Welch eine Paradoxie! Noch nie in der Geschichte spielten Arbeitsschutz und Gesundheits-förderung an Arbeitsplätzen eine so große Rolle wie heutzutage. Dennoch steigen die Quoten von Krankschreibun-gen wegen psychischer Störungen und hier besonders der Anteil der psychisch bedingten Frühberentungen. Wurden vor 30 Jahren noch ca. 9 % der Erwerbsunfähigkeitsrenten durch psychische Krankheitsdiagnosen verursacht, so sind es nun über 40 % der Neuzugänge.
Ein externer Beobachter mag zu dem Schluss kommen, dass die berufstätigen Menschen offenbar heute mehr unter ihrer Arbeit leiden als zuvor. Woran mag das liegen? Steckt wirklich nur eine Entstigmatisierung oder eventuell auch Überdiagnose psychischer Krankheiten, vielleicht sogar ein Diagnosen-Shift von physischer zu psychischer Genese dahinter? Die vorliegende ASU will andere Antworten anbieten, sie ins Bewusstsein heben und schließlich zur Diskussion stellen. Gleichzeitig wollen wir neue Lösungswege aufzeigen: Wie können neue Denkweisen und neue Kooperationen diese Paradoxie entschlüsseln und auflösen?
Neue Antworten und neue Wege
Haben wir uns verändert? Hat sich die Arbeitswelt gewandelt? Die erste Frage beantwortet Detlev Jung mit einem deutlichen Ja. Unsere Einstellung zu Lebens- und Arbeitszeit hat sich mit dem Verlust der religiösen Transzendenz geändert. Hier geht es um das mentale Framework unserer Arbeitsfelder.
Philosophie? Von der Antike bis heute haben Medizin und Philosophie einander wechselseitig erhellt. Mit der Interpretation von Verordnungen und Forderungen nach neuen Bestimmungen ist es allein nicht getan. Das Harfenmädchen in Heines „Winter-märchen“ – es singt noch „vom irdischen Jammertal, von Freuden, die bald zerronnen, vom Jenseits, wo die Seele schwelgt, verklärt in ew‘gen Wonnen“. Wir sind heute auf eine einzige Lebensspanne fixiert und damit reduziert. In dieser Spanne finden wir uns in einer enormen Beschleunigung und in nicht enden wollendem Flexibilisierungsdruck und fühlen uns wie auf „Slipping slopes“ – rutschigen Steilhängen. Und wie auf einem ständig rutschenden Steilhang versucht der „moderne“ Mensch Höhe und Balance zu halten.
Andreas Krause und sein Team beschrei-ben den unaufhörlichen Wandel der Arbeits-welt: Forderten wir früher Selbstverwirklichung in der Arbeit, so fühlen wir uns mittlerweile fast dazu gezwungen. Die eingeforderte permanente Selbstoptimierung erscheint als zynische Interpretation dieser Forderung des vorigen Jahrhunderts. Der Arbeitnehmer als nun unternehmerisches Selbst sei Täter und Opfer zugleich, so Byung-Chul Han (Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Ffm. 2014). Selbst wenn sie verschuldet, prekarisiert und nahe am oder bereits längst mitten im Burnout sind, wähnen sich die unternehmerischen Subjekte dennoch als freie Leistungsträger der Gesellschaft, die nicht mehr für einen Chef arbeiten müssen, nicht mehr unterdrückt werden, sondern scheinbar selbstbestimmt an der eigenen Aus-Powerung mitarbeiten. Dies kann in die „informierte Selbstgefährdung“ münden.
Carlotta Schneller und das Autorenteam aus den Reihen der „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde“ bieten eine Begriffsbestimmung für das noch immer schillernde Syndrom „Burnout“ an und schlagen Kooperationswege zur Bewahrung von Arbeitsfähigkeit der Betroffenen vor.
Arbeitsmedizinische Eskalationsstufen
Den nicht unwesentlichen Part der psychischen Gefährdungsbeurteilung sparen wir an dieser Stelle aus. Fast alles ist dazu gesagt. Wer noch Informationen braucht, findet sie im gerade veröffentlichten gleichnamigen Buch der BAuA – und dessen Rezension in diesem Heft.
Die Autoren der vorliegenden Ausgabe wenden sich stattdessen den Hilfestellun-gen in arbeitsmedizinisch gewohnter Eskalationsstufe zu: Wie Kollegen „Erste Hilfe für die Seele“ leisten können, zeigt Peter Hildebrandt. Die Stress-Sprechstunde als niedrigschwelliges Angebot im Unternehmen beschreibt Alexander Juli. Eine Vernetzung zwischen Betriebsärzten, Psychiatern und Universitäten wie auch mit der politischen Entscheidungsebene ist das Arbeitsziel der „Werkstatt seelische Gesundheit“, die Christine Kallenberg und ihre Mitstreiter in Baden-Württemberg etabliert haben.
Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre und Gelegenheit zur Selbstreflexion!
Ihre Ulrike Hein-Rusinek