Psychosoziale Unterstützung durch kollegiale Erstbetreuung in Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege – eine Implementationsstudie
Einleitung: Beschäftigte im Gesundheitsdienst sind kritischen Ereignissen wie Gewalt ausgesetzt, die psychisch belastend sind. Die Unterstützung durch kollegiale Erstbetreuer kann helfen, die Folgen dieser kritischen Ereignisse zu bewältigen. Das setzt aber eine entsprechende Qualifikation der Erstbetreuer voraus. In einer Implementationsstudie wurde daher geprüft, ob es durch Schulungen gelingt, die Kompetenz der Erstbetreuer bei der Unterstützung von Kollegen nach kritischen Ereignissen zu steigern.
Methode: Insgesamt wurden 50 kollegiale Erstbetreuer in einem zweitägigen Workshop ausgebildet. Zehn Betreuer stammten aus einem psychiatrischen Akutkrankenhaus und 40 aus Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Zu drei Zeitpunkten wurden die Erstbetreuer zu ihrem Vertrauen in die eigene Kompetenz und zu ihren Erfahrungen mit der Erstbetreuung befragt (vor, direkt nach und zwei Jahre nach der Schulung).
Ergebnisse: Durch die Schulung ist es gelungen, das Vertrauen der Betreuer in ihre eigene Kompetenz bei der Unterstützung von Kollegen nachhaltig zu steigern. Zu allen drei Messzeitpunkten war dieses Vertrauen bei den Beschäftigten aus dem psychiatrischen Akutkrankenhaus stärker ausgeprägt als bei den Beschäftigten aus den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Bei schwerwiegenden Ereignissen (z. B. Suizid) war es geringer als bei weniger schwerwiegenden Ereignissen (z. B. Beschimpfung). Während der zwei Jahre nach der Schulung wurden insgesamt 91 Einsätze erbracht. Fast alle Mitarbeiter des psychiatrischen Krankenhauses und jeder zweite Mitarbeiter der Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen absolvierten Einsätze in den beiden Jahren nach der Schulung.
Schlussfolgerung: Die kollegiale Betreuung wurde in den Einrichtungen gut akzeptiert. Die Teilnehmer der Schulung gaben an, dass sich ihr Vertrauen in die eigene Kompetenz bei der Betreuung nach kritischen Ereignissen verbessert habe. Die kollegiale Erstbetreuung ist daher wahrscheinlich eine Möglichkeit, die negativen Auswirkungen kritischer Ereignisse bei Beschäftigen im Gesundheitsdienst zu reduzieren.
Schlüsselwörter: kritische Ereignisse – Gewalt – kollegiale Erstbetreuung – Evaluation
Psychosocial support through front-line peer support in the healthcare and welfare sectors – an implementation study
Introduction: Employees in the healthcare sector are exposed to critical events, such as violence, which might have a negative impact on their mental health. Support from front-line peer support workers can provide an opportunity to counteract the effects of these critical events. An implementation study therefore examined whether the ability of front-line support workers to support colleagues following critical events can be increased as a result of training.
Methodology: A total of 50 front-line peer support workers received training during a two-day workshop. Ten of the support workers were from an acute psychiatric hospital and 40 were from facilities for people with disabilities. The front-line support workers were surveyed on their confidence in their own ability and on their experiences in providing front-line support at three points in time (prior to, immediately after and two years after the training).
Results: As a result of the training, the support workers’ confidence in their own ability to support colleagues showed a lasting increase. At each of the three points in time, this confidence was stronger among the employees from the acute psychiatric hospital than among the employees from the facilities for people with disabilities. The level of confidence was lower for serious events (e.g. suicide) than for more minor events (e.g. verbal abuse). In total, support was provided on 91 occasions during the follow-up period after the training. Almost all the employees at the psychiatric hospital and half of the employees at the facilities for people with disabilities provided support in the two years following the training.
Conclusion: The peer support was well accepted at the facilities. The participants in the training stated that their confidence in their own ability to provide support after critical events increased. Front-line peer support is therefore likely to be an opportunity to reduce the negative effects of such events on employees in the healthcare sector.
Keywords: critical events – violence – front-line peer support – evaluation
Einleitung
Beschäftigte im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege sind vielfältigen psychisch belastenden Ereignissen, wie Suiziden, schweren Unfällen oder Begleiten von qualvollem Tod, ausgesetzt. Besonders gravierend ist es, wenn Gewalt gegenüber Betreuern, Pflegekräften und Medizinern ausgeübt wird (Nienhaus et al. 2016). In einem Survey, der 2012 veröffentlicht wurde, hatten 78 % der befragten Betreuer und Pflegekräfte in den vorangegangenen 12 Monaten verbale und 56 % physische Gewalt erlebt (Schablon et al. 2012). Ähnlich hohe Zahlen wurden auch in anderen Studien ermittelt (Hahn et al. 2013; Bernaldo-De-Quiros et al. 2015; Hanson et al. 2015; Edward et al. 2014). Körperliche Verletzungen als Folge von Übergriffen werden gut versorgt, Verletzungen der Psyche bleiben jedoch oftmals unbeachtet (Richter 2007). Gewalt gegenüber Pflegekräften und Betreuern kann zu schwerwiegenden Folgen bei den Betroffenen und den Organisationen führen (Lundström et al. 2007; Nachreiner et al. 2007). In Deutschland fühlt sich jede dritte Pflegekraft durch wiederholte verbale und körperliche Gewalt schwer belastet (Schablon et al. 2012). Diese Ereignisse haben nicht nur negative Effekte auf die Gesundheit der Betroffenen (De Puy et al. 2015), sondern wirken sich auch negativ auf die Patienten- oder Klientenbeziehungen (Gates et al. 2011) und die Organisationskultur aus (Edward et al. 2014).
Aufgrund des Risikos im Gesundheits- und Sozialwesen, Arbeitsunfälle durch Gewaltereignisse zu erleben, sollten Betriebe ein systematisches Aggressionsmanagement etablieren. Neben der Implementierung von spezifischen Interventionen für jede Eskalationsphase inklusive der Entwicklung möglicher Handlungsstrategien für Teams und einzelne Beschäftigte (Walter et al. 2012, S. 114) ist eine adäquate Nachsorgestrategie bei Auftreten von Gewalt oder anderen kritischen Ereignissen wichtig (Gillespie et al. 2010; OSHA 2016). In Deutschland ist es Pflicht, Beschäftigte in Erster Hilfe auszubilden. Für psychisch Verletzte ist eine adäquate Versorgung in den meisten Fällen jedoch nur unzureichend sichergestellt, obwohl belegt ist, dass eine gute Vorbereitung auf kritische Ereignisse das Belastungsempfinden der Beschäftigten positiv beeinflussen kann (Schablon et al. 2012; Schat et al. 2003).
Die kollegiale Erstbetreuung durch geschulte Mitarbeiter ist eine Möglichkeit, für eine anschließende Versorgung nach einem kritischen Ereignis oder nach Übergriffen zu sorgen. Diese Form der Betreuung verfolgt explizit keine therapeutischen Ziele, sondern bietet soziale und praktische Unterstützung nach belastenden Ereignissen an. Vorteile gegenüber einer extern organisierten Krisenintervention sind die zeitliche und räumliche Nähe des Betreuers zum Betroffenen sowie das Vertrauensverhältnis unter Kollegen (Walter et al. 2012, S. 442; DGUV 2015).
Während in anderen Branchen, beispielsweise in Verkehrsunternehmen, psychosoziale Akutversorgungssysteme oftmals existieren, gibt es im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege nur selten etablierte Versorgungswege nach einem potenziell traumatisierenden Ereignis. In Anlehnung an das Konzept der psychologischen Erstbetreuung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV 2015) haben wir daher eine Schulung für kollegiale Erstbetreuer in diesem Bereich konzipiert und im Rahmen einer Implementationsstudie evaluiert. Im Vordergrund der Evaluation standen die Fragen, ob die Teilnehmer sich durch eine Schulung besser zutrauen, eine kollegiale Erstbetreuung nach einem kritischen Ereignis durchzuführen und ob durch die Schulung organisatorische Veränderungen, wie die Etablierung eines Meldesystems, zum verbesserten Umgang mit kritischen Ereignissen herbeigeführt werden können.
Methoden
Insgesamt wurden 50 Beschäftigte aus zwei unterschiedlichen Behinderteneinrichtungen und einem psychiatrischen Akutkrankenhaus in einem zweitägigen Training zum innerbetrieblichen Erstbetreuer ausgebildet. Die Schulungen fanden in den jeweiligen Betrieben statt.
Das Training bestand aus vier Blöcken:
- Ein inhaltlich-fachlicher Teil mit Definitionen, Begriffsabgrenzungen, mögliche Stress- und Belastungsreaktionen aus potenziell traumatisierenden Ereignissen, Beanspruchungsverläufe und langfristige Folgen.
- Ein praktischer Teil mit Übungen zu den Grundregeln der betrieblich-kollegialen Erstbetreuung, Kommunikation und Gesprächsführung mit Betroffenen.
- Ein Teil mit Sensibilisierung für die eigenen Grenzen und Reflexion der eigenen Rolle und des Selbstbildes als Helfer.
- Ein theoretischer Teil zu den betrieblichen Rahmenbedingungen, den rechtlichen Grundlagen (Fürsorgepflicht/Datenschutz) sowie der Gestaltung des betrieblichen Konzepts zum Umgang mit Gewalt und kritischen Ereignissen (z. B. Gefährdungsbeurteilung, Notfallpläne, Meldepflichten, Arbeitsunfall).
Für die Evaluation wurde ein quantitatives und qualitatives Vorgehen gewählt. Zu drei Zeitpunkten wurden in den Betrieben quantitative Befragungen durchgeführt: vor dem Training (T1), direkt nach dem Training (T2) und zwei Jahre nach Abschluss des Trainings (T3). Zum dritten Zeitpunkt wurden zudem teilstrukturierte Gruppeninterviews durchgeführt.
Der zu T1 eingesetzte Fragebogen bestand aus 22 Fragen. Neben soziodemografischen Daten (z. B. berufliche Position) wurde die Art und Anzahl von Gewaltereignissen erhoben. Zur deren Erfassung wurde ein Fragebogen in Anlehnung an den SOAS-R (Staff Observation Aggression Scale-Revised) eingesetzt (Nijman 1999). Der Erfolg der Maßnahme wurde daran gemessen, inwiefern sich die Erstbetreuer durch die Ausbildung besser befähigt und qualifiziert fühlten, mit von kritischen Ereignissen betroffenen Kollegen umzugehen. Zu allen drei Messzeitpunkten wurden die Teilnehmer gefragt, wie sicher oder unsicher sie sich bei der kollegialen Betreuung nach bestimmten Ereignissen unterschiedlicher Schwere (z. B. Beschimpfung oder Suizid) gefühlt hätten. Für insgesamt acht Situationen sollten sie ihre Selbsteinschätzung auf einer Skala von 0 bis 100 angeben, wobei 0 vollständig unsicher und 100 sehr sicher bedeutete. Zum dritten Befragungszeitpunkt wurden der Grad der Implementierung der Erstbetreuung in der Organisation und eventuell aufgetretene Schwierigkeiten sowie Wünsche und Erwartungen der Teilnehmer abgefragt. Zusätzlich wurden in einem teilstrukturierten Gruppeninterview in zehn Komplexen vertiefende Fragen gestellt (z.B. zur Etablierung eines Betreuungssystems, zu Erfolgsfaktoren für eine erfolgreiche Implementierung oder zu dem kritischen Ereignis, das Anlass für die kollegiale Betreuung war). Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und anschließend in Anlehnung an Mayring ausgewertet (Neuendorf 2016). Die quantitativen Daten wurden mittels SPSS Statistics 21 ausgewertet.
Studienteilnehmer
Die Teilnehmer der Ausbildung wurden durch die Institutionen rekrutiert. Von den insgesamt 50 Beschäftigten kamen 40 (80 %) aus Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und zehn (20 %) aus einem psychiatrischen Krankenhaus. Die meisten Teilnehmer waren in Betreuungs- und Pflegeberufen tätig (63 %), die restlichen Beschäftigten in Mitarbeitervertretung, Schul- und Werkstattbereichen, Personalabteilung, Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Psychologie und Seelsorge. Die Drop-out-Quote zum dritten Befragungszeitpunkt betrug in den Behinderteneinrichtungen 31 % (n = 10), in dem akutpsychiatrischen Krankenhaus gab es keinen Drop-out.
Ergebnisse
Häufigkeit und Schwere von Gewalt
Sowohl im psychiatrischen Akutkrankenhaus als auch in den Behinderteneinrichtungen kamen innerhalb eines Jahres nahezu alle Arten von Gewalt in unterschiedlicher quantitativer und qualitativer Ausprägung vor. Am häufigsten wurden Beschimpfungen genannt (Psychiatrie 90 %, Behinderteneinrichtung 87,5 %). Weitere Aggressionsformen waren: Bedrohungen (Psychiatrie 70 %, Behinderteneinrichtung 34 %), Autoaggressionen (Psychiatrie 80 %, Behinderteneinrichtung 28 %), schwere gegen Mitarbeiter gerichtete Gewalt, die nicht ärztlich behandelt werden musste (Psychiatrie 80 %, Behinderteneinrichtung 39 %), schwere gegen Mitarbeiter gerichtete Gewalt, die ärztlich behandelt werden musste (Psychiatrie 70 %, Behinderteneinrichtungen 26 %), Suizide (Psychiatrie 80 %, Behinderteneinrichtung 8 %), sexuelle Belästigung (Psychiatrie 60 %, Behinderteneinrichtung 18 %) und ein sexueller Übergriff/Vergewaltigung in dem psychiatrischen Krankenhaus.
Bei der Einschätzung der kollegialen Erstbetreuer, wie sicher sie sich im Umgang mit Betroffen fühlen, gab es Unterschiede in Bezug auf den Zeitpunkt der Befragung, die Art des Gewaltereignisses und die Branchenzugehörigkeit ( Tabelle 1).
Direkt nach der Schulung zum Erstbetreuer (T2) konnte ein Wissenszuwachs und ein damit verbundenes Kompetenzerleben festgestellt werden. Das Wissen nahm in den zwei Jahren nach der Schulung, abgesehen von einem kleinen Zuwachs bei Autoaggressionen (von 89 auf 92 %) bei der Gruppe aus der Psychiatrie, nicht mehr zu. Ungeachtet dessen zeigt sich im Vorher-Nachher-Vergleich (T1 zu T3) ein insgesamt größeres Vertrauen in die eigene Kompetenz bei allen kritischen Ereignissen.
Bei häufig vorkommenden Ereignissen, wie zum Beispiel Beschimpfungen, schätzten die Teilnehmer zum Zeitpunkt T3 ihre Betreuungskompetenz als hoch ein. Am geringsten eingeschätzt wurde sie im Umgang mit Mitarbeitern, die von sexuellen Übergriffen betroffen sind. Dieses Ereignis hatte sowohl vor als auch zwei Jahre nach der Ausbildung den niedrigsten Wert aller Ereignisse.
Der Anteil derjenigen, die sich im Umgang mit Beschäftigten, die mit einem Suizid konfrontiert waren, sicher fühlten, war bei den Teilnehmern aus dem psychiatrischen Krankenhaus signifikant (p
Erstbetreuungssystem in der Organisation vor der Schulung
Vor der Einführung der kollegialen Erstbetreuung und der Ausbildung der Betreuer gab es in allen drei Einrichtungen kein systematisches Nachsorgeverfahren zum Umgang mit Gewalterfahrungen oder anderen belastenden Ereignissen. Nach der Schulung etablierten alle drei Einrichtungen ein solches Verfahren.
In jeder Institution wurden unterschiedliche Unterstützungsmöglichkeiten genutzt, um mit solchen Ereignissen umzugehen: Alle Beschäftigten des akutpsychiatrischen Krankenhauses gaben an, aufgetretene Vorfälle im Team zu besprechen. 90 % berichteten über Auffanggespräche, die unsystematisch angeboten würden. Die Möglichkeit der Weiterleitung an interne Hilfsbereiche wie etwa die Arbeitsmedizin kannten 90 %, die Möglichkeit externe Stellen (z. B. Krisendienste, Berufsgenossenschaft) einzuschalten, 80 %. Unterstützungsangebote in der Organisation waren jedem Teilnehmer bekannt (100 %).
Die Teilnehmer aus den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen gaben überwiegend (75 %) kollegiale Gespräche als Hilfestellung nach belastenden Ereignissen an, danach folgten die Weiterleitung an interne Unterstützer (50 %) und externe Unterstützungsmöglichkeiten (28 %). 4 % der Beschäftigten gaben an, keine Unterstützungsangebote der Einrichtung zu kennen.
Veränderungen seit der Implementierung des Erstbetreuungssystems
Als Indikatoren für eine erfolgreiche Implementierung einer systematischen kollegialen Erstbetreuung galten die Anzahl der Teilnehmer, die einen Einsatz in dem zweijährigen Zeitraum absolvierten, und die Gesamtzahl der Erstbetreuungen. Von den Teilnehmern des akutpsychiatrischen Krankenhauses gaben 91 % einen oder mehrere Einsätze als Erstbetreuer an, bei den Teilnehmern aus den beiden Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen waren es 45 % bzw. 50 %. Insgesamt gab es 91 Einsätze, davon 42 % im psychiatrischen Akutkrankenhaus und 58 % in den Behinderteneinrichtungen (davon ein Teilnehmer mit 20 Einsätzen).
Schwierigkeiten bei der Implementierung des Erstbetreuungssystems
Im Bereich Akutpsychiatrie berichteten 56 % der Teilnehmer über organisatorische Schwierigkeiten bei den Einsätzen, in der Behindertenhilfe waren es 15 % ( Tabelle 2).
Diskussion
Die Ergebnisse der Implementationsstudie belegen, dass es durch die Schulungen gelungen ist, die Sicherheit der Teilnehmer bei der Betreuung von Kollegen nach kritischen Ereignissen langfristig zu steigern. Allerdings war das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten abhängig von der Art der Einrichtung und der Art des Ereignisses. Je gravierender das Ereignis, desto geringer war die Sicherheit bei der Betreuung der betroffenen Kollegen. Die Ergebnisse der Implementationsstudie verdeutlichen ferner, dass qualitativ und quantitativ alle Arten von Aggressionsereignissen in den Organisationen vorkommen. Daraus ergeben sich zwei Implikationen:
- Unternehmer müssen auch auf sehr kritische Ereignisse vorbereitet sein und entsprechende Vor- und Nachsorgekonzepte vorhalten.
- Das Training zum kollegialen Erstbetreuer sollte die gesamte Spannbreite an Ereignissen abdecken.
Die zahlreichen Einsätze in dem psychiatrischen Krankenhaus und in der Behindertenhilfe unterstreichen ebenfalls den Bedarf an Erstbetreuung.
Der höhere Professionalisierungsgrad im akutpsychiatrischen Krankenhaus wirkte sich vermutlich positiv auf das Vertrauen in die eigene Kompetenz bei der Betreuung von Betroffenen aus. Im Vorher-Nachher-Vergleich nahm das Kompetenzgefühl bei allen Ereignissen zu, ein Effekt, der auch schon in Aggressionsmanagementausbildungen festgestellt wurde (Heckemann et al. 2015). Das Vertrauen in die eigene Betreuungskompetenz hat zwar in beiden Gruppen zugenommen. Der Anteil der Beschäftigten aus der Psychiatrie, die sich sicher fühlten, war allerdings bereits vor der Schulung höher als bei den Beschäftigten aus den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
Beide Einrichtungsarten unterschieden sich nach Art und Schwere der Ereignisse. Dies führte dazu, dass sich nur ein Drittel der Erstbetreuer in den Behinderteneinrichtungen die Hilfeleistung nach schwerwiegenden Ereignissen zutrauten. Gerade eine Akutintervention nach potenziell traumatischen Ereignissen erfordert von den Helfern ein hohes Maß an Selbstsicherheit. Fühlt sich der Erstbetreuer unsicher, so kann die Verunsicherung des von einem potenziell traumatisierenden Ereignis Betroffenen verstärkt werden. Wichtig für die Erstbetreuung sind emotionale Präsenz und das Vermitteln von Sicherheit (DGUV 2015). Bei sehr schwerwiegenden Ereignissen sollte sofort externe, professionelle Hilfe hinzugezogen werden, um die psychische Belastung für die Erstbetreuer so gering wie möglich zu halten und eine adäquate Betreuung des Betroffenen sicherzustellen. Für die Erstbetreuer sollte zudem eine Supervision folgen.
Bei der Implementierung des Erstbetreuungssystems berichteten die Teilnehmer aus dem psychiatrischen Krankenhaus über mehr Schwierigkeiten als die Befragten der Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Trotzdem hatten nahezu alle bereits Erstbetreuungseinsätze absolviert. Im Gegensatz zu den Behinderteneinrichtungen wurde des Weiteren in dem psychiatrischen Krankenhaus ein systematisches Erstbetreuungssystem implementiert.
Vermutlich aufgrund der größeren Professionalität wird in psychiatrischen Krankenhäusern häufiger im Team über kritische Vorfälle gesprochen. Möglicherweise sind die Mitarbeiter durch regelmäßig stattfindende Supervisionen und Fallbesprechungen eher daran gewöhnt, Vorfälle zu verbalisieren. Beschäftigte in den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nutzten derartige Hilfsangebote weniger. Darüber hinaus gaben die Teilnehmer Ressentiments bei der Inanspruchnahme von Hilfe seitens der Betroffenen an. Die eigene Hilfsbedürftigkeit, Angst vor Arbeitsplatzverlust (Tak et al. 2010) und Stigmatisierung führten zur Nichtinanspruchnahme der Erstbetreuung.
Eine erfolgreiche Umsetzung ist ferner abhängig von den jeweiligen Strukturen in den Einrichtungen. Die teilnehmenden Behinderteneinrichtungen verfügten über eine flächendeckende Versorgungsstruktur in der Region mit vielen kleineren, dezentralen Einrichtungen (z. B. Wohngruppen). Da diese weit voneinander entfernt liegen, stand das benötigte Personal nicht immer zur Verfügung, insbesondere in Nachtdiensten. Diese Schwierigkeiten müssen berücksichtigt werden.
Letztlich spielt die Unterstützung durch die Geschäftsführung und die Vorgesetzten eine entscheidende Rolle (Hahn et al. 2012). Betonen die Arbeitgeber die Wichtigkeit entsprechender Angebote, kann dies möglicherweise langfristig zu einem Abbau von Ängsten in der Belegschaft bei der Inanspruchnahme von Nachsorgeangeboten führen. Werden Beschäftigte wiederholt auf die Wichtigkeit der frühen Hilfe und Unterstützung aufmerksam gemacht, könnte das ein Beitrag zur Enttabuisierung sein. Grundsätzlich nehmen Führungskräfte direkt und indirekt über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen Einfluss auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter (Gregersen et al. 2016). Sie sind somit wichtige Akteure im betrieblichen Aggressionsmanagement.
Limitationen
Trotz der methodischen Sorgfalt, mit der die Studie durchgeführt wurde, hat sie einige Schwächen. Es wurden lediglich 50 Beschäftigte aus drei Einrichtungen geschult. Das schränkt die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse ein. Wichtigste Zielvariable war das Vertrauen der kollegialen Erstbetreuer in die eigene Kompetenz. Die Qualität der Betreuungen wurde nicht untersucht. Deshalb ist nicht bekannt, ob sie sich durch die Schulungen verbessert haben. In einer vergleichbaren Arbeit von Clarner et al. (2017) wurde eine gute Zufriedenheit von Bus- und Bahnfahrern mit der Erstbetreuung nach Unfällen beobachtet.
Schlussfolgerung
Der Erfolg von Erstbetreuung basiert nicht nur auf der Kompetenz der Ausgebildeten, sondern vor allem auch auf organisatorischen Voraussetzungen. Dabei ist die Berücksichtigung von Ressourcen ebenso wichtig wie die Einrichtung einer flächendeckenden Versorgung bei dezentralen Strukturen. Die Veränderung solcher Prozesse ist oft schwieriger als die Ausbildung kollegialer Betreuer. Dennoch sprechen die Ergebnisse der Implementationsstudie dafür, dass durch die Schulungen die Einrichtung eines Systems zur kollegialen Erstbetreuung nach kritischen Ereignissen gefördert wird.
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Ethikantrag: Es wurde kein Ethikantrag gestellt, da keine medizinischen Daten erhoben wurden. Der Datenschutz wurde eingehalten.
Interessenskonflikt: Die Autoren geben an, dass keine Interessenskonflikte vorliegen.
Finanzierung der Studie: Für die Studie erfolgte keine Finanzierung.
Beiträge der Autoren: CV hat die Studie konzipiert, die Datenerhebung durchgeführt und die Daten mit Unterstützung von MA ausgewertet. AN hat das Manuskript überarbeitet. Alle Autoren haben der finalen Version des Manuskripts zugestimmt.
Für die Verfasser
Claudia Vaupel
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
Abteilung Arbeitsmedizin, Gefahrstoffe und Gesundheitswissenschaften
Pappelallee 33/35/37
22089 Hamburg
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 28–32
doi: 10.17147/ASU.2018-01-04-01
Fußnoten
1 Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Abteilung Arbeitsmedizin, Gefahrstoffe und Gesundheitswissenschaften
2 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Competenzzentrum für Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen (CVcare), Hamburg