Modellierung und Erfassung kniebelastender Tätigkeiten im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2112
Etwa zehn Jahre nach Veröffentlichung der wissenschaftlichen Begründung zur Berufskrankheit Gonarthrose (BMGS 2005) sind auch im Hinblick auf die arbeitstechnischen Voraussetzungen noch viele Fragen offen. Dieser Artikel soll einen Überblick über die Forschungsaktivitäten des Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) auf dem Gebiet der beruflichen Kniebelastungen geben und einzelne Aspekte der Biomechanik des Kniens und Hockens sowie der beruflichen Exposition näher beleuchten.
Schlüsselwörter: Gonarthrose – Berufskrankheit – Knien – Gelenkbelastung – Expositionsermittlung
Modelling and exposure assessment of occupational knee stress within the meaning of occupational disease no. 2112 knee osteoarthritis
It is about ten years since the scientific statement on the occupational disease knee osteoarthritis (BMGS [Federal Ministry of Health] 2005) was published, and yet many questions remain unanswered with regard to requirements in the workplace. The purpose of this article is to provide an overview of the research done in the field of occupational knee stress by the Institute for Occupational Safety and Health of the German Social Accident Insurance (IFA) and to explain in more detail the individual biomechanical aspects of kneeling and squatting and of occupational exposure.
Keywords: knee osteoarthritis – occupational disease – kneeling – joint loads – exposure assessment
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 50: 122–129
Einleitung
Die wissenschaftliche Begründung zur Berufskrankheit „Gonarthrose“ (BMGS 2005) wirft eine Reihe von Fragen hinsichtlich der in diesem Zusammenhang wichtigen arbeitsmedizinischen und arbeitstechni-schen Voraussetzungen auf. Zwar konnten die in der Begründung zitierten epidemiologischen Studien einen Zusammenhang zwischen der langjährigen Tätigkeit im Knien oder vergleichbaren Haltungen und der Ausbildung einer Kniegelenksarthrose darlegen, Aspekte wie Pathomechanismus, belastungskonformes Schadensbild oder Nachweis der Exposition waren indes weniger stark durch Studien belegt bzw. wurden nicht angesprochen. Auf Basis des sich hieraus ergebenden Forschungsbedarfs wurden unterschiedliche wissenschaftliche Studien durchgeführt. Eine ganze Reihe von medizinischen Studien beschäftigte sich etwa mit dem Nachweis eines belastungskonformen Schadensbildes einer arbeitsbedingten Gonarthrose, das allein aufgrund der eindeutigen medizinischen Diagnose auf die arbeitsbedingte Verursachung der Erkrankung schließen ließe und damit etwa eine Abgrenzung von idiopathischen Gonarthrosen erlaubte (z. B. Neubauer et al. 2009; Klußmann et al. 2010; Spahn et al. 2010; Hofmann et al. 2011; Horng et al. 2011).
Die Ergebnisse dieser Studien wurden inzwischen in einer inter-disziplinären Arbeitsgruppe unter der gemeinsamen Leitung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM – wissenschaftlich) und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV – organisatorisch) vorgestellt und analysiert. In der von dieser Gruppe erarbeiteten „Begutachtungsempfehlung für die Berufskrankheit Nr. 2112 (Gonarthrose)“ kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass sich „nach momentanem Kenntnisstand (…) medizinisch-wissenschaftlich ein spezifisches Verteilungsmuster der Knorpelschäden im Kniegelenk durch arbeitsbedingte Belastungen für eine Berufskrankheit Nr. 2112 nicht definieren“ lässt (Bolm-Audorff et al. 2014). Demnach kann man sagen, dass sich aktuell kein belastungskonformes Schadensbild der arbeitsbedingten Gonarthrose erkennen lässt.
Parallel zu den medizinischen Studien wurden auch die arbeitstechnischen Aspekte der BK 2112 in verschiedenen Forschungsvorhaben untersucht, deren Ergebnisse teilweise helfen können, das Fehlen eines belastungskonformen Schadensbildes – zumindest nach aktuellen Erkenntnissen – zu erklären. Im Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) wurden zu diesem Zweck Laboruntersuchungen durchgeführt, um die im Knie-gelenk wirkenden Kräfte während des Kniens oder Hockens zu quantifizieren. Diese Untersuchungen und Ergebnisse werden im Abschnitt „Biomechanische Modellierung“ beschrieben.
Das Fehlen eines belastungskonformen Schadensbildes führt im Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren dazu, dass der Nachweis einer beruflichen Verursachung der Gonarthrose auf eine möglichst valide Ermittlung der beruflichen Exposition angewiesen ist. Diese wird allerdings durch die bei retrospektiven Belastungsermittlungen üblicherweise auftretenden Ungenauigkeiten erschwert. Daher führte das IFA in Kooperation mit mehreren Unfallversicherungsträgern eine Feldstudie an verschiedenen Arbeitsplätzen durch, mit dem Ziel, ein valides, messwertbasiertes Kataster kniebelastender Haltungen bei verschiedenen beruflichen Tätigkeiten aufzubauen. Ergebnisse dieser Untersuchungen werden im Abschnitt „Berufliche Exposition“ dargestellt.
Biomechanische Modellierung
Der in der wissenschaftlichen Begründung beschriebene Pathomechanismus stellt als Auslöser die erhöhte Druckkraft auf den Gelenkknorpel beim Hocken oder Knien heraus. Die erst später im Merkblatt zur BK 2112 (BMAS 2010) angegebenen Druckkräfte bei der Kniegelenksbeugung von 90° bzw. 120° von 3,7 bzw. 4,5 Kilonewton (kN) basieren auf biomechanischen Studien, die nicht genau die relevanten Haltungen bzw. Tätigkeiten im Fokus hatten bzw. wesentliche Faktoren der äußeren Belastungseinwirkung wie die Mehrpunktabstützung auf dem Boden und den möglichen Weichteil-kontakt von Ober- und Unterschenkel bei maximaler Kniebeugung unberücksichtigt ließen ( Abb. 1).
Um eine realistischere Abschätzung der Druckkräfte im Kniegelenk zu ermöglichen, wurde im IFA ein spezielles biomechanisches Kniegelenkmodell entwickelt, das die unterschiedlichen äußeren Krafteinwirkungen auf die untere Extremität bei großen Kniebeugewinkeln berücksichtigt (Glitsch et al. 2009). Damit sollten einerseits verschiedene statische Haltungen im Hocken und Knien und andererseits damit verbundene berufsspezifische Tätigkeiten analysiert werden.
Das biomechanische Modell der unteren Extremität wurde auf Grundlage bestehender Kniegelenkmodelle aus der Literatur (Crowninshield et al. 1976; Dahlkvist et al. 1982; Maquet 1976) für diesen speziellen Einsatzzweck erweitert ( Abb. 2). Insbesondere waren hier die speziellen anatomischen Gegebenheiten bei großen Kniebeugewinkeln (> 120°) zu berücksichtigen. Dies betrifft die beugungsabhängige Wanderung der Gelenkdrehachse (Menschik 1987), die Zugrichtungsänderungen von Patellar- und Quadrizepssehne sowie die Veränderung des Hebelmechanismus der Patella (Hehne 1990; Van Eijden et al. 1986).
Die Mehrpunktabstützung des Beins – z. B. beim Knien – wurde bei der Modellrechnung berücksichtigt und durch den Einsatz von zwei Kraftmessplatten (Kistler, Winterthur, Schweiz) erfasst.
Der für die inneren Muskel-Skelett-Belastungen wichtige Aspekt des Weichteilkontakts zwischen Ober- und Unterschenkelrückseite bei großen Beugewinkeln (Caruntu et al. 2003; Zelle et al. 2007) wurde mit einem Druckmesspad (Paromed, Neubeuern) an der Oberschenkelrückseite gemessen.
Die dreidimensionale Bewegungserfassung erfolgte mit einem VICON-Messsystem (Vicon Motion Systems, Oxford, England) mit zwölf Kameras, das zugleich auch die anderen hier genannten Mess-größen synchron aufzeichnete. Die Berechnung der tibiofemoralen und der patellofemoralen Gelenkkräfte erfolgte im Sinne der inversen Dynamik für die Sagittalebene des Beins, die für die zu untersuchenden Haltungen die Hauptbelastungsebene darstellt. Zur Modellvalidierung wurden die Elektomyogramme (EMG) des M. quadrizeps femoris und des M. semimembranosis bzw. M. bizeps femoris aufgezeichnet.
Untersuchungsablauf
In einer ersten Messreihe wurden drei männliche Probanden (Alter: 26–36 Jahre) ohne Kniebeschwerden beim Einnehmen und Verweilen in den Haltungen Hocke, beidbeiniges Knien (ohne Oberkörperabstützung) und Fersensitz sowie beim Stehen und Gehen analysiert ( Abb. 3). In einer zweiten Messreihe wurden je fünf erfahrene Fliesenleger (Alter: 21–56 Jahre) und Heizungsinstallateure (Alter: 28–52 Jahre) in den zuvor genannten Haltungen und außerdem beim Fliesenlegen bzw. bei der Heizkörpermontage analysiert.
Druckkräfte im Kniegelenk bei knienden und hockenden Haltungen
Die ermittelten tibiofemoralen Gelenkkräfte lagen bei den statischen Haltungen im Hocken und Knien aller 13 Probanden im Mittel gleichermaßen bei rund 50 ± 15 % BW (BW = body weight) ( Abb. 4). Auch bei den beruflichen Tätigkeiten des Fliesenlegens und der Heizkörpermontage lagen die Gelenkkräfte auf dem gleichen Niveau. Demgegenüber waren die Gelenkkräfte im Verlauf des Hinkniens bzw. des Aufstehens wesentlich höher und erreichten rund 250 ± 60 % BW. Die gemessenen Weichteilkontaktkräfte zwischen Ober- und Unterschenkel betrugen beim Hocken und Fersensitz durchschnittlich etwa 80 ± 15 % der Bodenreaktionskraft des Beins, was eine wesentliche Entlastung des Kniegelenks zur Folge hatte und die relativ niedrigen Gelenkkräfte erklärt. Die EMG-Aufzeichnungen bestätigten die vom Modell vorhergesagte geringe Muskelaktivität der Kniestreck- und -beugemuskulatur. Weiterhin wird dieser Befund durch die zehnminütigen Dauertests im Hocken, Knien und Fersensitz unterstützt, die die drei Probanden aus der ersten Messreihe erfolgreich absolvierten, ohne anschließend über besondere Belastungsempfindungen im Kniegelenk zu berichten. Beim Stehen und Gehen betrugen die tibiofemoralen Gelenkkräfte am belasteten Bein im Mittel etwa 150 ± 70 % BW.
Ein ähnliches Gesamtbild zeigte auch die Anpresskraft der Patella – die Druckkräfte lagen beim Hocken und Knien gleichermaßen bei rund 100 ± 20 % BW. Beim Hinknien und Aufstehen erreichten sie dagegen über 300 ± 100 % BW. Aufgrund der weitgehend gestreckten Beine beim Stehen und Gehen lagen die Anpresskräfte dort bei nur rund 50 ± 40 % BW.
Interpretation der Ergebnisse
Die gefundenen Ergebnisse können die im Merkblatt zur BK 2112 angeführten erhöhten Druckkräfte im Kniegelenk bei Tätigkeiten im Hocken und Knien nicht bestä-tigen. Eine unterschiedliche Bewertung der Kniegelenkkräfte beim Hocken und Knien erscheint nach dem jetzigen Kenntnisstand nicht erforderlich, da sich die Höhe der Druckkräfte nur marginal unterscheidet – allenfalls wären noch niedrigere Gelenkkräfte beim Knien mit abgestütztem Oberkörper anzusetzen. Die gegenüber dem Stehen und Gehen leicht erhöhten patello-femoralen Anpresskräfte könnten als schwa-cher Hinweis für eine erhöhte Prävalenz einer Retropatellararthose gesehen werden. Allerdings liegen auch hier die ermittelten Druckkräfte noch im Rahmen typischer Be-lastungen des alltäglichen Lebens wie z. B.Treppensteigen, Heben von Lasten oder Kniebeugen. Bei freizeitsportlichen Aktivi-täten wie Fußball, Tennis oder Volleyball muss sogar mit weit höheren Anpresskräften gerechnet werden. Insofern scheint eine Schädigung des Kniegelenkknorpels beim Hocken und Knien allein durch die Höhe der Gelenkkräfte unwahrscheinlich. Eventuell könnten das dauerhafte Hocken und Knien im Sinne einer Zwangshaltung punktuell einen Versorgungsengpass des Knorpelgewebes bedingen, wobei hierzu konkretere Hinweise bislang fehlen. Für einen möglichen Pathomechanismus sollten zusätzlich andere Faktoren wie Mikrotraumen, Meniskopathien, Reizungen bzw. Entzündungen der Gelenkkapsel und Stoffwechselbeeinträchtigungen im Kniegelenk als Gesamtkomplex durch lang andauerndes Knien oder Hocken in Betracht gezogen werden (Bolm-Audorff et al. 2014, S. 13 ff.).
Auf Grundlage der hier gewonnenen biomechanischen Erkenntnisse ist ein abgrenzbares belastungskonformes Schadensbild einer durch Hocken und/oder Knien bedingten Gonarthrose am Kniegelenkknorpel nicht zu erwarten. In den extremen Beugestellungen des Kniegelenks beim Hocken und Knien erscheinen die ermittelten Druckkräfte zu gering, als dass sie die dann in Kontakt befindlichen Knorpelflächen entsprechend schädigen könnten. Zumindest ist ein solcher Pathomechanismus auf dem Niveau der hier gefunden Kompressionskräfte bisher nicht plausibel dokumentiert. Damit deckt sich der Befund auch mit den Ergebnissen anderer Studien, die kein abgrenzbares belastungskonformes Schadensbild finden konnten (Hofmann et al. 2011; Horng et al. 2011; Neubauer et al. 2009).
Berufliche Exposition
Im Merkblatt zur BK 2112 werden hinsichtlich der Exposition drei Aspekte genannt, die bei der Suche nach den arbeitstechnischen Voraussetzungen zu beachten sind: Die Tätigkeit („Knien oder vergleichbare Kniebelastung“), eine kumulative Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens („13 000 Stunden“) sowie eine tägliche Mindesteinwirkungsdauer („eine Stunde“). Neben den bereits im Merkblatt zitierten Studien konnten inzwischen auch weitere Studien einen epidemiologischen Zusammenhang zwischen Knien und vergleichbaren Haltungen sowie der Ausbildung einer Gonarthrose nachweisen. Auch die kumulative Einwirkungsdauer von 13 000 Stunden als Maß für das „Verdopplungsrisiko“ im Sinne einer Berufskrankheit konnte – zumindest in Bezug auf die Größenordnung – in aktuellen Fall-Kontroll-Studien weitgehend bestätigt werden (Seidler et al. 2008; Klußmann et al. 2010). Bei der arbeitstäglichen Dauer der relevanten Kniebelastung, die mit der Mindesteinwirkungsdauer pro Arbeitsschicht von einer Stunde abzugleichen ist, handelt es sich aber weiterhin um eine schwer erfassbare Größe, die in Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren häufig Gegenstand kontroverser Beurteilungen ist. Im Folgenden Abschnitt werden messtechnischen Untersuchungen vorgestellt, deren Ergebnisse die Expositionsermittlung unterstützen können.
Arbeitstägliche Dauer der Kniebelastung
Sowohl epidemiologische Studien als auch Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren sind bei der Abschätzung der beruflichen Belastung von Probanden bzw. Versicherten in der Regel auf eine retrospektive Expositionsermittlung durch Befragung von Personen angewiesen. Wie einige Studien zeigen, können derartige Befragungsergebnisse aufgrund von Erinnerungslücken sowie fehlender oder unterschiedlicher Wahrnehmung hinsichtlich ihrer Validität zumindest als fraglich eingestuft werden (Burdorf u. Laan 1991; Viikari-Juntura et al. 1996; Ditchen et al. 2013). Da speziell mit Hinblick auf die arbeitsbedingten Belastungen gemäß BK 2112 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Begründung kaum valide Erkenntnisse vorlagen, führte das IFA federführend mit den Kooperationspartnern Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU), Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM), Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft (BG Verkehr), Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BGRCI) und Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) messtechnische Untersuchungen zu kniebelastenden Tätigkeiten in verschiedenen Branchen durch („GonKatast“, Ditchen et al. 2010).
Mit Hinblick auf die Definition der relevanten Exposition gemäß dem Merkblatt zur BK 2112 (BMAS 2010) umfasste die Studie folgende Tätigkeiten: Knien ohne Abstützung des Oberkörpers, Knien mit Abstützung des Oberkörpers, Fersensitz, Hocken und Kriechen ( Abb. 5).
Bei dem Studienkollektiv handelte es sich um ca. 200 männliche Probanden (Durchschnittsalter: 36 ± 11,5 Jahre) aus 16 verschiedenen Berufen, die an insgesamt etwa 250 Arbeitsschichten untersucht wurden. Die Auswahl der Berufe orientierte sich in erster Linie an den in der wissenschaftlichen Begründung genannten „Risikoberufen. Um der Komplexität und Heterogenität der einzelnen Berufe gerecht zu werden, wurden diese jeweils in typische Tätigkeiten, sog. Tätigkeitsmodule, differenziert. So wurde etwa beim Fliesenleger unterschieden zwischen „Bodenfliesen verlegen (Dünnbett)“, „Wandfliesen verlegen (Dünnbett)“ oder „Bodenfliesen verfugen“. Insgesamt ergaben sich auf diese Weise 81 Tätigkeiten in den untersuchten Berufen, die sich folgendermaßen aufteilten (in Klammern die Anzahl der Tätigkeiten): Beton- und Stahlbauer (2), Bodenleger/Raumausstatter (4), Dachdecker (14), Estrichleger (7), Fahrzeug-/Planensattler (1), Fliesenleger (8), Flugzeugabfertiger (2), Formenbauer (1), Installateure (12), Maler und Lackierer (7), Kunst- und Natursteinleger (5), Parkettleger (7), Pflasterer (3), Rohrleitungsbauer (4), Schweißer im Behälterbau (1) und Werftarbeiter (3).
Die Erfassung der Körperhaltungen und -bewegungen erfolgte mithilfe des Messsystems CUELA (Ellegast et al. 2010). Dieses mittels eines Gurtsystems auf der Arbeitskleidung getragene Messsystem erlaubt eine zeitkontinuierliche Aufnahme der Haltungen und Bewegungen des Rumpfes sowie der unteren Extremitäten des Probanden direkt am Arbeitsplatz (s. Abb. 5, b–d).
Als Ergebnis zeigte sich, dass Zeitanteile von über 50 % einer Arbeitsschicht in kniebelastender Haltung keine Seltenheit in den untersuchten Berufen darstellten (z. B. bei Dachdeckern, Estrichlegern, Fliesenlegern, Installateuren, Parkettlegern, Pflasterern und Werftarbeitern). Insgesamt reichten die Zeitanteile in kniebelastenden Haltungen von 0 % bis etwa 90 % einer Tagesschicht und zeigten somit eine große Streuung innerhalb der untersuchten „Risikoberufe“. Aber auch innerhalb der einzelnen Berufsgruppen fand sich eine große Variation der Expositionszeiten: So reichte beispielsweise die durchschnittliche Kniebelastungsdauer beim Installateur von 25 min bis 315 min pro Standard-Arbeitsschicht, je nach durchgeführter Tätigkeit ( Tabelle 1). Ähnliche tätigkeitsspezifische Unterschiede in der Dauer der täglichen Kniebelastung konnten in nahezu allen untersuchten Berufen nachgewiesen werden (Ditchen et al. 2010, 2015).
Hinknien und Aufstehen
Wie die zuvor beschriebenen biomechanischen Laboruntersuchungen des IFA zur Gelenkkraft im Kniegelenk zeigen konnten, ist diese Kraft im Femorotibialgelenk im Knien oder Hocken weitaus geringer als im Stehen oder Gehen, erreicht aber Spitzenwerte beim Hinknien und beim Aufstehen (s. Abb. 4). Aus diesem Grund könnte es neben der Frage der arbeitstäglichen Gesamtdauer der Kniebelastung auch von Interesse sein, wie häufig sich ein Betroffener pro Tag hinknien oder hinhocken bzw. wieder aufstehen muss. Entsprechende Ergebnisse aus der GonKatast-Studie sind in Abb. 6 dargestellt. Sie stellt für jede untersuchte Berufsgruppe die durchschnittliche Anzahl der Hinknie-Vorgänge in einer Arbeitsschicht der durchschnittlichen Gesamtdauer der Kniebelastung pro Arbeitsschicht gegenüber (Ditchen 2012).
Anhand dieser Auswertung lassen sich die untersuchten Berufe grob in zwei Gruppen unterscheiden: Es kann zwischen Berufen, in denen über längere Zeit konstant in kniebelastenden Haltungen gearbeitet wird, und Berufen, in denen die Kniebelastungsphasen relativ häufig durch Aufstehvorgänge unterbrochen werden, unterschieden werden.
Zu ersterer Gruppe gehören mit Fliesen-leger und Parkettleger z. B. typische „Bodenberufe“, die aufgrund ihrer Arbeitsaufgabe während des Verlegens des Bodenmaterials längere Zeit am Boden verbringen müssen, aber auch Werftarbeiter und Flugzeugabfertiger, die aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse gezwungen sind, längere Zeit ohne Unterbrechung in kniebelastender Haltung zu verbringen. Bei den Flugzeugabfertigern zeigt sich beispielsweise mit im Mittel etwa 20 Hinknie-Vorgängen pro Arbeitsschicht der geringste Wert in der Untersuchung, bei einer täglichen Kniebelastung von immerhin etwa 13 % Schichtanteil.
Zur zweiten Gruppe gehören dagegen Berufe bzw. Tätigkeiten wie Betonbauer beim Bewehren oder bei Schalungsarbeiten, die jeweils nur ein kurzes, häufig wiederholtes Niederknien zum Flechten von Armierungseisen bzw. zum Fixieren eines Schalungsbretts bedingen. Bei den Betonbauern konnte in der Untersuchung die höchste Anzahl an Hinknie-Vorgängen (ca. 380) nachgewiesen werden, wobei die gemessene mittlere Dauer der arbeitstäglichen Kniebelastung mit etwa 16 % Schichtanteil vergleichbar mit dem Wert der Flugzeugabfertiger ist.
Bei der zweiten Gruppe werden die Kniebelastungsphasen also häufig durch Ortswechsel unterbrochen, so dass man hier von einer höheren Dynamik der Kniebelastung gegenüber der ersten Gruppe mit eher statischer Kniebelastung sprechen kann. In Anbetracht dieser Ergebnisse und dem bisher nicht geklärten Pathomechanismus der arbeitsbedingten Gonarthrose stellt sich die Frage, ob die berufliche Verursachung nicht auf unterschiedlichen Mechanismen beruhen könnte – etwa mechanische Druckschädigung des Knorpels durch häufiges Hinknien/-hocken bzw. Aufstehen sowie eine Schädigung durch Gefäßkompression beim eher statischen Knien oder Hocken.
Schlussfolgerungen
Die im Jahr 2005 veröffentliche wissenschaftliche Begründung zur BK 2112 ließ viele Fragen zu Themen wie Biomechanik, Pathomechanismus, belastungskonformes Schadensbild oder Expositionsermittlung offen, die bis heute nur teilweise geklärt werden konnten. Demgegenüber sind einige der damals genannten Begründungen heute aufgrund neuer Erkenntnisse in einem anderen Licht zu betrachten.
Die seinerzeit postulierten hohen Druckkräfte auf die Knorpeloberflächen im Kniegelenk beim Hocken und Knien, können nach den neuen biomechanischen Studien nicht bestätigt werden. In den statischen Endlagen dieser Haltungen treten keine hohen Druckkräfte auf. Diese liegen beim Tibiofemoralgelenk typischer Weise unter 50 % der Belastung beim Stehen oder Gehen. Dagegen treten beim Aufstehen oder Hinknien-/hocken in der Regel deutlich erhöhte Druckkräfte in allen Kniegelenkkompartimenten auf. Ob diese Bewegungen letztlich gelenkschädigend sind, ist bisher nicht geklärt bzw. nach heutigem Kenntnisstand zumindest nicht sehr wahrscheinlich.
Als Konsequenz der biomechanischen Studien lässt sich ein belastungskonformes Schadensbild, das mit spezifischen Knorpelregionen korrespondiert, die speziell nur bei stark gebeugten Kniegelenken Kontakt haben, nicht erwarten. Auch die neueren Studien aus den Gebieten der Radiologie und Arthroskopie konnten kein belastungskonformes Schadensbild nachweisen.
Damit wird die Ermittlung der beruflichen Exposition in Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren zu einem primären Kriterium bei der Beurteilung des beruflichen Zusammenhangs. Umso wichtiger ist dabei eine valide Expositionsermittlung, die es erlaubt, eine möglichst objektive Bewertung vornehmen zu können. Hier können beispielsweise messwertbasierte Katasterdaten die Ermittlung der arbeitstäglichen Expositionsdauer unterstützen.
Zur in der Begründung formulierten kumulativen Einwirkungsdauer von 13 000 Stunden als Maß für das „Verdopplungsrisiko“ im Sinne einer Berufskrankheit lässt sich sagen, dass diese – zumindest in Bezug auf die Größenordnung – in neueren Fall-Kontroll-Studien weitgehend bestätigt werden konnte, wobei auch diese Studien natürlich auf eine retrospektive Expositionsermittlung durch Befragung von Probanden angewiesen waren.
In Bezug auf den bisher geschilderten Pathomechanismus für die Entstehung einer arbeitsbedingten Gonarthrose müssen andere Faktoren als die hohen Druckkräfte beim Hocken und Knien gefunden werden, um eine biologisch plausible Erklärung für die Entstehung einer Gonarthrose nach langjährigem Ausüben von Tätigkeiten im Hocken und Knien zu ermöglichen. Eine besondere Schwierigkeit liegt hier in dem großen zeitlichen Versatz von Exposition und Schadenseintritt einer Gonarthrose.
Nach dem jetzigen Kenntnisstand ist es kaum möglich, fundierte Präventionsempfehlungen abzugeben, da unklar ist, ob die Zeitdauer des Hockens und Kniens oder das häufigere Aufstehen und Hinknien das größere Risiko für die Entwicklung einer Gonarthrose darstellen. Demnach ist bislang nicht zu beurteilen, ob es für die Kniegelenke vorteilhafter ist, über längere Zeitabschnitte im quasi-statischen Knien zu arbeiten oder die Arbeit häufiger zu unter-brechen und aufzustehen. Unbestritten bleiben dabei mögliche Beschwerden im Bereich der Kniegelenke durch Gefäßkompressionen infolge eines mehr oder weniger statischen Kniens mit stark gebeugten Kniegelenken. Daher ist derzeit nur die Vermeidung kniender oder vergleichbarer Haltungen zu empfehlen, soweit dies unter praktischen Aspekten möglich ist. Alternativ sollten entsprechende Hilfsmittel oder auch die Umgestaltung von bisherigen Arbeitsabläufen in den Fokus gerückt werden. Auch verhaltenspräventive Maßnahmen sind in Erwägung zu ziehen.
Insgesamt bleibt für das Feld der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2112 und insbesondere der damit verbundenen Präventionsaktivitäten festzustellen, dass weitere Untersuchungen zur Klärung des Pathomechanismus bzw. der Pathomechanismen, die zur Entstehung einer arbeitsbedingten Gonarthrose durch langjährige Tätigkeiten im Knien oder vergleichbaren Tätigkeiten eine wichtige Voraussetzung sind.
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BMGS: Wissenschaftliche Begründung für die Berufskrankheit „Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbarer Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13 000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht“. Bundes-arbeitsblatt 2005; 10: 46–54.
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Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass sie innerhalb der vergangenen 3 Jahre für den DGUV-Arbeitskreis „Begutachtung der Gonarthrose“ tätig waren.
Für die Verfasser
Priv.-Doz. Dr. sportwiss. Ulrich Glitsch
Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA)
Alte Heerstraße 111, 53757 Sankt Augustin
Fußnoten
Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung – IFA (Direktor: Prof. Dr. rer. nat. Dietmar Reinert), Referat 4.3: Arbeitswissenschaft/Ergonomie, Sankt Augustin