Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg
1 Recovery als Leitprinzip für das Ziel einer besseren Teilhabe in der Gesellschaft wird in diesem Zusammenhang als ein „Prozess von persönlichem Wachstum und Entwicklung“ gesehen, „in dem Betroffene die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen einer psychischen Erkrankung überwinden und (auch mit oder trotz weiter bestehender Symptomatik und psychosozialer Einschränkung) zurück zu einem erfüllten, sinnhaften und selbstbestimmten Leben finden und einen positiven Beitrag in der Gesellschaft leisten können“ (Schrank u. Amering 2007, S. 45–46).