Laut Wikipedia bezeichnet man als Analphabetismus kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen oder Schreiben bis hin zu völligem Unvermögen in diesen Disziplinen.
2003 galten weltweit 862 Mio. Menschen als Analphabeten. In Deutschland sind 2011 nach einer Studie der Universität Hamburg ca. 4 % bzw. 2 Mio. Erwachsene totale sowie 14 % bzw. 7 Mio. funktionale Analphabeten. Aus den verschiedensten Gründen verstehen die Menschen schriftliche Anweisungen und Hinweise nicht oder scheitern bereits am Einkaufszettel.
Da in unserem Alltag nahezu alles auf Schrift basiert, sind die Betroffenen in er-heblichem Umfang in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt. Sie entwickeln dann eine Vielzahl an Vermeidungs- und Vertuschungsstrategien, die es erschweren, das eigentliche Problem, nämlich nicht richtig lesen und schreiben zu können, zu erkennen.
Von primärem Analphabetismus spricht man, wenn der Mensch die Fähigkeit zu Lesen und zu Schreiben nie erworben hat. Seit den 1970er Jahren versteht man unter sekundärem Analphabetismus, dass die Fähigkeit zum schriftlichen Umgang mit Sprache wieder verlernt wurde. Gründe für das Wiederverlernen dieser Fähigkeiten kann die zunehmende Ablösung der Schrift- und Printmedien durch Bildschirmmedien und Telefon bzw. Handy sein. Semianalphabetis-mus bedeutet dagegen, dass Menschen zwar lesen, aber nicht schreiben können. Als funktioneller Analphabetismus wird die Unfähigkeit bezeichnet, die Schrift im Alltag so zu gebrauchen, wie es im sozialen Kontext als selbstverständlich angesehen wird. Funktionelle Analphabeten sind Menschen, die zwar Buchstaben erkennen und durchaus in der Lage sind, ihren Namen und ein paar Wörter zu schreiben, die jedoch den Sinn eines etwas längeren Textes entweder gar nicht oder nicht schnell und mühelos genug verstehen, um praktischen Nutzen davon zu haben.
So können sie beispielsweise keine Straßenschilder, Gebrauchsanweisungen oder Fahrpläne lesen.
Zahlreiche Analphabeten leiden unter psychischen Problemen
Die Ursachen für funktionalen Analphabetismus sind sehr vielschichtig. Es finden sich Risikofaktoren, wie lange Krankheiten im Grundschulalter, nicht oder zu spät er-kannte Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, fehlende Unterstützung in der Familie, Negativerfahrungen in der Schule oder verzögerte bzw. gestörte Sprachentwicklung.
Große Kraft wird dann aufgebracht, um diese Schwäche zu vertuschen. Zahlreiche Analphabeten leiden zudem unter psychi-schen Problemen wie Depressionen. Darüber hinaus benötigen sie Hilfe von anderen Personen, was sich wiederum negativ auf das Selbstbewusstsein auswirkt. Die Angst vor Entdeckung und sozialer Stigmatisierung lässt Analphabeten häufig zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Einer aktuellen Studie (APOLL) des Deutschen Volkshochschul-Verbandes und des Bundesverbandes Alphabetisierung e. V. zufolge sind unter den Teilnehmern und Teilnehmerinnen von Alphabetisierungskursen für funktionale Analphabeten 51 % Singles, 61 % haben keinen Schulabschluss und 71 % keine Berufsausbildung. Knapp die Hälfte der Teilnehmer ist arbeitslos.
Wenn die Betroffenen die Schule verlassen, mit oder ohne Abschluss, aber ohne ausreichende Schriftsprachkenntnisse, dann scheint ihnen zunächst nicht bewusst zu sein, was es heißt, nicht lesen und schreiben zu können. Sie sehen sich zunächst nicht als Analphabeten. Spätestens jedoch mit Beginn des Berufslebens wird ihnen die Bedeutung des Lesens und Schreibens für den Alltag bewusst bzw. sie erkennen, welche Stigmatisierungsprozesse und negativen Sanktionen man in einer von Schrift geprägten Gesellschaft ausgesetzt ist, wenn man diese Fähigkeit nicht beherrscht.
Funktionale Analphabeten können nur schwer über die üblichen Wege der Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden (z. B. Flyer, Programmhefte, Internet), da sie diese nur sehr eingeschränkt lesen und nutzen können. Dies gelingt wesentlich besser durch die persönliche Ansprache der Betroffenen. Auf diesem Weg können Ängste und Hemmungen vor dem Kursbesuch abgebaut werden. Idealerweise werden Betroffene durch Personen aus dem Lebensumfeld angesprochen – sog. Schlüsselpersonen – die bereits mit den Betroffenen in Kontakt stehen und im besten Fall schon ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Schlüsselpersonen arbeiten beispielsweise in der Arbeitsvermittlung, den Sozialberatungsstellen, den Wohlfahrtsverbänden und in Unternehmen. Sie stellen Betroffene vor Lese- und Schreibsituationen, die einen Anlass geben können, über ihre Probleme zu reden und vermitteln bei Bedarf Alphabetisierungsangebote.
12,4 % der Erwerbstätigen sind funktionale Analphabeten. Kleine Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern beschäftigen rein statistisch einen funktionalen Analphabeten. Mittlere Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern beschäftigen rein statistisch bis zu 60 funktionale Analphabeten. Es gibt Branchen, in denen der Anteil der funktionalen Analphabeten weitaus höher ist. In einem Unternehmen beispielsweise aus der Reinigungsbranche mit zehn Reinigungskräften sind rein statistisch fast die Hälfte – also vier Beschäftigte – funktionale Analphabeten. Bei einem mittleren Reinigungsbetrieb von bis zu 500 Beschäftigen sind rein statistisch bis zu 200 Reinigungskräfte funktionale Analphabeten.
In manchen Branchen ist die Zahl der funktionalen Analphabeten besonders hoch
Woran kann ich aber erkennen, dass jemand vermutlich Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat? In einem Dokument der Hamburger Volkshochschule für Jobcentermitarbeiter werden folgende Erkennungsmöglichkeiten aufgeführt:
Er/Sie …
- hat nach Abschluss der allgemeinen Schulpflicht an keiner Aus- und Weiterbildung teilgenommen (beispielsweise
- keinen Führerschein, keinen Gabelstaplerschein erworben),
- vermeidet grundsätzlich unsichere Situa-tionen (aus der Angst heraus, entdeckt zu werden),
- liefert schriftlich zu erbringende Unterlagen und Nachweise (zu) spät oder gar nicht ab,
- leistet schriftlichen Aufforderungen, Ein-ladungen (per Post) keine Folge,
- nimmt schriftlich angekündigte Termine nicht wahr („Post ist nicht gekommen“),
- versteht schriftliche Aufforderungen/An-weisungen nicht oder falsch,
- besucht keine Informationsveranstaltun-gen,
- hat Probleme, Veränderungen im Betrieb mitzumachen (beispielsweise Umstellung in den Produktionsprozessen, neue Tätigkeiten/manuelle Arbeit/Büroarbeit/Abteilungswechsel/computergesteuerte Maschinen bedienen),
- kann den Inhalt eines scheinbar gelesenen Textes nicht wiedergeben, sich nicht darüber unterhalten,
- hat motorische Schwierigkeiten beim Schreiben, das Geschriebene wirkt wie eine selbst entwickelte Schrift (Doktorschrift),
- „malt“ die Unterschrift, sie entspricht beispielsweise nicht der übrigen Schrift des Briefes,
- macht beispielsweise in Arbeitsnachweisen viele Rechtschreibfehler,
- „vernuschelt“ die Wörter, lässt Endungen weg,
- hat erkennbare Sprach- und Schriftprobleme,
- hat unter Umständen einen kleineren Wortschatz, drückt sich einfach aus, ver-wechselt den dritten und vierten Fall,
- delegiert Schreibanforderungen an Ver-traute und Fremde: „Machen Sie das doch gleich mal“, „Sie können das besser …“, „Das Formular nehme ich mit, das mache ich zu Hause …“, „Den Nachweis schreibe ich zu Hause …“,
- täuscht über Schwierigkeiten hinweg. Er/sie sagt beispielsweise:
- „Ich habe meine Brille vergessen“,
- „Ich habe meine Hand verletzt“ oder „Habe Sehnenscheidenentzündung“,
- „Die Schrift ist zu klein, ich kann das nicht lesen“,
- „Ich habe jetzt keine Zeit, meine Kinder warten …“,
- „Ich merke mir das …“
Ein früherer Betroffener sagte einmal: „Funk-tionale Analphabeten können nicht dumm sein, sonst würden sie viel öfter auffallen!“ Sie bieten:
- Kreativität: Funktionale Analphabeten müssen sich ständig Ausreden einfallen lassen, um nicht aufzufallen und trotzdem ihren Alltag bewältigen zu können. Diese Ausreden und Vermeidungsstrate-gien erfordern ein Höchstmaß an Kreativität und Einfühlungsvermögen in eine Situation.
- Soziale Intelligenz: Die Betroffenen sind häufig sehr sensibel und emphatisch. Sie beschäftigen sich intensiv mit ihrem Gegenüber, da sie immer darauf achten, ob jemand ihre Schwächen erkennt.
- Gutes Kurzzeitgedächtnis: Da sich funk-tionale Analphabeten nur sehr eingeschränkt etwas aufschreiben können, müssen sie sich sehr viel merken. Das schult ihr Kurzzeitgedächtnis.
Um das Thema im Betrieb anzusprechen, gibt es günstige und ungünstige Situationen. Wichtig ist dabei immer die vertrauensvolle Atmosphäre. Das heißt, es gibt keine weiteren Zuhörer und die Person kann sich darauf verlassen, dass die Informationen nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Als Vorgesetzter sollte man aber den oder die Betroffene nicht im Konflikt auf das Thema ansprechen. Wenn Menschen auf das Problem mit dem Lesen und Schreiben ange-sprochen werden, kann es passieren, dass eine ganze Lebens- und Leidensgeschichte auftaucht. Für das Erzählen sollte Zeit da sein und Wertschätzung entgegengebracht werden. Wenn der/die Beschäftigte darauf angesprochen wird, dann sollten auch Auswege aufgezeigt werden können. Es sollten zuvor Lernangebote vor Ort recherchiert werden, eventuell sogar der Kontakt zu den Kursleitungen gesucht werden. Eine gute Quelle sind hier häufig die Volkshochschu-len, die spezielle Alphabetisierungskurse anbieten. Eine sichere Beziehung zu dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin ist die Voraussetzung dafür, dass das Gespräch gelingt. Die Menschen brauchen das Gefühl, akzeptiert und verstanden zu werden. Es sollte den Betroffenen versichert werden, dass es darum geht, miteinander zu arbeiten und eine Lösung zu finden.
Um einen Alphabetisierungskurs zu besuchen, müssen Betroffene nicht nur eine Motivation verspüren, sondern müssen von Dritten über ihre Chancen informiert werden. Die Betroffenen wissen häufig nicht, dass es in Volkshochschulen wie auch bei kirchlichen und freien Trägern die Möglichkeit gibt, im Erwachsenenalter Lesen und Schreiben zu lernen. Sie wissen meistens auch nicht, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind, sondern dass es 7,5 Millionen Menschen in Deutschland gibt, denen es genauso geht.
Eine klare Bennenung der Problematik bietet Lösungsmöglichkeiten
In Deutschland sozialisierte funktionale Analphabeten geben sich aus Scham nur selten zu erkennen. In manchen Fällen wissen nicht einmal enge Freunde und Fami-lienmitglieder von den Schwierigkeiten, mit denen die Betroffenen täglich zu kämpfen haben. Daher werden ihre Probleme in vielen Fällen nicht erkannt und bleiben im Verborgenen. Nur die klare Bennennung des Problems bietet eine Chance zur Lösung. Hier zeigen sich viele Parallelen zum Ansprechen eines Alkoholproblems. Auch in diesen Fällen sollte die Gesprächseinleitung darüber erfolgen, was man wahrnimmt, und erst danach die Vermutung mit der Schilderung der konkreten Situation geäußert werden.
Weitere Infos
Wagner D, Haller E: Erwachsene funktionale Analphabeten erkennen, ansprechen, vermitteln und begleiten
http://www.kursportal.info/files/rlp/DW_EH_11_Erwachsene_funktionale_Analphabeten.pdf
Grotlüschen A, Riekmann W: leo.-Studie. Hamburg, 2011
http://www.mein-schlüssel-zur-welt.de/_files/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf
Institut für Mittelstands-forschung (IfM)
Hamburger Volkshochschule: Analphabetismus, Informationen für Jobcentermitarbeiter
http://www.vhs-hamburg.de/home/kurse/grundbildung/analphabetismus-511
Koalpha, Koordinierungsstelle im Freistaat Sachsen
Autorin
Dr. med. Monika Stichert
Arbeits- und reisemedizinische Praxis, Gelbfieberimpfstelle
Pestalozzi Str. 3
40699 Erkrath