Untersuchung der Prävalenz, der Häufigkeit und des Zusammenhangs mit Befindensbeeinträchtigungen bei Beschäftigten des Sozial- und Gesundheitswesens in Deutschland1
doi:10.17147/asu-1-405965
Sexual harassment by those in need of care and support – Investigation of the prevalence, frequency and association with impairments of well-being among employees in the social services and healthcare sector in Germany
Social services and healthcare workers are at high risk of experiencing sexual harassment in the workplace. So far only a few studies have systematically investigated social services and healthcare workers’ experiences of different forms of sexual harassment by those in need of care and support in Germany. This study aimed to address the gap by determining the prevalence rates and frequency of nonverbal, verbal, and physical sexual harassment of social services and healthcare workers by those in need of care and support. In addition, the correlations of sexual harassment with the workers’ mental well-being were examined and their awareness of offers of organisational support for sexual harassment prevention and aftercare described. Data were collected from n = 901 employees working in a total of 61 facilities, including inpatient and outpatient care, psychiatric facilities, hospitals, and facilities for persons with disabilities. While the prevalence and frequency of the three forms of sexual harassment differed across sectors, the results indicated that nonverbal, verbal and physical sexual harassment is frequent in social services and healthcare work, with both men and women being affected. Furthermore, there is a positive correlation between the experience of sexual harassment at the workplace by those in need of care and support and impairment to the mental well-being (e. g. depression and psychosomatic complaints) of those affected. In terms of the support available for sexual harassment prevention and aftercare, approximately one-third of social services and healthcare workers were not aware of any offers at their facilities. This study provides further recommendations for the development of interventions for prevention and aftercare and suggests several avenues for future research.
Keywords: sexual harassment – social and health care sector – prevention and aftercare
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2024; 59: 777–781
Sexuelle Belästigung durch zu Pflegende und zu Betreuende – Untersuchung der Prävalenz, der Häufigkeit und des Zusammenhangs mit Befindensbeeinträchtigungen bei Beschäftigten des Sozial- und Gesundheitswesens in Deutschland
Beschäftigte im Sozial- und Gesundheitswesen sind einem hohen Risiko ausgesetzt, am Arbeitsplatz sexuell belästigt zu werden. Bisher haben nur wenige Studien das Vorkommen unterschiedlicher Formen sexueller Belästigung von Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen durch zu Betreuende und zu Pflegende in Deutschland systematisch untersucht. Ziel dieser Studie war es, diese Lücke zu schließen. Es wurden Betroffenenraten und die Häufigkeit nonverbaler, verbaler und körperlicher sexueller Belästigung durch zu Pflegende und zu Betreuende gegenüber Beschäftigten ermittelt. Darüber hinaus wurden Zusammenhänge zwischen sexueller Belästigung und dem psychischen Wohlbefinden der Beschäftigten sowie der Bekanntheitsgrad von Angeboten zur Prävention und Nachsorge von sexueller Belästigung untersucht. Dafür wurden Daten von n = 901 Beschäftigten aus insgesamt 61 Einrichtungen (stationäre und ambulanten Pflege, psychiatrischen Einrichtungen, Krankenhäuser und Einrichtungen der Behindertenhilfe) erhoben. Während die Betroffenenraten und Häufigkeiten der drei Formen sexueller Belästigung in den einzelnen Branchen unterschiedlich waren, zeigten die Ergebnisse, dass über alle Branchenunterschiede hinweg nonverbale, verbale und körperliche sexuelle Belästigung in der Sozial- und Gesundheitsarbeit häufig vorkommen. Es sind sowohl Frauen als auch Männer betroffen. Zudem besteht ein positiver Zusammenhang zwischen dem Erleben sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durch zu Pflegende und zu Betreuende und der Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens (z. B. Depressivität und psychosomatische Beschwerden) der Betroffenen. In Bezug auf Unterstützungsangebote zur Prävention und Nachsorge von sexueller Belästigung wurde festgestellt, dass etwa ein Drittel der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen keine Angebote in ihrer Einrichtung kannte. Die Studie zeigt weitere Ansatzpunkte für die Entwicklung von Maßnahmen zur Prävention und Nachsorge sowie für die weitere Forschung auf.
Schlüsselwörter: sexuelle Belästigung – Sozial- und Gesundheitswesen – Prävention und Nachsorge
Einleitung
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist ein weit verbreitetes Problem. Insbesondere das Gesundheitswesen sticht mit hohen Fallzahlen heraus. Es gibt nur wenige Erkenntnisse über die Belästigung durch Patientinnen und Patienten, Kundinnen und Kunden sowie Bewohnerinnen und Bewohner im Gesundheits- und Sozialwesen. Die vorliegende Studie soll diese Lücke schließen, indem sie die Prävalenz und Häufigkeit verschiedener Formen der sexuellen Belästigung – nonverbal, verbal und körperlich – gegenüber Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen in Deutschland untersucht. Darüber hinaus wird der Zusammenhang zwischen solchen Belästigungen und psychischen Befindensbeeinträchtigungen untersucht sowie der Bekanntheitsgrad von Unterstützungsangeboten zur Prävention und Nachsorge erhoben.
Fragestellung
Die Forschungsfragen lauten wie folgt:
Methode
Zur Messung sexualisierter Belästigung durch zu Pflegende beziehungsweise zu Betreuende in einem Zeitraum von 12 Monaten wurde der Sexually Harassing Behavior Questionnaire (SHBQ-X; Vincent-Höper et al. 2020) eingesetzt. Die Studienteilnehmenden konnten angeben, ob sie das abgefragte Verhalten gegen sich „Nie“, „Einmal in 12 Monaten“, „Alle paar Monate“, „Alle paar Wochen“, „Alle paar Tage“ oder „(Fast) täglich“ bei ihrer Arbeit erleben. Neben soziodemografischen Variablen, wie beispielsweise der Branchenzugehörigkeit und dem Geschlecht, wurden psychische Befindensbeeinträchtigungen (z. B. emotionale Erschöpfung, Depressivität und psychosomatische Beschwerden wie Schlafstörungen, Schwindel sowie Verkrampfungen des Körpers) mit wissenschaftlich fundierten Instrumenten gemessen. Darüber hinaus wurde abgefragt, ob bestimmte Angebote zur Prävention oder Nachsorge nach sexueller Belästigung und Gewalt in der Einrichtung bekannt sind.
Es konnten Angaben von 901 Beschäftigten aus 61 Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens (stationäre und ambulante Pflege, psychiatrische Einrichtungen, Krankenhäuser, Werkstätten und Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe) in die Datenauswertung einbezogen werden.
Statistische Analysen
Im Rahmen der quantitative Datenauswertung mit der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics wurden deskriptive Statistiken (absolute Anzahl, Häufigkeit in Prozent, Mittelwert, Standardabweichung und Range) berechnet. Darüber hinaus wurde die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der eingesetzten Messinstrumente und Korrelationen (Zusammenhänge) zwischen dem Erleben sexualisierter Belästigung und psychischen Befindensbeeinträchtigungen berechnet. Branchenunterschiede wurden mittels statistischer T-Tests (inklusive Überprüfung der Varianzhomogenität) ermittelt.
Ethik
Die Forschungsstudie wurde von der lokalen Ethikkommission der Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaften der Universität Hamburg genehmigt (Nr. 2020_331). Alle Teilnehmenden wurden über den Zweck der Studie, die Freiwilligkeit der Teilnahme, den Datenschutz und die Anonymität informiert. Aufgrund des potenziell erschütternden Themas dieser Studie wurden den Studienteilnehmenden der Name einer wohnortnahen Beratungsstelle sowie die Kontaktdaten einer anonymen Telefonberatung zum Thema sexuelle Belästigung/Missbrauch mitgeteilt. Das Datenschutzkonzept wurde in Abstimmung mit der Datenschutzbeauftragten der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege entwickelt.
Ergebnisse
An der Befragung haben 717 Frauen (80 %) und 184 Männer teilgenommen. Das Durchschnittsalter in der Stichprobe (n = 901) betrug 43 Jahre (±13). Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag bei
33 Stunden (±9). Die Befragten arbeiteten in den folgenden Branchen: stationäre Pflege (32 %), ambulante Pflege (12 %), psychiatrische Einrichtung (9 %), Krankenhaus (14 %), Werkstätten (19 %) und Wohneinrichtungen (14 %) der Behindertenhilfe.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass 62,5 % aller Befragten nonverbale sexuelle Belästigung, 67,1 % verbale sexuelle Belästigung und 48,9 % körperliche sexuelle Belästigung durch zu Pflegende und zu Betreuende am Arbeitsplatz innerhalb 12 Monate erfahren haben. Es zeigten sich dabei unterschiedliche Betroffenenraten in den untersuchten Branchen (s. Infokasten, nächste Seite).
In der Studie berichteten mehr Frauen als Männer, verbale und körperliche sexuelle Belästigung bei der Arbeit erlebt zu haben, wohingegen mehr Männer als Frauen angaben, nonverbale sexuelle Belästigung bei der Arbeit erlebt zu haben. Die Geschlechtsunterschiede waren statistisch bedeutsam (signifikant).
Um herauszuarbeiten, ob sich unterschiedliche Branchen des Gesundheits- und Sozialwesens bezüglich der Häufigkeit im Erleben sexueller Belästigung innerhalb von 12 Monaten durch zu Pflegende und zu Betreuende voneinander unterscheiden, wurden Branchenmittelwerte jeder Form sexualisierter Belästigung miteinander verglichen (➥ Abb. 1)
Die Ergebnisse zeigen, dass verbale sexuelle Belästigung signifikant häufiger in der stationären und ambulanten Pflege als in den anderen Branchen erlebt wurde. Nonverbale sexuelle Belästigung wurde im Vergleich zu den anderen Branchen am signifikant häufigsten in Werkstätten der Behindertenhilfe erlebt. Körperliche sexuelle Belästigung wurde am signifikant seltensten in psychiatrischen Einrichtungen sowie Krankenhäusern im Vergleich zu den anderen Branchen berichtet.
In der Studie wurde auch untersucht, welche Form der sexuellen Belästigung innerhalb jeder Branche die häufigste berichtete Form von sexueller Belästigung durch zu Pflegende/zu Betreuende ist. Verbale sexuelle Belästigung ist in der stationären, ambulanten Pflege und in Krankenhäusern die häufigste Form. In psychiatrischen Einrichtungen und in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe sind nonverbale und verbale Belästigung am häufigsten berichtet worden. In den untersuchten Werkstätten der Behindertenhilfe ist nonverbale Belästigung die häufigste Form sexueller Belästigung durch zu Betreuende.
Über die Betroffenenrate und Häufigkeit von sexueller Belästigung bei der Arbeit durch zu Betreuende und Pflegende hinaus ist auch der Zusammenhang (Korrelationen) von sexueller Belästigung mit psychischen Befindensbeeinträchtigungen (z. B. emotionale Erschöpfung, Depressivität und psychosomatische Beschwerden) der Betroffenen untersucht worden (➥ Tabelle 1).
Die Ergebnisse zeigen, dass je häufiger sexuelle Belästigung durch zu Pflegende und Betreuende erlebt wurde, desto größere psychische Beeinträchtigungen sich bei den Betroffenen zeigten. Die Zusammenhänge mit emotionaler Erschöpfung (0,22*** bis 0,28***) sind am stärksten.
Hinsichtlich der betrieblichen Maßnahmen zur Prävention und Nachsorge sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gaben 32,5 % der Befragten an, dass ihnen keine Angebote in ihrer Einrichtung bekannt sind.
Diskussion
Die hohen berichteten Betroffenenraten stimmen mit Arbeiten von Schröttle et al. (2019) überein, die ebenfalls ein hohes Risiko für das Erleben allgemeiner sexueller Belästigung am Arbeitsplatz im Gesundheits- und Sozialwesen berichteten. Die vorliegende Studie zeigt jedoch mittels branchenspezifischer Unterschiede in der Betroffenenrate und Häufigkeit des Erlebens unterschiedlicher Formen beobachtbaren Verhaltens sexueller Belästigung durch zu Pflegende/zu Betreuende, ein noch differenzierteres Bild. Die Branchenunterschiede im Auftreten der einzelnen Formen sexueller Belästigung (nonverbal, verbal, körperlich) könnten durch Unterschiede in den Arbeitsbedingungen sowie unterschiedlichen Herausforderungen (z. B. Demenz, kognitive Einschränkungen, persönliche Krisensituation) der zu Pflegenden/zu Betreuenden zu erklären sein. Die gefundenen Geschlechtsunterschiede weisen auf eine Betroffenheit von sowohl Frauen als auch Männern von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz hin. Der Zusammenhang zwischen allen drei Formen sexualisierter Belästigung und dem beeinträchtigten psychischen Befinden (emotionale Erschöpfung, Depressivität und psychosomatische Beschwerden) der Betroffenen ist als substanziell einzuschätzen und deckt sich mit Befunden früherer Studien (z. B. Friborg et al. 2017; Nielsen et al. 2017; Rugulies et al. 2020; Semmer 2003). Nonverbale, verbale und körperliche sexuelle Belästigung durch zu Pflegende/zu Betreuende stellt somit eine relevante Gefährdung des psychischen Befindens von Beschäftigten dar.
Der Bekanntheitsgrad von Angeboten der Prävention und Nachsorge ist als gering einzuschätzen. Hier braucht es eine verstärkte Aufklärung und einen optimalen Zugang zur Weiterbildungsangeboten für betriebliche Akteurinnen und Akteure zum Thema sexuelle Belästigung im Arbeitskontext.
Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die Stichprobe nicht repräsentativ erhoben wurde. Insofern ist es möglich, dass die Ergebnisse durch Selektionseffekte beeinflusst und somit nicht verallgemeinerbar sind. Aufgrund des Querschnitt-Studiendesigns sind keine Aussagen zur Ursache-Wirkungs-Beziehung sexualisierter Belästigung und dem psychischen Befinden möglich.
Schlussfolgerungen
Sexuelle Belästigung von Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen durch zu Betreuende und zu Pflegende ist ein weit verbreitetes Phänomen in Deutschland. Alle Formen der sexuellen Belästigung (nonverbal, verbal und körperlich) treten mit unterschiedlicher Betroffenenrate und Häufigkeit innerhalb von 12 Monaten bei beiden Geschlechtern und in allen untersuchten Sozial- und Gesundheitssektoren auf. Alle Formen der sexuellen Belästigung stehen in substanziellem Zusammenhang mit psychischen Befindensbeeinträchtigungen der Betroffenen.
Eine branchenspezifische und geschlechtsspezifische Betrachtung, Untersuchungen darüber, wer belästigt und eine differenzierte Messung aller drei Formen beobachtbarer unangemessener sexueller Verhaltensweisen ist wichtig, um differenzierte und valide Befunde zu erhalten. Diese Form der Untersuchung hilft, bedarfsgerechte Maßnahmen zur Prävention und Nachsorge von sexueller Belästigung abzuleiten und zu verbessern.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Friborg MK, Hansen JV, Aldrich PT et al.: Workplace sexual harassment and depressive symptoms: A cross-sectional multilevel analysis comparing harassment from clients or customers to harassment from other employees amongst 7603 Danish employees from 1041 organizations. BMC Public Health 2017; 17: 675.
Nielsen MBD, Kjaer S, Aldrich PT, Madsen IEH, Friborg MK, Rugulies R, Folker AP: Sexual harassment in carework – Dilemmas and consequences: A qualitative investigation. Int J Nurs Stud 2017; 70: 122–130.
Rugulies R, Sorensen K, Aldrich PT et al.: Onset of workplace sexual harassment and subsequent depressive symptoms and incident depressive disorder in the Danish workforce. J Affect Disord 2020; 277: 21–29.
Schröttle M, Meshkova K, Lehmann C: Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.). Berlin, 2019.
Semmer N: Individual differences, work stress and health. In: Schabracq MJ, Winnubst JAM, Cooper CL (Hrsg.): The Handbook of Work and Health Psychology. Volume 2. Chichester, UK: JohnWiley & Sons, 2003, S. 83–120.
Vincent-Höper S, Adler M, Stein M, Vaupel C, Nienhaus A: Sexually harassing behaviors from patients or clients and care workers’ mental health: Development and validation of a measure. Int J Environ Res Public Health 2020; 17: 2570.
Kontakt
Dr. phil. Mareike Adler, Dipl.-Psych.
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
Arbeitsmedizin, Gefahrstoffe und Gesundheitswissenschaften (AGG)
Pappelallee 35/37/39
22089 Hamburg
Mareike.Adler@bgw-online.de
Info
Branchenspezifische Betroffenenraten nonverbaler, verbaler und körperlicher sexualisierter Belästigung (n = 901)
Stationäre Pflege
– nonverbal: 62,5%
– verbal: 69,0%
– körperlich: 53,0%
Ambulante Pflege
– nonverbal: 48,1%
– verbal: 70,5%
– körperlich: 50,5%
Psychiatrische Einrichtung
– nonverbal: 66,2%
– verbal: 68,3%
– körperlich: 38,0%
Krankenhaus
– nonverbal: 50,3%
– verbal: 75,9%
– körperlich: 47,0%
Behindertenhilfe – Werkstatt
– nonverbal: 73,6%
– verbal: 62,0%
– körperlich: 46,9%
Behindertenhilfe – Wohneinrichtung
– nonverbal: 69,0%
– verbal: 57,7%
– körperlich: 49,5%