Wenn ich an die Stichworte der Überschrift denke, dann fällt mir ein Zitat eines kanadischen Kollegen ein, der die Auf-gabe des Reisemediziners folgendermaßen umschreibt: „Als Betreuer von Reisenden musst Du Allgemeinmediziner, Tropenmediziner, Notfallmediziner, Arbeitsmediziner, Höhenmediziner, Taucher, Chirurg, Internist und Psychiater gleichzeitig sein, aber vor allem – ein Freund, der intensiv zuhört!“ Oder wie ein anderer Kollege es auf den Punkt gebracht hat: „Wir helfen, Träume zu verwirklichen“.
Besser kann man es eigentlich nicht umschreiben und diese Aussagen gelten umso mehr für Arbeitsmediziner, die inter-national aktive Mitarbeiter betreuen, sei es auf Geschäftsreisen, auf internationalen Entwicklungs- und Friedensmissionen, im diplomatischen Dienst, auf Montage und bei all den vielen anderen Aktivitäten, die mehr oder weniger lange Auslandsaufenthalte mit sich bringen. Dabei bedeutet „Arbeitsschutz“ bzw. „Arbeitsmedizin“ in vielen Ländern der Welt schlicht das nackte Überleben des Arbeitstages. So wurden mir in Kathmandu aus dem vierten Stockwerk eine Schubkarre voller Bauschutt beinahe ins Genick gekippt, ohne dass unten auf der Straße irgendwer den Fußgänger- oder Autoverkehr irgendwie gewarnt oder die Straße gar gesperrt hätte. In der Annapurna-Region wurden Freileitungen ohne Absturzsicherung direkt an einem 600-m-Steilhang montiert und Sprenglöcher mit dem Vorschlaghammer geschlagen, während ein Kollege gottergeben den Meißel festhielt, immer in der Hoffnung, dass der Hammer auch den Meißel und nicht irgendwann im Verlaufe eines langen Arbeitstages ihn traf. In Zambia waren Löwen, Leoparden und Elefanten ständig im Camp und extrem ag-gressive Paviane verwüsteten mehrfach das Labor – alles ungewohnte Expositionen, deren Gefahrenpotenzial für den „normalen“ Arbeitsmediziner kaum abschätzbar ist.
Wir alle verschicken Mitarbeiter in zunehmendem Maße in eine fremde Welt, fremd sowohl für die Mitarbeiter, aber auch für uns als ärztliche Berater. Wie soll also eine zielorientierte, pragmatische Betreuung erfolgen? Schließlich gilt es Sicher-heit zu schaffen und nicht unnötige Ängste zu erzeugen. Vor allem sollte die Aufmerksamkeit weg von irrationalen Ängsten hin zu realen Gefahren und deren Abwehr gerichtet werden. Regelmäßig werden wir mit der Angst vor Giftschlangen konfrontiert – ein völlig „exotisches“ Thema. Dagegen ist nur den Wenigsten klar, dass der Straßen-verkehr der Killer Nummer 1 ist. Wer also seine Aufmerksamkeit auf Spinnen und Gifttiere richtet und dabei geht und fährt wie daheim, ist praktisch schon halb tot …
Zunehmend geraten Fragen der persön-lichen Sicherheit in den Fokus. Wer weiß schon, dass das Vergewaltigungsrisiko jun-ger Frauen in einigen Regionen Südamerikas bei 15 % pro Jahr liegt? Wem ist eigentlich klar, dass das mittlere Risiko, in den USA erschossen zu werden, 11-mal höher ist als in Deutschland – und in einigen Regionen noch drastisch höher? Dagegen ist manches Risiko, über das in der Arbeitsmedizin landauf landab diskutiert wird, geradezu lächerlich. Viel zu selten wird daran gedacht, dass ein wesentliches arbeits- und sozialmedizinisches Problem die Reintegration der Mit-arbeiter nach deren Rückkehr ist – natürlich einschließlich evtl. mitgereister Familienmitglieder.
Wie kann ein derart komplexes Thema denn überhaupt auf qualitativ hohem Niveau beraten und betreut werden? Sicher-lich nicht allein aufgrund der G 35-Untersuchung. Grundlagen sind zunächst einmal persönliches Interesse, umfangreiche persönliche Auslandserfahrung – nicht nur auf touristischen Reisen oder im Rahmen von zweiwöchigen Wehrübungen – und regelmäßige Informationsbeschaffung wie beispielsweise durch das vorliegende Themenheft. Nach meiner Überzeugung ist dies für jemanden, der sich nicht hauptamtlich mit internationalen Fragen der Arbeitsmedizin beschäftigt, nicht befriedigend zu leisten. Das ist aber keineswegs ein Grund zum Ver-zagen, sondern ein Aufruf zur Kooperation! Jeder von uns hat Unterschiedliches gelernt. Wenn wir unsere Hirne zusammenschalten und dabei das Realisierbare, einen pragmatischen Ansatz, nicht aus den Augen verlieren, ist das Ziel erreicht. Das schließt ein, dass wir im Einzelfall die gewohnten Regelwerke, hinter denen wir uns daheim auch einmal verstecken können, durch Hirn und Know-how ersetzen, denn wenn wir deutsche Regelwerke unkritisch 1:1 in den Rest der Welt exportieren, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir die eigentliche Aufgabe, für die ein Mitarbeiter im Ausland ist, a priori blockieren.
In diesem Sinne viel Freude an der Betreuung internationaler Arbeitseinsätze und den Mut zum nötigen Pragmatismus wünscht Ihnen
Prof. Dr. med. Thomas Küpper, Aachen