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Hypoxie ist kein Gift — auf die Dosis kommt es an!

Hypoxie ist kein Gift – auf die Dosis kommt es an!

Aufgrund der vielfältigen und teilweise sich widersprechenden Interessenlage bei den fachlichen, wirtschaftlichen und politischen Akteuren im Bereich Arbeitsmedizin/Arbeitsschutz sowie aufgrund von Studien, für die ganz offensichtlich ausschließlich elektronisch recherchiert worden ist und dadurch hoch relevante, ältere Publikationen ignoriert wurden, ist in jüngerer Vergangenheit zum Einsatz der Hypoxie und den damit verbundenen vermeintlichen Risiken für Arbeitnehmer erhebliche Verwirrung entstanden. Der folgende Artikel soll dazu beitragen, die Diskussion auf die sachliche Basis, nämlich den Sauerstoffpartialdruck, zurückzuführen und auf dieser Basis eine Risikoabschätzung durchzuführen.

Das wichtige Fazit ist, dass milde Hypoxie allenfalls bei sehr fortgeschrittenen Erkrankungen von Herz oder Lunge – Situationen, in denen üblicherweise generell Arbeitsunfähigkeit besteht – ein Problem sein kann. Umgekehrt als in allen anderen Bereichen der Arbeitsmedizin stellt eine möglichst häufige Exposition wegen der dann eintretenden Teilakklimatisation eine weitere Risikominderung dar.

Schlüsselwörter: Hypoxie – Sauerstoffpartialdruck – Risikoabschätzung – Herz-Lungen-Erkrankungen

Hypoxia is not poisoning – it depends on the dose!

The diverse and sometimes contradictory interests of professionals, economists and policy-makers in the field of occupational health and safety, together with studies that have obviously ignored highly relevant older publications in favour of exclusively electronic research, have led to a great deal of confusion recently about the onset of hypoxia and the assumed risks to employees that are associated with it. The following article should help to ensure that the debate is based on fact, namely oxygen partial pressure, and conduct a risk assessment on this basis.

The important point is that mild hypoxia may be a problem if the heart or lungs are at a very advanced stage of disease – situations in which people are not normally fit for work. In contrast to other areas of occupational medicine, frequent exposure, whenever possible, constitutes a further risk reduction as partial acclimatisation then occurs.

Keywords: hypoxia – oxygen partial pressure – risk assessment – cardiopulmonary diseases

T. Küpper

(eingegangen am 14. 11. 2013, angenommen am 06. 08. 2014)

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2014; 49: 924–926

Das Wichtigste zuerst: Wir leben in einer Sauerstoffluxusatmosphäre, die uns mehr zur Verfügung stellt, als wir brauchen. Die Natur hat fast 2 Milliarden Jahre gebraucht, um das aggressive Gas zu „bändigen“! Und: Sollte einmal der Sauerstoffnachschub knapp werden, so hat der Körper Reserven, um damit fertig zu werden – zumindest in weiten Grenzen. So hat fast jeder persönliche Erfahrung beim Benutzen von Seilbahnen oder Skiliften oder auch von Flügen. Als Kind sind wir alle als Apnoetaucher im Schwimmbad unterwegs gewesen – dies sind alles Sauerstoffmangelsituationen, die wir ganz offensichtlich folgenlos überstehen.

Trotzdem besteht bei einigen Mitarbeitern, vor allem aber von „offizieller“ Seite, Verunsicherung, sobald in sauerstoffreduzierter Atmosphäre (sog. „isobare Hypoxie“), z. B. zum Brandschutz, gearbeitet werden soll. Wie ist bei der Risikoeinschätzung vorzugehen? Gibt es Personen, die besonders gefährdet sind? Bemerkenswert ist, dass diese Fragen insbesondere von Personen diskutiert und auch gleich beantwortet werden, die nie zuvor mit der Thematik befasst waren und die selbst nie in Hypoxie gearbeitet haben. Die Verunsicherung wird sicher durch zwei Faktoren verursacht: einer-seits mangelnder Informationsstand, andererseits verwirrend unterschiedliche Skalen zum Ausmaß der Hypoxie. Besonders merkwürdig erscheint dem Kundigen hier, dass die gleichen Personen, die Bedenken bei isobarer Hypoxie äußern, keine Hemmungen haben, Arbeitnehmer auf dienstliche Flugreisen oder an hoch gelegene Arbeitsplätze zu schicken – wie kürzlich auf eine Baustelle in Tibet auf 5100 m oder die Europäische Südsternwarte auf 5040 m – Situationen, in denen Betroffene der Hypoxie nicht einfach entkommen können, wenn Probleme auftauchen sollten.

Technisch wird in isobarer Hypoxie zumeist die Sauerstoff-konzentration in Prozent angegeben. Dies ist insofern korrekt, als dass man von immer gleichen Druckverhältnissen ausgeht, nämlich (mehr oder weniger) auf Meereshöhe. Diese Konzentration ist aber medizinisch völlig uninteressant – hier interessiert ausschließlich der Sauerstoffdruck (so genannter „Partialdruck“, weil es sich um den Anteil des gesamten Luftdrucks handelt, der durch den Sauerstoff-anteil verursacht wird, bei Meereshöhe also 20,9 % von 760 mbar = 159 mbar). In extrem weiten Bereichen ist dies völlig unabhängig davon, welcher Gesamtdruck herrscht – im Gegenteil: Wird dieser bei normaler Zusammensetzung der Luft sehr hoch, können vom „lebenswichtigen“ Sauerstoff sogar tödliche Gefahren ausgehen! Steigt sein Teildruck auf etwa 2 bar an, verursacht dies generalisierte Krampfanfälle und möglicherweise den Tod! Umgekehrt ist ein praktisch beschwerdefreies Überleben auch bei extrem niedrigem Druck problemlos möglich, wenn der Sauerstoffteildruck entsprechend hoch ist, also die Sauerstoffkonzentration (in %) erhöht wird. Der Zusammenhang von Druck, prozentualem Sauerstoffanteil und (korrespondierender) Höhe wird in  Abb. 1 erläutert.

Die Erkenntnis, dass praktisch ausschließlich der Sauerstoffteildruck für jegliche Risikoabschätzung relevant ist und nicht die Konzentration als technisch praktische Größe, ist von fundamentaler Bedeutung. Die kurzfristigen Anpassungsmechanismen des Körpers, neben vielen anderen die leicht erhöhte Pulsfrequenz und gesteigertes Atemminutenvolumen, sorgen dafür, dass bis in etwa 1500 m oder etwa 17 % unter isobaren Bedingungen auf N.N. der menschliche Körper gar nicht merkt, dass er nicht den Bedingungen der Meereshöhe ausgesetzt ist. Dies ändert sich dann nach und nach, wobei die erwähnten Kompensationsmechanismen weiterhin dafür sorgen, dass akut gefährliche Zwischenfälle vermieden werden. Dadurch bleibt eine Person sogar bis in gut 5000 m oder 11,1 % Sauerstoff unbegrenzt handlungsfähig. „Unbegrenzt“ bedeutet, dass in jedem Fall reichlich Zeit bleibt, sich in Sicherheit zu bringen. Dies gilt sogar bis in über 6000 m oder 9,7 % Sauerstoff, wo dieser Zeitraum der Handlungsfähigkeit etwa 15 Minuten beträgt, Zeit genug also, um Hypoxiebereiche zu verlassen (Amsler 1971; Ernsting u. King 1994; Küpper et al. 2011; Ruff u. Strughold 1944).

Das bedeutet allerdings nicht, dass eine nicht akklimatisierte Person sich unbegrenzt lange diesen extremen Bedingungen von 11,1 % Sauerstoff aussetzen kann, denn nach Latenzzeit treten Beschwerden der Höhenkrankheit auf (Kopfschmerzen, Unwohlsein). Möglich sind diese schon ab etwa 3000 m oder etwa 14 % Sauer-stoff, allerdings wird das 6–8 Stunden dauern und lässt sich leicht vermeiden, wenn man nach einigen Stunden eine Pause in normaler Atemluft macht (z. B. Mittagspause). Die berüchtigten lebensbedrohlichen Höhenkrankheiten (Höhenlungen- und Höhenhirnödem) sind in Anbetracht der Arbeitsbedingungen und der Dauer der Arbeit in isobarer Hypoxie nicht möglich. Sie treten erst nach 12–24 (Lunge) oder 24–96 Stunden (Hirn) ununterbrochener Exposition von mehr als 4000 m bzw. weniger als etwa 12,8 % Sauerstoff auf, wenn die Person nicht höhenakklimatisiert ist. Natürlich können Arbeitnehmer auch noch höher gefahrlos arbeiten, jedoch müssen sie sich dann an die Höhe akklimatisieren.

Typische Arbeitsplätze in isobarer Hypoxie entsprechen dagegen einer Höhe von nur etwa 2500–3000 m, also Höhen, die fast jeder aus eigener Erfahrung kennt und genossen hat, beispielsweise im Skiurlaub, aber auch während des Aufenthalts in einem Flugzeug. Bei aller Harmlosigkeit üblicher Bedingungen stellt sich natürlich trotz-dem die Frage, ob es Menschen gibt, die besonders aufpassen müs-sen oder die aufgrund von Vorerkrankungen nicht in Hypoxie (dann aber auch nicht privat in die Höhe) gehen sollten. In der Tat gibt es sie, wenn auch im Arbeitsleben nur ganz wenige. Wenn jemand aufgrund einer Herz- oder Lungenerkrankung bei leichtesten Belastungen wie beispielsweise Treppensteigen über eine Etage schon Atemnot bekommt (NYHA 3), sind Hypoxie und Höhe tabu! Diese Personen fallen bereits im Arbeitsalltag sofort auch jedem Laien wegen ihrer Kurzluftigkeit auf. Die meisten dürften sogar dauerhaft arbeitsunfähig sein. Ganz besonders gilt dies für die noch schwerer Erkrankten der NYHA-Klasse 4, die bereits in Ruhe Luftnot haben, meistens dauerhaft Sauerstofftherapie benötigen und regelhaft arbeitsunfähig sind. Anämie stellt in der Arbeitsrealität eigentlich kein Problem dar: Wer akut große Mengen an Blut verloren hat, ist aufgrund der zugrunde liegenden Blutungsursache nicht arbeitsfähig bis zur weitgehenden Erholung. Wer dagegen chronisch anämisch ist, ist daran gewöhnt und verträgt abgesehen von extrem anämischen Situationen die Hypoxie gut. Ganz selten kommt es bei Personen mit Migrationshintergrund vor, dass diese an Sichelzellanämie leiden, die im homozygoten Falle zu schweren Zwischenfällen in Hypoxie führen kann. Diese Personen dürfen auch nicht ohne Zusatzsauerstoff fliegen oder Höhen über 700–1000 m aufsuchen.

Zusammenfassend kann nur davor gewarnt werden, eine recht neue Technologie sofort mit Gefahr gleichzusetzen. Vielmehr sollte man realisieren, dass der Körper bereits ähnliche Situationen beim Fliegen oder Skiurlaub völlig problemlos überstanden hat. Es muss jedem Arbeitsmediziner, aber auch Arbeitsschützer, dringend geraten werden, sich bei der Risikoeinschätzung und der arbeitsmedizinischen Betreuung am Konsenspaper des Weltdachverbandes UIAA zu orientieren, das den Konsens der Spezialisten aus 68 Nationen darstellt ( https://www.theuiaa.org/mountain-medicine/ [„Work in hypoxic conditions“] oder Küpper et al. 2011).

Aus der Bergmedizin lässt sich übrigens auch noch ein anderer Effekt übertragen, der Arbeitsmediziner wie Arbeitsschützer ohne genaue Kenntnis über Höhe oder Hypoxie sicherlich verwirrt: Normalerweise gilt im Arbeitsschutz, dass eine kürzere oder geringere Exposition mit einer geringeren Gefahr gleichzusetzen ist. Bei Hypoxie ist es, vielleicht die einzige Situation in der Arbeitsmedizin über-haupt, genau umgekehrt: Wird ein Arbeitnehmer so oft wie möglich der Hypoxie ausgesetzt, so akklimatisiert er sich teilweise daran und hat noch weniger Beschwerden als zuvor (falls er überhaupt welche hatte)! Übrigens sind alle diese Erkenntnisse nicht neu: Bereits die großen Physiologen des 19. Jahrhunderts hätten alle heute gestellten Fragen beantworten können (Bert 1878; Mosso 1899; Zuntz et al. 1906)!

Literatur

Amsler HA: Flugmedizin für zivile Besatzungen. Bern: Verlag Eidgenössisches Luftamt, 1971.

Bert P: La pression barométrique. Paris: Masson, 1878.

Ernsting J, King P: Aviation Medicine. Oxford: Butterworth-Heinemann, 1994.

Küpper T, Milledge JS, Hillebrandt D, Kubalova J, Hefti U, Basnyat B, Gieseler U, Pullan R, Schöffl V: Work in hypoxic conditions – consensus statement of the Medical Commission of the Union Internationale des Associations d‘Alpinisme (UIAA MedCom). Ann Occup Hyg 2011; 55: 369–386.

Mosso A: Der Mensch auf den Hochalpen. Leipzig: Verlag von Veit & Comp., 1899.

Ruff S, Strughold H: Grundriss der Luftfahrtmedizin. Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1944.

Zuntz N, Loewy A, Müller F, Caspari W: Höhenklima und Bergwanderungen in ihrer Wirkung auf den Menschen. Berlin: Deutsches Verlagshaus Bong & Co, 1906.

Verfasser

Prof. Dr. med. Thomas Küpper

Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin der RWTH Aachen

Pauwelsstraße 30 – 52074 Aachen

tkuepper@ukaachen.de

Fußnoten

Arbeitsgruppe „Hypoxie und Höhenmedizin“, Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin der RWTH Aachen (Direktor: Prof. Dr. med. Thomas Kraus)