Gegangen ist der Weg noch keineswegs, doch seine Richtung scheint im Grundsatz festgelegt. In Sachen Wissenschaft und Forschung hat sich die Große Koalition in Berlin die richtigen Ziele gesteckt“ kommentiert der amtierende Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Herr Professor Strohschneider, den Koalitionsvertrag in „forschung“, dem Magazin der DFG 4/2013.
In dem Kapitel des Koalitionsvertrages, das sich mit der Forschung für Gesund-heit der Menschen befasst, finden nur wenige Fachgebiete spezielle Erwähnung, sehr erfreulich für uns ist es, dass auch die Arbeitsmedizin dazu zählt. Im Koalitionsvertrag stellt die Regierung ihre Ziele wie folgt dar:
„Wir werden unter der Überschrift „Gesundheit im Lebensverlauf“ den Patienten in den Mittelpunkt stellen und neue Initiativen für eine moderne Kinder- und Jugendmedizin, Arbeitsmedizin sowie die Geschlechter- und Altersmedizin auch unter dem Gesichtspunkt der Prävention und Gesunderhaltung starten. Die individualisierte Medizin wollen wir mit innovativen Strukturen und breit angelegter Forschung weiter stärken. Die Versorgungsforschung werden wir stärken, um vor allem die Alltagsversorgung von Patienten zu verbessern. Dazu gehören vor allem die Pflegewissenschaft, aber auch die Biometrie, Epidemiologie und Medizininformatik sowie der Aufbau von klinischen Registern, sofern eine dauerhafte Finanzierung im Versorgungssystem garantiert wird“ (Koalitiovertrag S. 33).
Die Arbeitsmedizin wird vollkommen zu Recht auch deswegen genannt, weil sie ca. 50 % der Bevölkerung erreicht, von der ein Großteil von sich aus keinen Arzt aufsucht, solange keine Beschwerden bestehen. Der Arbeitsmediziner hat die Möglichkeit, im Vorfeld von physischen (z. B. Hörminderung), aber auch psychischen Erkrankungen (z. B. Burnout-Prozess) tätig zu werden, damit es zu manifesten Erkrankungen wie der Lärmschwerhörigkeit oder Angststörungen und Depression erst gar nicht kommt.
Die herausragende Rolle der Arbeitsmedizin für die Prävention wird offenbar auch von unseren gewählten Volksvertretern gesehen. In Deutschland dürften ca. 12 000 Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde jährlich über 5 Millionen arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen alleine nach der ArbmedVV durchführen. Hinzu kommt eine wohl nur schwer schätzbare Zahl von Beratungen, Wunschuntersuchungen und anlassbezogenen Untersuchungen, z. B. bei beruflicher Wiedereingliederung nach längerer Krankheit. Vorsorgeuntersuchungen dienen längst nicht mehr alleine der Früherkennung von berufsbedingten Krankheiten. Im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge wird stets auch eine Grunduntersuchung, also die Erhebung von Risikofaktoren wie der Konsum von Alkohol und Tabak, eine Blutdruckmessung oder das Erfassen des Körpergewichts und oft auch eine Basislabordiagnostik, durchgeführt. Eine individualmedizinische Beratung zu Risikofaktoren und die Früherkennung von subklinischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder Hypertonie findet dadurch millionenfach statt, ohne dass ein Beschäftigter dafür eine speziellen Arzttermin zur Prävention vereinbaren müsste.
Der Erfolg der Medizin des 20. Jahrhunderts beruht darauf, dass systematisch Hypothesen verifiziert oder falsifiziert wur-den, lange bevor der Begriff „evidence-based medicine“ gebräuchlich war. In der Gesundheitsförderung und der Präventionsmedizin wird diese Wirksamkeitskontrolle zunehmend gefordert, in letzter Konsequenz aber häufig noch nicht umgesetzt. Viele Empfehlungen im Bereich der Prävention sind entweder evident, also augenscheinlich richtig und nicht auf wissenschaftlichen Fakten („evidence“) beruhend, oder die Empfelun-gen stützten sich auf eine Expertenmeinung („eminenz“-basiert). Neben der Effektivität (Wirksamkeit) von präventiven Maßnahmen muss auch deren Effizienz (wirtschaftliche Sinnhaftigkeit) wissenschaftlich belegt sein, bevor Ressourcen dafür eingesetzt werden dürfen. Leider ist aber der Erfolg der Gesundheitsförderung und der Prävention oftmals viel schwerer zu beweisen als ein thera-peutischer Nutzen, denn die Prävention hat ihren Erfolg immer dann, wenn ein Ereignis gerade nicht eintritt. Die wissenschaftliche Arbeitsmedizin hat in vielen Teilbereichen die Wirksamkeit und auch die Effizienz präventiver Maßnahmen belegen können, so z. B. beim Asbestverbot oder der Latexaller-gie, und wird sich dieser schwierigen Heraus-forderung in Wissenschaft und Forschung sowie der betriebsärztlichen Praxis auch in Zukunft gerne stellen.
Wie wichtig eine integrative und eine an einer umfassenden Prävention orientierte Arbeitsmedizin in Forschung und Praxis ist, belegen die demografischen Entwicklungen in unserer älter werdenden Gesellschaft. Schon allein, um weiterhin im Wettbewerb mit anderen Volkswirtschaften konkurrenzfähig zu sein, sind wir gehalten, auch Ältere und Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Rekonvaleszenten nach einer akuten Erkrankung zunehmend in Arbeitsprozessen zu halten und für die Arbeitswelt wieder zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund wird sich auch unser Denken über das Altern und über ältere Menschen sowie über Erkrankungen in der Arbeitswelt verändern müssen. Es gilt Abschied zu nehmen von Vorstellungen, die Altern als einen linearen Prozess verstehen, bei dem die kognitive, die psychische und die physische Leistungsfähigkeit kontinuierlich abnehmen oder davon, dass man mit einer chronischen oder gerade geheilten Erkrankung nicht mehr leistungsfähig genug sei, um in den immer komplexer und schneller werdenden Arbeitsprozessen bestehen zu können . Nicht umsonst verdient das Thema „Demografie“ im Koalitionsvertrag eine besondere Reflexion: Im Rahmen der so genannten Demografie-Strategie der Bundes-regierung sollen nicht umsonst sowohl die „Potenziale des Alters“ (Koalitionsvertrag S. 104) in unserer Gesellschaft adäquat genutzt werden. Darüber hinaus sind die Betriebe und Unternehmen in unserem Lande aufgefordert, eine „demografiesensitive Personalpolitik“ (Koalitionsvertrag S. 38) zu treiben. Zu beiden Aktionsfeldern kann die Arbeitsmedizin Entscheidendes beitragen. Gerade im Rahmen einer praxisorientierten Forschung können Erkenntnisse gewonnen werden, welche präventiven Gesundheitsmaßnahmen Menschen helfen können, um durch Arbeit nicht krank zu werden, sondern in selbstbestimmter und die eigenen Erwartungen erfüllender Arbeit länger gesund zu bleiben, um so schließlich auch in diesen Arbeitsprozessen ohne zu große persönliche Verluste und Frustrationen altern zu können. Darüber hinaus können diese Erkenntnisse relativ schnell in der betriebs-ärztlichen Praxis umgesetzt und auch erprobt werden. Eine erfolgreiche Tätigkeit und Anerkennung in einem Beruf sind wesentliche, prähibitive Faktoren, um sowohl die physische und die psychische Resilienz zu stärken und der Gefahr von entsprechenden Erkrankungen zu begegnen.
Die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin begrüßt daher ausdrücklich die im Koalitionsvertrag vorgestellten Überlegungen und Initiativen für eine moderne Arbeitsmedizin mit einem besonderen Schwerpunkt in der Prävention. Dies wird sowohl die praktische Arbeitsmedizin in der Arbeitswelt und dem betrieblichen Gesundheitsmanagement vor Ort als auch die wissenschaftliche Arbeitsmedizin an Universitäten sowie in öffentlichen Institutionen und Organisationen stärken. Daher bleibt zu hoffen, dass die Wirtschafts-kraft in Deutschland uneingeschränkt erhalten bleibt und keine neuen Finanzkrisen die Bundesregierung zu kostenintensiven „Rettungsschirmen“ zwingt, so dass, wie von den Regierungsparteien vereinbart, die drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschungsinvestitionen bereitstehen und entsprechend eingesetzt werden können – zum Wohl der Menschen, die jeden Tag gesund leben und arbeiten wollen.
Prof. Dr. med. Hans Drexler
Präsident der DGAUM, Erlangen
Dr. phil. Thomas Nesseler
Hauptgeschäftsführer der DGAUM, München