P. Lewis
T.C. Erren
(eingegangen am 09.07.2019, angenommen am 01.10.2019)
Occupational medicine, environmental medicine and prevention research at the 68th Nobel Laureate Conference in Lindau 2018
Objective: This article conveys that science in occupational medicine, environmental medicine and preventive research can contribute to participation in the annual Nobel Laureate Conference in Lindau.
Methods: This congress report summarises and expands the commentary “The Lindau Nobel Laureate Meeting 2018: Added value – and reflection – for participants, institutes and disciplines” in Neuroendocrinology Letters 2019 with empirical assessments and perspectives for the readership of the ASU.
Results: The Lindau discussions of Nobel laureates with young scientists and the discussions among young scientists from lesser known institutions working in less prominent disciplines such as occupational medicine, environmental medicine and prevention research, can contribute to scientific and societal progress. In this respect work in these disciplines can be of interest for Lindau.
Conclusions: Due to the added value for participants, institutions and disciplines, we wish to encourage young scientists in occupational medicine, environmental medicine and prevention research to apply for participation in Lindau Nobel Laureate Meetings on the basis of targeted scientific work.
Keywords: Lindau Nobel Laureate Conference – occupational medicine – environmental medicine – prevention research – chronobiology – shift work
Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung bei der 68. Nobelpreisträgertagung in Lindau 2018
Zielstellung: Dieser Beitrag vermittelt, dass Wissenschaft in der Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung zur Teilnahme an der jährlichen Nobelpreisträgertagung in Lindau beitragen kann.
Methoden: Dieser Kongressbericht referiert und ergänzt den Kommentar „The Lindau Nobel Laureate Meeting 2018: Added value – and reflection – for participants, institutes and disciplines“ in Neuroendocrinology Letters 2019 um empirische Einschätzungen und Einordnungen für die Leserschaft des ASU.
Ergebnisse: Die Lindauer Diskussionen von Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern mit jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und die Diskussionen unter den jungen Forschenden aus weniger bekannten Institutionen, die in weniger im Vordergrund stehenden Disziplinen wie der Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung arbeiten, können zu wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritten beitragen. Insofern können Arbeiten in diesen Disziplinen für Lindau von Interesse sein.
Schlussfolgerungen: Aufgrund des Mehrwerts für Teilnehmenden, Institutionen und Disziplinen wollen wir jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung ermutigen, sich mit zielführenden wissenschaftlichen Arbeiten für die Teilnahme an Lindauer Nobelpreisträgertagungen zu bewerben.
Schlüsselwörter: Lindauer Nobelpreisträgertagung – Arbeitsmedizin – Umweltmedizin – Präventionsforschung – Chronobiologie – Schichtarbeit
Einleitung
Vom 24. bis 29. Juni 2018 trafen sich rund 600 junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um am 68. Lindauer Nobelpreisträgertreffen teilzunehmen. 39 Nobelpreisträger kamen ebenfalls zum Bodensee, um eine neue Generation von sehr qualifizierten Studierenden, Promovierenden sowie Postdoktorandinnen und Postdoktoranden aus 84 Ländern zu treffen. Während die Mehrheit der jungen Forschenden Disziplinen mit den Schwerpunkten Molekularbiologie und Tiermodellforschung vertrat, war auch Platz für einen jungen Wissenschaftler (PL), der an einem deutschen Institut für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung arbeitet.
Zielstellung
Dieser Kongressbericht referiert und ergänzt einen konzisen Kommentar „The Lindau Nobel Laureate Meeting 2018: Added value – and reflection – for participants, institutes and disciplines“ in den Neuroendocrinology Letters (Lewis u. Erren 2019) um empirische Einschätzungen und Einordnungen für die Leserschaft des ASU.
Ergebnisse
Seit 1951 kommt es am Bodensee jährlich zu wissenschaftlichen Tagungen mit dem Alleinstellungsmerkmal, dass sich – zunehmend mehr – Trägerinnen und Träger des Nobelpreises mit vielversprechendem wissenschaftlichen Nachwuchs aus der ganzen Welt austauschen. Unterschiedliche Aspekte der Lindauer Tagungen wurden bereits von den Teilnehmenden (Lancaster 2009; Bunick 2014; Stettner 2014) und Zeitschriften (Cantrill 2009; Simmons 2010; Bernadotte et al. 2015; Roberts u. Wagner 2015) behandelt. Dass diese Tagungen nicht nur für den Nachwuchs wichtig sein können, hat Martin Chalfie (Nobelpreis Chemie 2008) nach seiner Teilnahme im Jahr 2009 mit „Lernen von Studenten in Lindau“ zusammengefasst (Chalfie 2009).
Das sechstägige Programm 2018 ermöglichte einen umfangreichen Austausch zu Hauptthemen wie der inneren Uhr: Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young (Nobelpreis Medizin/Physiologie 2017) wurden für Entdeckungen geehrt, die den Grundstein für unser Verständnis legten, was die innere Uhr in der Fruchtfliege und anderen Organismen „ticken“ lässt. Die Eröffnungsvorträge von Rosbash und Young „Die Geschichte des Zirkadianen Rhythmus: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ und „Zirkadiane Rhythmen und ihre Auswirkungen auf Physiologie und Verhalten“ machten deutlich, dass Einblicke in zirkadiane Systeme unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit deutlich erweitern können. Um zirkadiane Gleichgewichte z.B. trotz Arbeiten zu ungewöhnlichen Zeiten zu erhalten, könnte Zeitgeber-(Aschoff 1951, 1954)hygiene wichtig werden. Zu weiteren Kernthemen zählte die personalisierte Medizin, wie wissenschaftlich publiziert wird, die Rolle der Wissenschaft in einer „postfaktischen Ära“ und das in Lindau verwurzelte Schlüsselthema „Wissenschaft und Gesellschaft“.
Sicherlich muss zum Nach- und Umdenken anregen, dass mit Ada Yonath (Nobelpreis Chemie 2009) und Elizabeth Blackburn (Nobelpreis Medizin/Physiologie 2009) nur zwei der teilnehmenden Nobelpreisträger Frauen waren. Dies spiegelt auch, dass nur 51 von 776 Nobelpreisen an Frauen gingen und dass Frauen in wichtigen Funktionen der Wissenschaft, wie etwa als Autorinnen, weibliche Reviewer und Editorinnen, nicht angemessen repräsentiert sind (Erren et al. 2014). Insofern ist der Lindauer Ansatz (Bernadotte et al. 2015), für die 600 internationalen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler möglichst 50 Prozent Frauen und 50 Prozent Männer auszuwählen, sicherlich angemessen für das, was in kommenden Jahren in der Wissenschaftslandschaft erreicht werden sollte (Angell 2014). Lesenswert ist der Blog „Women in Research“1 mit Interviews von jungen Wissenschaftlerinnen, die an der 68. Lindauer Nobelpreisträgertag teilgenommen haben.
Der teilnehmende Autor (PL) profitierte als Nachwuchswissenschaftler von Informationen zur Öffentlichkeitsarbeit, Diskussionen zu Bildungs- und Forschungskonzepten und zur Wissenschaftlichen Translation sowie dem Austausch zu Fragen der Ethik und der Verantwortung von Forschenden in der Gesellschaft, etwa durch eine angemessene Kommunikation von Wissenschaft. Darüber hinaus forderte die Tagung dazu auf, sich mit großen Herausforderungen zu beschäftigen wie etwa der Umweltverschmutzung und dem Klimawandel und damit verbundenen Umwelt- und Krankheitsfolgen.
Die jungen Teilnehmer kamen sowohl aus weltweit führenden als auch von weniger renommierten Instituten und Institutionen. Vier Tagungsberichte in MEDLINE kommen von der Heinrich-Heine-Universität (Stettner 2014), der Yale University, USA (Bunick 2014), der Columbia University, USA (Lancaster 2009) und der Universität zu Köln (Lewis u. Erren 2019). Die Arbeiten, die PL die Teilnahme ermöglicht haben, wurden am University College Dublin, dem University College Cork sowie an der Universität zu Köln durchgeführt.
Die Auswahl für Lindau ist für jedes Institut in den 84 Ländern wertvoll, in denen für die Teilnahme qualifizierende Arbeiten geleistet wurden. Darüber hinaus können die Teilnehmenden im Rahmen verschiedener Formate wie Postersessions, Meisterkursen, TV-Kontakten2 oder Blogs3 ihre eigene Sichtbarkeit und die ihrer Heiminstitute weiter steigern. Dass auf Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung ausgerichtete Arbeiten dazu beitragen können, in Lindau teilzunehmen, mag unerwartet scheinen, es stellt aber sicher einen Mehrwert für diese Disziplinen dar. Konkret baut das „wahrscheinliche“ Kausalnetz von Schichtarbeit mit zirkadianer Disruption und Krebs (IARC 2007: Gruppe 2A; IARC 2010), das an Arbeitsplätzen intensiv beforscht wird, auch auf chronobiologischen Grundlagen auf, die 2017 zum Nobelpreis für Physiologie oder Medizin führten. Eine Schlüsselfrage ist immer: Inwieweit können Forschungsergebnisse, die Forschende an Zellen oder anderen Spezies gewinnen, auf den Menschen übertragen werden? Diesbezüglich bietet die im Fächerkanon der Medizin und dem Disziplinkanon der Wissenschaft weniger im Vordergrund stehende Arbeitsmedizin für das Themenfeld der Chronobiologie erstklassige Forschungsmöglichkeiten. Die hochaktuelle Klassifikation von „Nachtschichtarbeit“ als „wahrscheinlich karzinogen“ (IARC 2019) impliziert, dass jeder fünfte Arbeitnehmende gegenüber einem „wahrscheinlichen Humankarzinogen“ exponiert ist. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, festzustellen, ob „Nachtschichtarbeit“ oder grundsätzlich das „Leben gegen innere Uhren in Arbeits- und Freizeitbereichen“ zu Entwicklungen von Krebs und möglicherweise anderen Gesundheitsstörungen und Krankheitsbildern beiträgt. Zukünftige Forschung sollte – anders als bisher – geeignete Metriken nutzen, um gestörte Chronobiologie als Dosis zu quantifizieren. Das Zählen von Schichten allein kann nicht reichen; weder Schichtpersonal noch Schichten sind notwendigerweise gleich. Um gestörte Chronobiologie zu quantifizieren, sollten individuelle Schichtzeiten mit der genetisch (mit-)determinierten Innenzeit (Toh et al. 2001; Archer et al. 2003) jeder Einzelperson verglichen werden (IARC 2019). Darüber hinaus ist gestörte Chronobiologie immer dann zu erwarten, wenn wir gegen unsere endogenen Uhren leben, sei es bei der Arbeit oder im Freizeitbereich (Erren u. Lewis 2019). Insofern kann der bisherige Fokus auf gestörte Chronobiologie am Arbeitsplatz allein interpretierbare Studienergebnisse in ähnlicher Weise erschwert haben, wie wenn sich die Forschung zu Lungenkrebsrisiken durch das Rauchen der 1950er Jahre auf das Rauchen am Arbeitsplatz allein konzentriert hätte (Erren u. Lewis 2017). Selbstverständlich gehen die Möglichkeiten der Arbeitsmedizin aber weit über Beiträge zur Chronobiologie hinaus: Sorgfältig erfasste Expositionen und Endpunkte an Arbeitsplätzen haben zum Beispiel bereits dazu beigetragen, Auswirkungen von ionisierender Strahlung bei Uranbergleuten auf Low-dose-Radiumemanation (Radon) der Allgemeinbevölkerung zu übertragen.
Schlussfolgerungen
In der Gesamtschau kann der Lindauer Austausch von Nobelpreisträgerinnen und -trägern mit jungen Forschenden auch aus weniger bekannten Institutionen, die in weniger im Vordergrund stehenden Disziplinen arbeiten, zeitnah (Lewis u. Depp 2019) und zukünftig zu wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritten beitragen. Beispiele für Forschungsfelder von Interesse sind neue Expositionen am Arbeitsplatz, Umwelthypothesen wie eine Prägung von zirkadianen Systemen durch perinatale Photoperioden (Lewis u. Erren 2017) oder Gesundheitsgefährdungen durch ubiquitäre Kunststoffe (Benno Meyer-Rochow et al. 2015). Bei so vielfältigem Mehrwert für die Teilnehmenden, Institutionen und Disziplinen möchten wir junge Forschende in der Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung ermutigen, sich für eine Teilnahme an Lindauer Nobelpreisträgertagungen zu bewerben.
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
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Für die Verfasser
Dr. phil. Philip Lewis
Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung
Uniklinik Köln, Kerpener Straße 62
50937 Köln
philip.lewis@uk-koeln.de