The mortality risk of nitrogen dioxide: A critical evaluation from an epidemiological-statistical perspective
Zum Mortalitätsrisiko durch Stickstoffdioxid – Eine kritische Bewertung aus epidemiologisch-statistischer Sicht
Zielstellung: In mehreren deutschen Städten wird der Jahresimmissionsgrenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) von 40 µg/m³ nicht eingehalten, was teilweise schon zu Fahrverboten für bestimmte Diesel-PKW führte. Auf der Basis von umweltepidemiologischen Studien wurden zudem die Zahl der durch NO2 bedingten vorzeitigen Todesfälle in Deutschland auf jährlich 6000–45 000 geschätzt. Ziel dieses Beitrages ist es, die Validität dieser Abschätzungen aus epidemiologisch-statistischer Sicht zu überprüfen.
Methoden: Wegen der Vielzahl von Studien zu dieser Problematik werden hier nur jene Studien betrachtet, die nach Ansicht der Autoren eines im Auftrag des Umweltbundesamtes erstellten Berichts (Schneider et al. 2018) eine starke Evidenz für den Zusammenhang zwischen NO2-Exposition und der kardiovaskulären Mortalität ergeben. Ergänzend wird eine kürzlich publizierte Metaanalyse zur Bewertung herangezogen (Atkinson et al. 2018).
Ergebnisse: Die studienspezifischen Risikoschätzer für NO2 fallen sehr heterogen aus. Die Gründe dafür dürften in der unzureichenden Erfassung der starken räumlichen Heterogenität in der Exposition, der hohen Korrelation zwischen NO2 und den anderen Luftschadstoffen ebenso wie zu weiteren Confoundern und nicht zuletzt auch im „residual confounding“ liegen. Die Studien zeigen lediglich auf, dass für Personen, die an verkehrsreichen Straßen wohnen, konsistent eine höhere Mortalität zu beobachten ist.
Schlussfolgerungen: Die Studien bieten keine valide Grundlage für eine bevölkerungsbezogene Abschätzung von verlorenen Lebensjahren durch NO2. Angesichts der nur als schwach einzuschätzenden Evidenz und der globalen Nebenwirkungen auf Umwelt und Ressourcen ist die Verhältnismäßigkeit von Fahrverboten für dieselbetriebene Fahrzeuge zu hinterfragen. Methoden der Metaregression unter zusätzlicher Berücksichtigung der Risikoschätzer für die Confounder könnten dabei behilflich sein, die Heterogenität in den NO2-bezogenen Risikoschätzern aufzuklären.
Schlüsselwörter: Epidemiologie – Stickstoffdioxid – Mortalität – Risikoabschätzung
Objectives: The emission limit value for annual mean nitrogen dioxide (NO2) exposure of 40 µg/m³ is exceeded in several German cities. Moreover, based on environmental epidemiological studies, estimates of the number of premature deaths in Germany attributable to NO2 have been calculated in the order of 6,000–45,000 annually. The aim of this review is to verify the validity of these estimates from an epidemiological-statistical point of view.
Methods: In view of the large number of studies on this topic, only those studies will be considered which provide strong evidence for a connection between NO2 exposure and cardiovascular mortality in the opinion of the authors of a report commissioned by the Federal Environment Agency (Schneider et al. 2018). A recently published meta-analysis is also used for the purpose of evaluation (Atkinson et al. 2018).
Results: The study-specific risk estimators for NO2 were very heterogeneous. The reasons for this may be the insufficient assessment of the strong spatial heterogeneity in NO2 exposure, the high correlation between NO2 and the other air pollutants as well as other confounders and, last but not least, residual confounding. The studies only show that a consistently higher mortality rate can be observed for people living on roads with a high volume of traffic.
Conclusions: The studies do not provide a valid basis for a population-based estimation of years of life lost due to NO2-exposure. In view of the weak evidence and the global side-effects on the environment and resources, the commensurability of driving bans for diesel-powered vehicles must be questioned. Methods of meta-regression with additional consideration of the risk estimators for the confounders could help to clarify the heterogeneity in the NO2-related risk.
Keywords: epidemiology – nitrogen dioxide – mortality – risk estimation
Zielstellung und Methoden
In einer Reihe deutscher Städte wird der seit 2010 EU-weit geltende Jahresimmissionsgrenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) von 40 µg/m³ nicht eingehalten, weshalb in diesen Städten bereits teilweise Fahrverbote für bestimmte Diesel-PKW gelten. Unter Hinweis auf Hochrechnungen zur Zahl vorzeitiger Todesfälle durch NO2-Langzeitexposition in Deutschland, die von jährlich rund 6000 (Schneider et al. 2018) bis zu 45 000 (EEA 2017) reichen, wird sogar der Ruf nach einer weiteren Senkung des Grenzwerts laut. Angesichts dieser großen Unterschiede in den Hochrechnungen stellt sich die Frage nach der Validität der Risikoschätzungen, die diesen Hochrechnungen zugrunde liegen. Nachfolgend wird versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Neben dem im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) erstellten Bericht (Schneider et al. 2018) wurde dazu auch auf eine kürzlich publizierte Metaanalyse (Atkinson et al. 2018) zurückgegriffen.
Die Hochrechnung der 6000 vorzeitigen Todesfälle basiert auf der kardiovaskulären Mortalität, für die laut UBA-Bericht eine starke Evidenz hinsichtlich eines Zusammenhangs mit der NO2-Exposition besteht. Aus den 6 herangezogenen Studien wurde ein Risikoanstieg von 3 % (95 %-KI: 1–5 %) pro 10 µg/m³ NO2 ermittelt. Für ihre Metaanalyse zum Einfluss von NO2 auf die kardiovaskuläre Mortalität ziehen Atkinson et al. (2018) 15 Studien heran. Bis auf die Analyse des kalifornischen Teils der amerikanischen Krebs-Präventionsstudie II (Jerrett et al. 2011) sind alle im UBA-Bericht berücksichtigten Studien darin enthalten. Der Ausschluss der kalifornischen Studie entspricht dem üblichen methodischen Vorgehen bei Metaanalysen, da deren Datenbasis Teil einer späteren Analyse (Turner et al. 2016) ist. Der gepoolte Schätzer aus der Metaanalyse entspricht zwar dem Ergebnis des UBA-Berichts, aber die Analyse zeigt deutlich, dass die Risikoschätzer sehr heterogen sind. Die Gründe für diese Heterogenität sehen Atkinson et al. vor allem in den Unterschieden zwischen den Studien hinsichtlich der räumlichen Auflösung der Expositionsabschätzung sowie der Adjustierung für wichtige Confounder wie Rauchen und Body-Mass-Index (BMI). Wenn sie lediglich jene Studien betrachten, die nach Rauchen und BMI auf individueller Ebene adjustieren (n = 5), so zeigt der gepoolte Risikoschätzer keinen signifikanten Risikoanstieg mehr an [Hazard Ratio (HR) = 1,01 (95 %-KI: 0,99–1,04)]. Angesichts der vielen Unsicherheiten, die mit der Bewertung der Evidenz aus diesen Studien verbunden sind, empfehlen Atkinson et al. statt der Punktschätzer die Vorhersageintervalle zu kommunizieren. Unter Einbeziehung der kompletten Studienbasis ermitteln sie als Vorhersageintervall („prediction interval“, PI) für das relative Risiko PI = 0,98–1,08 pro 10 µg/m³ NO2.
Ergebnisse
Expositionsabschätzung
Die herangezogenen epidemiologischen Studien sind zwar oft als prospektive Kohortenstudien angelegt, jedoch nicht mit dem primären Ziel, den Einfluss verkehrsabhängiger Luftschadstoffe zu untersuchen. Probandenbezogene Expositionsmessungen liegen daher nicht vor. Insbesondere für den Feinstaub (PM10) liefern statistische Verfahren unter Nutzung der Daten vorhandener Luftmessnetze und geografischer Informationssysteme befriedigende Expositionsabschätzungen für die Wohnadressen der Studienprobanden. Für NO2 muss jedoch insbesondere in urbanen Regionen von einer wesentlich höheren räumlichen Heterogenität ausgegangen werden als für PM10. Da sich NO2 bodennah ausbreitet, spielen die örtlichen Gegebenheiten (Gebäudegeometrie, Geschosshöhe, Straßengrün etc.) eine nicht zu unterschätzende Rolle. Untersuchungen des bayerischen Landesamtes für Umwelt haben gezeigt, dass die NO2-Exposition im Innenhof eines Häuserblocks auf dem Niveau der Hintergrundbelastung liegen kann, während auf der Vorderseite eines Hauses der Grenzwert weit überschritten wird (Schädel et al. 2015). Diese Aussage wird auch von einer im Auftrag des UBA durchgeführten Studie gestützt (Minkos et al. 2018). Die „Land-use-regression“-(LUR-)Modelle, die vorrangig zur Expositionsabschätzung eingesetzt werden, können solche großen Unterschiede auf kurze Distanzen offenbar nicht widerspiegeln. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Messstationen primär dem Zweck dienen, die Einhaltung von Grenzwerten zu überwachen und sie deshalb neben den verkehrsnahen Hotspots in Großstädten nur eine als Hintergrundbelastung bezeichnete Exposition an wenig befahrenen Straßen erfassen. Außerdem müssen die Standorte der Stationen auch hinsichtlich solcher Kriterien wie Eigentumsverhältnisse, Zugangsmöglichkeit und Sicherheit gewisse Rahmenbedingungen erfüllen. Somit ist nicht zu erwarten, dass die Messwerte ein repräsentatives Abbild einer bestimmten Region ergeben. Da die Anpassungsgüte eines LUR-Modells zumeist über Kreuzvalidierung innerhalb des Messnetzes abgeschätzt wird, ist zu vermuten, dass die Güte der Expositionsabschätzung für die Wohnadressen der Probanden deutlich schlechter ausfällt.
Lediglich in der kalifornischen Studie (Jerrett et al. 2011) werden mehrere Verfahren zur Abschätzung der NO2-Exposition eingesetzt. Es zeigt sich, dass das IDW-Verfahren („inverse distance weighting“) gegenüber dem LUR-Modell für die Probandenadressen im Durchschnitt etwa zu doppelt so hohen Schätzwerten führte. Zudem verdoppelte sich der Quartilsdispersionskoeffizient, was umgerechnet auf die übliche Vergleichsbasis von 10 g/m3 eine Halbierung des Risikoschätzers ergab.
Anzumerken ist, dass Indoor-Quellen für die NO2-Exposition in keiner der für die Abschätzung im UBA-Bericht herangezogenen Studien Berücksichtigung finden. Eine Erhebung in den Wohnungen von 163 Nichtraucherinnen aus dem ländlichen Raum ergab beispielsweise eine durchschnittliche zeitgewichtete Exposition von 39 g/m³ NO2 (Spannweite: 11–139 µg/m³) durch die Verwendung von Gasherden und Gasboilern (Remijn et al. 1985). Insgesamt muss somit von einem erheblichen Bias in der probandenbezogenen Expositionsabschätzung ausgegangen werden.
Auswahl weiterer zu berücksichtigender Risikofaktoren
Es ist bekannt, dass die Mortalität neben Alter und Geschlecht auch von weiteren Faktoren beeinflusst wird, darunter insbesondere vom Rauchen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit diese Faktoren in einer Studie zum Einfluss von NO2 mit berücksichtigt werden müssen. Eine Analyse auf der Basis der Heinz-Nixdorf-Recall-Studie zeigt, dass das Wohnen in der Nähe einer stark befahrenen Straße (Abstand 100 m) mit dem Raucherstatus, dem Passivrauchen, dem BMI, dem Bildungsstand und weiteren Faktoren korreliert ist (Hoffmann et al. 2007). Somit müssen diese Faktoren in einer Analyse als Confounder (Störvariablen) mit berücksichtigt werden.
Neben diesen auf den einzelnen Probanden bezogenen Faktoren spielen aber auch weitere Umweltfaktoren eine Rolle. Der Feinstaub (PM10) und insbesondere PM2.5, dessen Feinfraktion, aber auch Ozon (O3) sind zumeist mit NO2 hoch korreliert. Schwefeldioxid (SO2) spielt im Zusammenhang mit NO2 und Ammoniak für die Bildung von Smog eine große Rolle und ist daher als Confounder ebenfalls zu berücksichtigen (Wang et al. 2016). Und nicht zuletzt muss auch der Lärm, insbesondere im Hinblick auf die kardiovaskuläre Mortalität als potenzieller Confounder in Betracht gezogen werden.
Im UBA-Bericht spielen die Confounder für die Studienauswahl leider nicht die ihnen gebührende Rolle. Für lediglich drei der ausgewählten Studien liegen personenbezogene Angaben zum Rauchen und zum BMI vor. Nur in einer Studie (Turner et al. 2016) wurde nach anderen Luftschadstoffen (O3 und PM2.5) adjustiert, wodurch sich allerdings der Risikoanstieg bezüglich NO2 um mehr als die Hälfte reduzierte.
Statistische Analyse der Daten
Für die statistische Analyse der Studiendaten wird zumeist das Cox-Modell herangezogen. Korrelationen zwischen den Einflussfaktoren können dabei zu Verzerrungen der interessierenden Risikoschätzer führen. Hohe Korrelationen bestehen aber nicht nur zwischen den genannten Luftschadstoffen, sondern auch mit dem Sozialstatus und folglich mit verschiedenen Lebensstilfaktoren. Darüber hinaus birgt die Korrelation zwischen der Exposition gegenüber NO2 und dem Rauchen, das oftmals nur in sehr groben Kategorien erfasst wird, die Gefahr eines „residual confounding“ in sich. Zwei der in der Metaanalyse (Atkinson et al. 2018) berücksichtigten Studien verwenden als Studienbasis lediglich Lehrer (Lipsett et al. 2011) bzw. Angestellte aus dem öffentlichen Dienst (Tseng et al. 2015). Folglich sind diese Kohorten homogener hinsichtlich der Lebensstilfaktoren. Aus beiden Studien werden bezüglich NO2 keine erhöhten Risiken berichtet, was auf eine verminderte Verzerrung durch die anderen Risikofaktoren hindeutet. Die englische Kohortenstudie (Carey et al. 2013) zeigt überdies auf, dass vermeintlich kleine Änderungen in der Adjustierung zu signifikanten Änderungen des NO2-bezogenen Risikoschätzers führen können. Wird neben dem Rauchen und dem BMI nach dem höchsten Bildungsabschluss anstatt nach dem Einkommen adjustiert, so sinkt das HR von 1,03 (95 %-KI: 1,00–1,07) auf 1,00 (95 %-KI: 0,97–1,03). Wird in dieser Studie Ozon als singulärer Luftschadstoff analysiert, so ergibt sich für diese Exposition sogar bezüglich aller betrachteten Endpunkte und Adjustierungsvarianten ein signifikant protektiver Effekt.
Um die Heterogenität in den Effektschätzern besser analysieren zu können, wäre es hilfreich, wenn auch die Parameterschätzer für die Kovariablen zu den Primärstudien berichtet würden und diese gemeinsam mit anderen wichtigen deskriptiven Parametern der Studienpopulationen einer Analyse mittels Metaregression zugeführt werden könnten. Diese Methoden könnten dazu beitragen, verlässlichere Risikoschätzer nicht nur für NO2, sondern auch für die anderen Luftschadstoffe zu ermitteln.
Zur Abschätzung der Krankheitslast sei hier nur angemerkt, dass die verlorenen Lebensjahre das zu bevorzugende Summenmaß darstellen. Die vorzeitigen Todesfälle sind hingegen aus methodischer Sicht als wenig geeignet einzustufen, wie kürzlich ausführlich dargelegt wurde (Morfeld u. Erren 2019).
Schlussfolgerungen
Die kritische Durchsicht der im UBA-Bericht (Schneider et al. 2018) und in der Metaanalyse (Atkinson et al. 2018) genannten Studien zum Zusammenhang zwischen NO2 und der kardiovaskulären Mortalität ergab, dass zwischen den studienspezifischen Risikoschätzern eine ausgeprägte Heterogenität besteht, woraus erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der Bewertung der Evidenz für diesen Zusammenhang resultieren. Die Ursachen dieser Heterogenität dürften neben den Schwierigkeiten bei der Expositionsabschätzung in der teilweise hohen Korrelation zwischen den Confoundern und auch im „residual confounding“ liegen. Die Studien zu NO2-Langzeiteffekten zeigen lediglich auf, dass für Personen, die an verkehrsreichen Straßen wohnen, konsistent eine erhöhte Mortalität zu beobachten ist. Ob dieser Unterschied jedoch primär durch NO2, durch einen der anderen Luftschadstoffe, durch den Straßenlärm, oder größtenteils nur durch Unterschiede in den lebensstilbezogenen Faktoren induziert wird, lässt sich auf Basis der vorliegenden Studien nicht abklären. Folglich bieten diese Studien auch keine valide Grundlage für eine bevölkerungsbezogene Abschätzung von verlorenen Lebensjahren durch NO2.
Angesichts dieser nur als schwach einzuschätzenden Evidenz und der globalen Nebenwirkungen auf Umwelt und Ressourcen ist die Verhältnismäßigkeit von Fahrverboten für dieselbetriebene Fahrzeuge zu hinterfragen (Möhner 2018).
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
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Verfasser
Dr. rer. nat. Matthias Möhner
Leiter der Gruppe „Statistische Methoden in Epidemiologie und Biometrie“
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
Nöldnerstraße 40–42
10317 Berlin
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2019; 54: –TEXT_VARIABLE
Fußnoten
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin