„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: Eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben / eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen / eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz“ (Das Buch Kohelet, 3.1;3.2;3.4).
Prof. Dr. med. Rainer Müller, Facharzt für Arbeitsmedizin, Gründer und langjähriger Leiter des Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen ist am 27. Oktober 2019 verstorben. Seine Bedeutung für die Arbeits- und Sozialmedizin soll an dieser Stelle besonders gewürdigt werden. Zu seinen vielfältigen Aktivitäten gehören die Pionierarbeiten mit Krankenkassendaten schon in den 1970er Jahren. Diese Sekundärdatenanalysen konnten relevante Präventionspotenziale in bestimmen Arbeitsbereichen und Berufsgruppen aufdecken. Die Gesundheitsberichte der Krankenkassen bauen auf Prof. Müllers Vorarbeiten auf.
Hervorzuheben ist, dass er nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch tätig war. Die Ärztekammer Bremen hat ihm noch in den 1980ern die Facharztanerkennung ausgesprochen. Damit wurde er zum Betriebsarzt des Flughafens Bremen bestellt – eine Tätigkeit mit Menschen, die ihm erkennbar Freude bereitet hat und Gelegenheit gab, Theorie und Praxis zu vereinbaren. Neben seiner universitären Tätigkeit war ihm diese praktische Tätigkeit als Arbeitsmediziner wichtig.
Professor Müllers Engagement galt auch der Beratung zu Berufskrankheiten. Darüber hinaus hat er die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arbeitsmedizin, speziell der Gewerbeärztinnen und Gewerbeärzte, gesucht und gefördert und wissenschaftliche Erkenntnisse zum Selbstverständnis der Arbeitsmedizin gewonnen, die nicht dem „Mainstream“ der etablierten Hochschulmedizin entsprachen und auch deshalb nicht zeitnah die gebührende Anerkennung gefunden haben. Ludwig Teleky, der noch in den 1970er Jahren für die meisten ein unbeschriebenes Blatt war, ist heute dank der „Ausgrabungsarbeiten“ Müllers und seiner Arbeitsgruppe an der Universität Bremen – als Begründer einer an Public-Health-Gedanken orientieren modernen Arbeitsmedizin anerkannt.
Beispielhaft für Müllers frühen Einsatz für einen zeitgemäßen und am Wohlbefinden des arbeitenden Menschen orientierten Gesundheitsschutz sind die von ihm gemeinsam mit Volker Volkholz und Karl-Detlef Fuchs entwickelten und 1980 im Bundesarbeitsblatt veröffentlichten Grundsätze für die menschengerechte Gestaltung der Arbeitsplätze. Die dabei zusammengefassten Erkenntnisse sind nicht nur in die Rechtsetzung eingegangen, auch ist dieses Wissen über Jahre an viele seiner Studentinnen und Studenten weitergegeben worden. Bescheidener Mensch, der er war, ist er damit nicht hausieren gegangen. Er hat beispielgebend gewirkt und wertvolle Beiträge zur Arbeits- sowie zur Sozialmedizin geliefert. Seine Verdienste um die Österreichische Fortbildung der Arbeitsmediziner vervollständigen dieses Bild.
Professor Müller war auch ausgebildeter Sozialwissenschaftler. Er dachte immer über den Tellerrand hinaus und warf Fragen der Gesunderhaltung und der Gesundheitsförderung auf, die über den Betrieb hinaus von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung waren und sind. Er widmete sich immer wieder intensiv, so auch in den letzten Jahren seines unermüdlichen Forscherlebens, der Frage der Widereingliederung und der Beschäftigungsfähigkeit chronisch erkrankter Menschen.
Einige persönliche Aspekte: Prof. Müller war für viele über Jahre und Jahrzehnte nicht nur Mentor, Ideengeber und zuweilen auch im positiven Sinn streitbarer Gesprächspartner, er war auch für viele Kollegen ein Freund. In und mit Prof. Müller erlebten wir einen rastlosen und unermüdlichen Menschen, einen Sternenregen voller Gedanken. Prof. Müller war immer diskussionsfreudig und zugleich großzügig und unterstützend. Der Urgrund seines Fühlens, Denkens und Handelns waren die Sorgen und Nöte der kleinen Leute, der arbeitenden Menschen. Das irritierte paradoxerweise manche akademischen Arbeitsmediziner, doch machte es ihn allen, die direkten und freundschaftlichen Kontakt zu ihm hatten, umso liebenswerter. Rainer Müllers tiefste Motivation war eine ethische, gespeist von der theologischen Überzeugung, dass Gott uns die Verantwortung für den anderen Menschen übertragen hat. Zugleich rang er sein ganzes aktives Leben lang mit der Gottesfrage. Seine letzten wissenschaftlichen Gedanken über den Schmerz verband er mit der Frage, ob der Schmerz nicht auch ein „Leiden an Gott“ sei.
Professor Müller hat jeden, der mit ihm zu tun hatte, auf eine jeweils besondere Art mitgeprägt, und er wird in unseren Gefühlen und in unserem Denken und Handeln weiterleben.
Dr. Wolfgang Hien, Arbeitswissenschaftler
Dr. Frank Hittmann, Arbeitsmediziner,
Landesgewerbearzt Bremen i. R.
Dr. Hubertus von Schwarzkopf,
Arbeitsmediziner
Bremen, den 21.11.2019