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Die Geschichte des Schlesischen Schlammfiebers

A. Jüttemann

(eingegangen am 19.05.2020, angenommen am 10.06.2020)

The history of Silesian slime fever

Slime fever is a bacterial infection that particularly affected agricultural workers in Silesia between 1880 and 1940. The town of Ratibor (Racibórz in Polish) in Upper Silesia was a centre of the outbreaks. It was particularly hard hit by the flood disasters on the Oder in 1891, 1926 and 1939. Large outbreaks also occurred on a regular basis in Bavaria, where the disease was known as harvest fever or field fever. Leptospira were clearly identified as pathogens for all manifestations in 1927. Further research showed that mice and rats were the main cause of the spread of bacteria. Apart from harvest helpers, slime fever primarily affected canal workers in towns or swimmers. Leptospirosis is a recognised occupational disease in agriculture today and is usually treated with antibiotics.

Keywords: leptospirosis – spirochetes – slime fever – Silesia – Ratibor – history

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2020; 55: 776–781

Die Geschichte des Schlesischen Schlammfiebers

Das Schlammfieber ist eine bakterielle Infektionskrankheit, die vor allem zwischen 1880 und 1940 verstärkt Personen heimsuchte, die in Schlesien landwirtschaftlich tätig waren. Ein Zentrum der Ausbrüche war die oberschlesische Stadt Ratibor (poln. Racibórz). Sie war besonders stark nach den Hochwasserkatastrophen an der Oder 1891, 1926 und 1939 betroffen. Auch in Bayern kam es regelmäßig zu größeren Ausbrüchen; dort wurde die Krankheit Ernte- oder Feldfieber genannt. Als Erreger konnten 1927 für alle Erscheinungsformen eindeutig Leptospiren ermittelt werden. Weitere Forschungen ergaben, dass vor allem Mäuse und Ratten die Ursache für die Verbreitung der Bakterien waren. Vom Schlammfieber waren neben Erntehelfern vor allem Kanalarbeiter in Städten oder Badende betroffen. Heute ist die Leptospirose als Berufskrankheit in der Landwirtschaft anerkannt und wird meist mit Antibiotika behandelt.

Schlüsselwörter: Leptospirose – Spirochäten – Schlammfieber – Schlesien – Ratibor – Geschichte

„Das klinische Bild des Schlammfiebers ist in den ausgeprägten Fällen sehr charakteristisch, (…) die Abgrenzung des Krankheitsbildes von dem desTyphus bzw. der Grippe nicht immer leicht“
(Kathe 1940)

Einleitung

Das Schlammfieber1 ist eine Infektionskrankheit, die vor etwa 100 Jahren vor allem Personen betraf, die in Schlesien landwirtschaftlich tätig waren (Kathe 1940). Die Geschichte dieser Erkrankung ist ein interessantes Beispiel für die Entwicklung einer Entstehungstheorie. Aus unterschiedlichen Vorannahmen entstand innerhalb von 50 Jahren eine vollständige Erklärung. Die ersten überlieferten Fallbeschreibungen in Fachzeitschriften von 1882 stammen aus der Gegend rund um das oberschlesische Grottkau (heute poln. Grodków; Schulz 1940). Die Medizin sprach von „angeblichen Typhus-Epidemien“ nach Hochwasser in der Region (Schmidtmann 1892). Schulte (1893) nennt sie „epidemische Erkrankung an akutem Exanthem bei typhösem Charakter“ (ebd., S. 1). Er untersuchte Soldaten, die in der Niederung bei Ratibor (poln. Racibórz) stationiert waren.

In den Folgejahren erwarteten die an der Oder ansässigen Menschen nach Überschwemmungen schon Erkrankungswellen, wie sich Militärarzt Schulte erinnert:

„Als im März des Jahres 1891 die ganze Oderniederung von Ratibor bis Breslau längere Zeit unter Wasser stand, hörte man von älteren Bewohnern dieser Gegend, sowohl Aerzten wie Laien, vielfach die Befürchtung aussprechen, dass uns der Sommer wieder fieberhafte Krankheiten bringen werde“ (ebd.).

Die Befürchtungen sollten sich auch 1891 bewahrheiten: Etwa ein Fünftel der Bewohnerinnen und Bewohner des Überschwemmungsgebiets der Oder erkrankte im Laufe des Frühjahrs (Kathe 1928).

Die erste Bezeichnung als eigenständige „Schlammkrankheit“ nahm der Arzt Schmidtmann 1892 aus Oppeln (heute poln. Opole) vor. Neben den oberschlesischen Kleinstädten Ratibor und Grottkau war vor allem auch das in der Nähe Oppelns gelegene Cosel (poln. Kędzierzyn-Koźle) häufig betroffen (➥ Abb. 1; Müller 1894; Marmann 1926). In den folgenden Jahrzehnten kam es in Schlesien regelmäßig zu weiteren großen Ausbrüchen der Krankheit, besonders stark nach den Hochwasserkata­strophen an der Oder 1926 und 1939. Aber es gab auch Erkrankungsfälle in Bayern (Glaser 1928) und in Brandenburg (vgl. Dietrich 1892).

Symptomatik

Fast immer erkrankten fast ausschließlich Personen, die in überschwemmtem Gebieten auf dem Feld gearbeitet oder die im Freien gebadet hatten (Brill 1927). Die Inkubationszeit variierte zwischen wenigen Tagen und mehreren Wochen:

„Das hängt offenbar, abgesehen von der Widerstandsfähigkeit des betreffenden Menschen hauptsächlich vom Infektionsmodus ab. Beim Baden in verseuchtem Überschwemmungswasser ist sie verhältnismäßig kurz; beim Barfußgehen auf verschlammten Wiesen und Feldern länger; am kürzesten wohl dann, wenn Überschwemmungswasser getrunken wird“ (Kathe 1939, S. 662).

Bei den Erkrankten trat plötzlich heftiges Fieber auf: Das „septikämische Stadium des Feldfiebers beginnt in der Regel aus vollster Gesundheit“ (Rimpau 1940, S. 157) und „oft in geradezu brutaler Weise“ (Müller 1894, S. 775). Meist wurde ein plötzlicher Zusammenbruch der Patienten während der Ernte beschrieben:

„Mitten in der Arbeit bekommen die Patienten bei gleichzeitiger großer Hinfälligkeit einen Schüttelfrost oder Frösteln, Schmerzen im Kopf, im Rücken, in den Gliedern, besonders in den Waden. Sie sind oft so abgeschlagen, daß sie sich kaum nach Hause schleppen können. Die Körperwärme steigt schnell auf 39–40 °C und darüber“ (Kathe 1940, S. 19).

Hinzu kamen häufig eine belegte Zunge, ein hochrotes Gesicht und eine entzündete Bindehaut. Oft gab es auch Magen-Darm-Probleme: Erbrechen und sogar blutiger Durchfall. Zudem wurde in einigen Fällen über Ikterus, eine vergrößerte Milz, Nierenentzündungen oder masernartige Hautausschläge berichtet. Auch über stark geschwollene Lymphknoten in der Leistengegend klagten manche Betroffene (Kathe 1939). Als zuverlässiges Diagnosekriterium galten zwei unabhängige Fieberepisoden. Nach einigen Fiebertagen fällt die Temperaturkurve zunächst ab. Nach etwa sechs bis zwölf Tagen hatte sich die Körpertemperatur zunächst wieder normalisiert, stieg dann bei vielen Betroffenen aber wieder „relapsartig“ an (Kathe 1939, S. 664). Todesfälle kamen nur ganz vereinzelt bei älteren Menschen vor (Kathe 1940). Nach anderthalb Wochen waren die Betroffenen meist wieder arbeitsfähig (vgl. Kathe 1939; Rimpau 1940).

Kontagium oder Miasma?

Da das Schlammfieber fast ausschließlich nach Überschwemmungen auftrat, wurden vor allem meteorologische Erklärungen angeboten. Und selbst dann noch, als Uhlenhuth und Fromme (1915) ein Bakterium in Form eines Kleiderbügels als Erreger der sehr ähnlichen Weilschen Krankheit2 identifizierten und festgestellt hatten, dass die Bakterien über „Risse und Schrunden“ in der Haut aufgenommen wurden (zit. nach Kathe 1939, S. 661). Die Erreger nannten sie „Spirochaeta icterogenes“ (Rimpau et al. 1938, S. 320).

Die Anhänger der Miasmentheorie3 wiesen darauf hin, dass sich die Symptome nur in den frühen Morgenstunden zeigten, und zwar, wie sie vermuteten, als Folge einer „stärkeren Anreicherung der bodennahen Luftschichten (...), innerhalb deren also die gasförmige Krankheitsursache in stärkerer Konzentration zur Einwirkung auf die Erntearbeiter kommt“ (Wolter 1939, S. 449). Wolter sah eine Infektionsgefahr „an Tagen, wo Windstille und schwache Luftbewegung herrscht“ (ebd., S. 450). Die Tat­sache, dass die Mediziner in Preußen der Erklärung Robert Kochs den Vorzug gaben und die Annahme eines Kontagiums stützten, während in Bayern die Petterkofersche Miasmentheorie präferiert wurde, hatte zweifelsohne politische Gründe. Der bayerische Arzt Wolter (1939) sah Parallelen zu Haffkrankheit (vgl. Jüttemann 2018):

„Ein Analogon finden wir bei der Haffkrankheit, wo die Gefahr, zu erkranken, am größten ist, wenn die Haff-Fischer in den frühen Morgenstunden, zumal wenn noch Dunst und Nebel auf dem Haff lagern, auf das Haff hinausfahren. In den späteren Tagesstunden ist die Gefahr zu erkranken, eine sehr viel geringere, weil dann, wenn der Nebel sich hebt, ein Austausch der bodennahen mit den höheren Luftschichten stattfindet, und dadurch die Konzentration der gasförmigen Krankheitsursache eine geringere wird“ (Wolter 1939, S. 450).

Den Forschenden, die der Infektionstheorie folgten, fiel auf, dass Maßnahmen zur Verhütung einer Übertragung von Mensch zu Mensch (z. B. über die Atemwege) nicht unbedingt notwendig waren. Die Annahme einer Endemizität der Krankheit blieb lange umstritten. Virchow ging davon aus, dass das Schlammfieber lediglich „eine Übertragung von Person zu Person vortäuscht“ (Wolter 1939, S. 448). Über eine direkte Übertragung wurde, trotz massenhaftem endemischen Auftreten, nämlich nie berichtet. In einem Fall wohnten erkrankte Feldarbeiterinnen in Achtbettzimmern mit Kolleginnen sogar zusammen, die nicht auf dem Feld arbeiteten und auch nicht erkrankt waren (vgl. Breitbarth u. Habernoll 1929). Auch innerhalb von Familien betraf es stets nur diejenigen, die auch bei der Ernte mitgeholfen hatten (Marmann 1926).

Einige Epidemiologen brachten in den 1920er Jahren noch Insekten als Überträger der Krankheit in den Überschwemmungsgebieten Schlesiens ins Gespräch (Marmann 1926). Weitere Forschungen ergaben aber, dass vor allem Nagetiere die Ursache für der Verbreitung des Kontagiums waren. Brill (1927) fand in den betroffenen Gebieten Schlesiens bei 20 Prozent untersuchter Feldmäuse in den Nieren Leptospiren4: „Hiernach erscheint uns die Möglichkeit, daß Spirochäten durch den Urin ausgeschieden werden, gegeben“ (ebd., S. 1537). Auch Glaser (1928) fand ein „stärkeres Auftreten von Feldmäusen“ in den vom Schlammfieber betroffenen Bayerischen Bezirk Erding und vermutete einen Bezug zur grassierenden Epidemie (ebd., S. 1162). Spätestens im Jahre 1940 standen als Überträger der Krankheit Ratten und Mäuse fest. Der Erreger konnte in ihren Nieren überleben. Die Nager dienten den Bakterien nur als Wirtstiere. Etwa ein Viertel der von Rimpau (1940) untersuchten schlesischen Mäuse und Ratten waren Träger der Bakterien. Er ging von einer Ausscheidung der Leptospiren mit dem Harn aus. Die Übertragung auf den Menschen erfolge beispielsweise über einen Kontakt mit dem Urin auf den unter Wasser stehenden Feldern. Auch einen Kontakt mit dem Urin anderer erkrankter Menschen hielt Rimpau für gefährlich.

Vom Schlammfieber waren neben Landarbeiterinnen und -arbeitern vor allem Kanalarbeiter in Städten oder Badende betroffen. Besonders im Sommer, zur Ernte- und Badesaison wurden die meisten Erkrankungen nachgewiesen. Das „Stagnieren des Wassers bei hoher Außentemperatur“ sei besonders gefährlich (Rimpau 1940, S. 187). Die Massenerkrankungen traten meist nach starken Regenperioden auf, die mit Überschwemmungen auf den Feldern einhergingen (Kathe 1940).

Es traf also sowohl die Miasmen- als auch die Kontagiumtheorie zu: Das Schlammfieber wurde eindeutig durch Bakterien ausgelöst; das Wasser hingegen half dem Kontagium bei der Übertragung und die hohen Temperaturen in den Überschwemmungsgebieten begünstigten zusätzlich die Ausbreitung der Leptospiren (Kathe 1939a).

Geschichte einer Epidemie

Wie bereits eingangs erwähnt, trat das Schlammfieber 1882 erstmals im oberschlesischen Landkreis Grottkau auf und die Ärzte, die sich noch an frühere Flecktyphusepidemien in Schlesien erinnerten, ordneten die Fälle zunächst dieser Erkrankung zu (Wolter 1939). Im Jahre 1891 gab es eine zweite Erkrankungswelle in weiten Teilen Oberschlesiens, vor allem rund um die Stadt Ratibor (vgl. Schmidtmann 1892; Müller 1894; Schulz 1940). Die Krankheit kan aber nicht nur entlang der Oder, sondern auch in Brandenburg (rund um die Schwarze Elster) und Bayern (in Donaunähe) vor (Wolter 1939).

Das Schlammfieber geriet viele Jahre in Vergessenheit, da es zwischen 1891 und 1926 zu keinen nennenswerten Ausbrüchen mehr in Schlesien kam. Als nach mehreren Überschwemmungen der Oder und ihrer Nebenflüsse 1926/27 die Erkrankung in Schlesien wieder massenhaft auftrat, widmet sich ihr auch die Forschung vermehrt (vgl. Kathe 1939, 1940; Schulz 1940). Prausnitz und Lubinski konnten als Erreger 1927 eindeutig Leptospiren im Blut eines schlesischen Schlammfieberkranken ermitteln (➥ Abb. 2; Rimpau et al. 1939). Fortan galten Formen von Leptospiren als krankheitsauslösend – es bestand also eine Verwandtschaft zur Weilschen Krankheit. Es hatte sich zu dieser Zeit jedoch noch keine einheitliche Bezeichnung für die neue Seuche durchgesetzt.5

Abb. 2: Schlammfieber-Leptospire, Kultur (Vergrößerung 2100, aus Kathe 1939a)
Fig. 2: Slime fever leptospira, culture (magnification 2100, from Kathe 1939a)

Der Landkreis Ratibor, der schon 1891 stark vom Schlammfieber betroffen war, bildete im August 1929 wieder ein Zentrum des epidemischen Auftretens. Der Kreisarzt berichtete über junge Patientinnen, bei denen sich „aus besten Wohlbefinden heraus“ Fiebersymptome zeigten und die über Schmerzen in der linken Lendengegend klagten (Breitbarth u. Habernoll 1929, S. 1621). Durch das plötzliche massenhafte Auftreten gingen die beiden Ärzte zunächst davon aus, es handele sich um Typhus. Ihre Befragungen ergaben, dass die Frauen mit Feldarbeit beschäftigt waren:

„Die Felder, auf denen die Mädchen kurz vor der Erkrankung beschäftigt waren, lagen zum Teil in der Niederung der Zinna, eines linken Nebenflusses der Oder. Hier waren die Frauen mit Flachsreißen beschäftigt, d. h. die Arbeit vollzog sich so, daß die Frauen mit den Knien auf dem feuchten Boden lagen und mit den Händen den Flachs herausrissen. Dieser Umstand erklärte einwandfrei das Auftreten der Erkrankung nur bei den Frauen, da die Männer nur zum Aufladen des Flachses bzw. des Getreides verwandt wurden und dann sofort wieder die nassen Äcker verließen“ (ebd., S. 1622).

Nach zwei Wochen waren alle Patientinnen wieder genesen. Breitbarth und Habernoll ordneten diese Erkrankungswelle zwar symptomatisch dem Schlesischen Schlammfieber zu, benutzten in ihren Fallbeschreibungen aber den eigentlich der Malaria zugeordneten Begriff „Sumpffieber“ (Baschenin 1928, S. 447).

Auch in Mährisch-Trübau (tschech. Moravská Třebová, 130 km von Ratibor entfernt) kam es im Sommer 1937 zu einer Infektion an 29 Schulkindern. Die Infektion war durch einen verunreinigten Schulbrunnen entstanden (Ehler 1940). Die Krankheit war auch in Mähren nicht unbekannt: Sie trat meist nach Überschwemmungen der March (Morava) und Thaya (Dyje) bei der Landbevölkerung auf. Ehler nahm an, dass in der Tschechoslowakei die Leptospiren-Infektion „auch früher schon recht häufig vorkam, ohne daß die einzelne Erkrankung richtig erkannt wurde“ (ebd., S. 725).

Beim Oderhochwasser im Sommer 1939 war Ratibor abermals ein Zentrum des Schlammfiebers. Mit einem Pegel von 7,5 Metern hatte die Oder hier einen neuen Allzeit-Höchststand erreicht (Kathe 1939a). Die Mediziner in der Region waren vorbereitet und erwarteten bereits einen neuen Ausbruch des Schlammfiebers. Diese Annahme sollte sich bewahrheiten:

„Schon im Juni hatten wir eine ausgesprochene Regenperiode, die zu Überschwemmungen geringen Ausmaßes, besonders in Oberschlesien, führte und von einer Hitzewelle gefolgt wurde. Wie zu erwarten, traten dort in der Folgezeit zahlreiche, vorwiegend sporadische Schlammfieberfälle auf“ (Kathe 1939, S. 668).

Der Assistenzarzt Wolf (1940) berichtete über viele Fälle aus der mittelschlesischen Gegend um Nimptsch (poln. Niemcza, 140 km von Ratibor entfernt): „Es hatte aufgehört zu regnen und Wetterwechsel stand bevor – [nun] begann die fast ununterbrochene Kette der Einlieferungen ins Krankenhaus“ (ebd., S. 49). Die Region verfügte über von Flüssen und Bächen durchzogenen Ackerflächen im Gebirgsvorland, „so daß es leicht zur Bildung von stehenden Überwässerung kommen kann“.

Viele Erkrankte gaben an, Wasser aus Drainagen, Brunnen oder stehenden Gewässern getrunken und Arbeiten auf verschlammtem Gelände „mit bloßen Füßen“ verrichtet zu haben (Kathe 1939, S. 668) Von den 80 Betroffenen in Nimptsch waren 55 in der Landwirtschaft beschäftigt (Wolf 1940). Auch das benachbarte Frankenstein (poln. Ząbkowice Śląskie) war stark betroffen (vgl. Kathe 1939). Hier hatten viele Einwohnerinnen und Einwohner im städtischen Freibad Erholung gesucht. Offenbar gelangten Leptospiren von überspülten Ackerflächen in das Badewasser.

Bei der Suche nach Infektionsursachen sollten die Kollegen „gelegentlich den Dingen auf den Grund gehen“, wie Rimpau (1940) empfahl: Ein Bäckergeselle, bei dem zunächst kein Schlammfieber angenommen wurde, weil er nicht bei der Ernte eingesetzt war, „behauptete, nicht aus der Stadt herausgekommen zu sein. Meine Ermittlungen beim Meister ergaben aber, daß er in der Inkubationszeit aufs Land beurlaubt war und dort, wie auch sonst abends zum Baden und Liegen im feuchten Grase mit seinem Motorrad fortzufahren pflegte“ (ebd., S. 181f.).

Arbeitsmedizinische Einordnung

Ab dem Jahre 1938 wurde die Leptospiren-Infektion (vom Weil-Typ) im Deutschen Reich meldepflichtig. Noch offen war, ob sie als Berufskrankheit für Landarbeiter gelten sollte. Im Jahre 1940 kam es erstmals zur Verhandlung über die Anerkennung des Schlammfiebers als Arbeitsunfall, nachdem eine Genossenschaft den Antrag auf Entschädigung eines Landarbeiters abgelehnt hatte: „Alle Erkrankten waren mit Landarbeiten, hauptsächlich Feldarbeiten beschäftigt gewesen. Feldfieber ist eine Berufskrankheit“, so Rimpau (1940a, S. 173). Auch für Kathe (1940) war unstrittig, dass es sich beim Schlammfieber um einen entschädigungspflichtigen Unfall handelt. Rimpau (1940) stimmte ihm zu: „Damit würde der oft unter Nachkrankheiten leidende Feldfieberkranke auch in dieser Hinsicht zu seinem Recht kommen“ (ebd., S. 188).

Präventiv empfahl Kathe (1939) den landwirtschaftlich Beschäftigten zum Schutz vor einer Infektion „das Trinken von Überschwemmungswasser und das Baden in solchem. Theoretisch müßte man weiterhin die Landleute abhalten, auf verschlammten Äckern und Wiesen zu arbeiten, Feldfrüchte aus dem überschwemmten Gebiet zu retten. Praktisch wäre das untragbar. Aber man soll den Landleuten dringend raten, derartige Arbeiten nicht barfuß zu verrichten, sondern dabei festes Schuhwerk, wenn möglich, hohe Stiefel zu tragen“ (ebd., S. 672). Auch Rimpau (1930) riet zu „festem Schuhzeug und Strümpfen, bei Überschwemmungen Gummistiefel“ sowie eine „strenge Durchführung der Vorschriften über die Bekämpfung des Vorkommens von Ratten“ (ebd., S. 188).

Leptospirose, wie das Schlammfieber heute allgemein genannt wird, ist seit vielen Jahren eine anerkannte Berufserkrankung für bestimmte Risikogruppen (u. a. Erntehelfer, Kanalarbeiter und Tierärzte; vgl. Robert Koch-Institut 2015). In Deutschland werden heute jährlich etwa 20–50 Leptospiren-Infektionen gemeldet (Hahn 2009). Die Übertragung erfolgt über den Urin von Ratten, Rindern, Schweinen und Hunden. In Asien tritt die Krankheit oft bei Arbeitern auf bewässerten Reisfeldern auf. Bei schwereren Erkrankten werden heute Penicillin G und Tetrozykline gegeben, bei leichteren Verläufen reicht oft die orale Gabe von Doxycyclin aus (Hahn u. Kmety 2001).

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Abb. 3:  Links: Das Städtische Krankenhaus Ratibor, Historische Ansichtskarte von 1900 (Sammlung des Autors). Rechts: Aufnahme von 2019 (Foto: SRC Urbex, Genehmigung für Veröffentlichung erteilt)Fig. 3: Left: Städtisches Krankenhaus (Municipal Hospital) Ratibor, old picture postcard from 1900 (author’s collection. Right: Photo from 2019 (photograph: SRC Urbex, permission granted for publication)

Abb. 3: Links: Das Städtische Krankenhaus Ratibor, Historische Ansichtskarte von 1900 (Sammlung des Autors). Rechts: Aufnahme von 2019 (Foto: SRC Urbex, Genehmigung für Veröffentlichung erteilt)
Fig. 3: Left: Städtisches Krankenhaus (Municipal Hospital) Ratibor, old picture postcard from 1900 (author’s collection. Right: Photo from 2019 (photograph: SRC Urbex, permission granted for publication)

Literatur

Baschenin WA: Eine neue epidemische Krankheit – Das Wasserfieber im Gouvernement Moskau. Zentralbl Bkt Erste Abt Orig 1929; 113: 438–452.

Breitbarth F, Habernoll o.A.: Klinik und Epidemiologie des Sumpffiebers. Die Medizinische Welt 1929; 3: 1621–1622.

Brill, F. (1927): Zur Aetiologie des Schlammfiebers. Münchener Medizinische Wochenschrift; (74)36: 1537-40.

Dietrich o.A.: Beobachten über eine Infectionskrankheit des Ueberschwemmungsgebietes der Schwarzen Elster. Zeitschrift für Medicinalbeamte 1892; 11: 265.

Ehler J: Leptospirenfieber im Gebiet der früheren tschechoslowakischen Republik. Die Medizinische Welt 1940; 14: 724–726.

Glaser W: Das Schlamm- oder Erntefieber (Sommergrippe) im Bezirksamt Erding im Jahre 1927. Münchener Medizinische Wochenschrift 1928; 75: 1162–1163.

Guttstadt A: Krankenhaus-Lexikon für das Deutsche Reich. Berlin: Georg Reimer, 1900.

Hahn H, Kmety E: Leptospiren. In: Hahn H, Falke D, Kaufmann S, Ullmann U (Hrsg.): Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie. Berlin: Springer, 2001, S. 419–422.

Hahn H: Leptospiren. In: Hahn H, Kaufmann S, Schulz T, Suerbaum S (Hrsg.): Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie. Berlin: Springer, 2009, S. 390–391.

Jüttemann A: Die Geschichte des rätselhaften Phänomens „Haffkrankheit“. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 465–468

Kathe J: Das sogen. Schlammfieber in den Jahren 1926 und 1927. Beiträge zur Symptomatologie, Epidemiologie, Pathologie und Aetiologie. Zentralbl Bakt Etc erste Abt Originale 1928; 109: 284–310.

Kathe J: Das Wesen des Schlamm- oder Feldfiebers. Arch Gewerbepath 1939; 9: 660–672

Kathe J: Schlammfieber, Erntefieber, Wasserfieber, Feldfieber – Infektionen durch Leptospiren. Medizinische Klinik 1939a; 35: 1133–1138.

Kathe J: Das Schlamm- oder Feldfieber als Berufskrankheit. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung 1940; 66: 17–23.

Marmann J: Das Schlammfieber. Volkswohlfahrt 1926; 7: 821–824.

Müller F: Die Schlammfieber-Epidemie in Schlesien vom Jahre 1891. Münchener Medizinische Wochenschrift 1894; 41: 773.

Prausnitz K, Lubinski o.A.: Untersuchungen über das Schlammfieber. Klinische Wochenschrift 1926; II: 2057.

Przypadło K: Stary szpital przy Bema. Zobacz, jak wygląda w środku. 2017. https://raciborz.com.pl/2017/04/17/stary-szpital-przy-bema-zobacz-jak-w… (abgerufen am 19. Mai 2020).

Rimpau W: Das deutsche Feldfieber. In: Czerny A, Müller F, von Pfaundler M, Schittenhelm A (Hrsg.): Ergebnisse der Inneren Medizin und Kinderheilkunde. Heidelberg: Springer, 1940, S. 140–193.

Rimpau W: Das Feldfieber in Südbayern 1937–39. Münchener Medizinische Wochenschrift 1940a; 87: 172–174.

Rimpau W, Schlossberger H, Kathe J: Ueber Leptospirosen in Deutschland. Zentralbl Bkt Erste Abt Orig 1938; 141: 318–334.

Robert Koch-Institut: RKI-Ratgeber. Eintrag zu Leptospirose. 2015. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Lep… (abgerufen am 15. Mai 2020).

Schmidtmann A: Die sogenannte Schlammkrankheit im Regierungsbezirk Oppeln während des Sommers 1891. Zeitschrift für Medizinalbeamte 1892; 5: 77–83.

Schulte F: Epidemische Erkrankungen an akutem Exanthem bei typhösem Charakter. Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanitätswesens Heft 4. Heidelberg: Springer, 1893.

Schulz W: Das Schlamm- oder Feldfieber; eine Mitteilung über die Epidemie im Jahre 1939 im Kreise Ratibor. Dtsch Med Wochenschr 1940; 66: 372–375.

Uhlenhuth P, Fromme W: Experimentelle Untersuchungen über die sog. Weilsche Krankheit (ansteckende Gelbsucht). Med Klin 1919; 44: 1202.

Wolf G: Klinische Betrachtungen und Untersuchungen über eine typische Sommererkrankung (Schlammfieber). Ther Gegenw 1940; 2: 49–53.

Wolter F: Zur Ätiologie und Prophylaxe des Ernte- bzw. Feldfiebers in Südbayern. Arch Gewerbepath 1939; 9: 443–452.

Kontakt

Dr. rer. med. Andreas Jüttemann
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Institut für Geschichte der Medizin
Thielallee 71, 14195 Berlin
andreas.juettemann@charite.de

Fallbeispiel

FRIEDA S., 14 Jahre, Landhelferin aus Nimptsch (poln. Niemcza)

„Anamnese: Während der Arbeit auf freiem Feld hat die Patientin aus einem Drainagegraben Wasser getrunken. Bald darauf stellten sich Kopf- und Gliederschmerzen mit Temperaturen und Durchfällen ein. Bettruhe. Plötzlicher akuter Temperaturanstieg. Der hinzugezogene Arzt weist die Pat. ins Krankenhaus ein. Diagnose: Hochfieberhafte Erkrankung. Im Krankenhaus wird die Pat. bald benommen und ist nur zum Einnehmen der Mahlzeiten zu bewegen. Hohe Temperaturen, Bradykardie, Benommenheit, Durchfälle, Herpes labialis, Diazo stark positiv, Leukopenie, stark beschleunigte Blutsenkung, Eosinophilie, Urinbefund mit Eiweiß und Zylindern ließen in erster Linie an Typhus denken, zumal die Benommenheit vier Tage lang anhielt (...). Am
4. Tage sank darauf plötzlich schlagartig die Temperatur auf normale Werte, das Bewußtsein wurde klar (...). Am 7. Tag kam es plötzlich nochmals zu einer Temperaturerhöhung auf über 38 Grad mit erneuten Kopf- und Gliederschmerzen, jedoch ohne Benommenheit. Am nächsten Tag Temperatur wieder normal. Anschließend schnelle Genesung“ (Wolf 1940, S. 50).

Info

Das Städtische Krankenhaus Ratibor – Zentrum der Schlammfieber-Behandlung

Einen gut dokumentierten Höhepunkt hatte die Epidemie 1939 nach einem verheerenden Oder-Hochwasser auf den Feldern um Ratibor. Die Kranken waren vor allem in das Städtische Krankenhaus im Zentrum Ratibors gebracht worden Der dortige Internist Werner Schulz verfasste einen der ausführlichsten Berichte (vgl. Schulz 1940).

Das ursprünglich 1803 mit Spendengeldern der Witwe des Zollinspektors Klara Poinsot gegründete Krankenhaus erhielt 1897 einen prächtigen Neubau mit 75 Betten (Abb. 3, links) und einer angegliederten Abteilung mit 50 Betten für Psychisch Kranke. Es war bereits bei den Schlammfieber-Ausbrüchen 1891 und 1926 Behandlungsmittelpunkt für betroffene Landarbeiterinnen und -arbeiter der Umgebung (Guttstadt 1900). Weitere Anbauten kamen 1902 und 1910 hinzu. Beim großen Oder-Hochwasser 1997 war das Krankenhaus stark in Mitleidenschaft gezogen worden (trotz Überschwemmung der Keller wurde der Patientenbetrieb aufrechterhalten). Nach der Katastrophe wurde die Aufgabe der Klinik in Odernähe vorangetrieben. 2004 zog die letzte Station in einen Neubau um (s. Abb. 3, rechts). Die in der Innenstadt gelegene Backstein-Ruine lockt heute vor allem Fotografen und Lost-Places-Touristen an. Das nicht nur wegen des Schlammfiebers medizinhistorisch bedeutsame Gebäude wurde 2011 an einen Privatinvestor verkauft. Die Zukunft des hübschen Krankenhausbaus ist ungewiss (vgl. Przypadło 2017).