Sachverhalt
Der Ehemann der Klägerin wurde auf dem Heimweg von der Arbeit mit dem Fahrrad von einem Motorrad erfasst und schlug ohne Helm mit dem Kopf auf der Bordsteinkante auf. Er zog sich ein schweres Schädelhirntrauma und multiple weitere Verletzungen zu. Als Folgen des Unfalles bestanden u. a. ein apallisches Syndrom (Wachkoma), Tetraplegie (komplette Lähmung aller Extremitäten), Dysphagie mit Tracheostomaversorgung und PEG-Versorgung. Willkürliche Reaktionen waren nicht mehr möglich. Die Beklagte erkannte den Wegeunfall an, zahlte zunächst eine Verletztenrente nach einer MdE von 100 v. H. und senkte die Rente später wegen des Zusammentreffens mit Heimunterbringung auf 50 v. H. ab.
Die über zwei Jahre andauernde medizinische, physio-, ergotherapeutische und logopädische Behandlung zeigte keinerlei Fortschritt im Genesungsprozess. Nachdem die Ärzte fast 4 Jahre nach dem Unfall feststellten, dass eine positive Veränderung des Gesundheitszustands des Versicherten nicht mehr zu erwarten sei, entschieden die Klägerin und ihre Söhne gemeinsam, die Versorgung über die Magensonde einzustellen. Sie durchtrennten die der Ernährung dienende Magensonde. Es trat der Tod durch Unterernährung ein, ohne dass der Versicherte nach dem Unfall das Bewusstsein wieder erlangt hatte. Eine Patientenverfügung bestand nicht. Jedoch hatte der Verletzte vor dem Unfall mehrfach geäußert, niemals nur durch lebensverlängernde Maßnahmen weiterleben zu wollen.
Unfallkasse verneint den Zusammenhang
Die beklagte Unfallkasse nahm die Sterbehilfe der Hinterbliebenen zum Anlass, einen rechtlich wesentlichen Ursachenzusammenhang zwischen den anerkannten Unfallfolgen und dem Tod zu verneinen. Nach den Ermittlungen sei als Todesursache Marasmus (Mangelernährung) infolge der Beendigung der Nahrungszufuhr durch Einstellung der Versorgung über die Magensonde ärztlich festgestellt worden. Die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen sei damit allein wesentliche Bedingung für den Tod. Folglich sei der Tod nicht Folge des Arbeitsunfalls, so dass Ansprüche auf Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht bestünden.
Sozialgericht bejaht wesentlichen Zusammenhang
Das Sozialgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu zahlen. Es sah den Arbeitswegeunfall als wesentliche Ursache des Todes an. Der Kausalzusammenhang zwischen Unfallfolgen und Tod hätte nur durch ein schuldhaftes Verhalten dritter Personen unterbrochen werden können. Dies sei bei einer straflosen Sterbehilfe, die wertungsmäßig als mittelbare Unfallfolge einer nach den Besonderheiten des Einzelfalls geschützten Selbsttötung entspreche, nicht der Fall.
Die Hinterbliebenenleistungen seien auch nicht nach § 101 SGB VII ausgeschlossen. Danach haben Personen, die den Tod von Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben, keinen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Ein Tatbestandsvorsatz im Sinne dieser Vorschrift möge zwar bestanden haben, als die Klägerin die Magensonde durchtrennte, angesichts strafrechtlicher Rechtfertigung fehle es aber am Schuldvorsatz. Zudem entspräche es nicht dem Sinn und Zweck der Vorschrift, Maßnahmen der Sterbehilfe durch einen Behandlungsabbruch, die ihren Grund in der Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Moribunden haben und die unter dem Schutze der Rechtsordnung stehen, durch einen Leistungsausschluss gemäß § 101 Abs. 1 SGB VII zu sanktionieren.
Landessozialgericht bestätigt gerechtfertigte Sterbehilfe
Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Tötung gegen die Klägerin wurde mangels hinreichendem Tatverdacht mit staatsanwaltlicher Verfügung gem. § 170 II StPO eingestellt. Das geschah in Beachtung des Urteils des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 25. Juni 2010 –2 StR 454/09 – wonach Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung gerechtfertigt ist, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.
Das Landessozialgericht schloss sich der Wertung des Sozialgerichts an und verwarf die Berufung. Es betonte, mit § 101 SGB VII werde ein Sonderfall der Verwirkung geregelt. Ein von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten solle nicht durch eine Entschädigung aus der Sozialversicherung „belohnt“ werden. Der Ausschluss setze mithin nicht nur strafrechtliche Vorwerfbarkeit voraus, sondern greife seinem Sinn und Zweck nach selbst dann nicht, wenn eine Tötung auf Verlangen i. S. v. § 216 des Strafgesetzbuchs (StGB) vorliege.
Der Versicherte habe so schwere Verletzungen davon getragen, dass der Todeseintritt durch die intensivmedizinische Sofortbehandlung und die unmittelbar anschließende, ununterbrochene Intensivpflege letztlich nur aufgeschoben werden konnte. Der Versicherte war unfallbedingt nicht mehr selbständig lebensfähig, sondern todgeweiht. Dementsprechend seien die multiplen Verletzungen des Unfalls wesentliche Ursache des Todes.
Vorsätzlichkeit und Parallelvorschrift der Rentenversicherung
Mit der zugelassenen Revision rügte die Beklagte insbesondere eine Verletzung des § 101 SGB VII. Anders als in § 101 Abs. 2 SGB VII bedürfe es nach dem Wortlaut des § 101 Abs. 1 SGB VII keiner Verurteilung wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens. § 101 Abs. 1 SGB VII knüpfe den Leistungsausschluss lediglich an vorsätzliches Handeln.
Das Landessozialgericht setze sich mit seiner Rechtsprechung zudem in Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes zu § 105 SGB VI. In dieser Parallelvorschrift für die Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung wird der Anspruch gleichermaßen für Personen versagt, die den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben. Der 13. Senat hatte in seiner Entscheidung vom 17.04.2012 – B 13 R 347/10 B – einer Witwe die Hinterbliebenenrente versagt, weil sie für ihre Beteiligung an einem teilweise fehlgeschlagenen Doppelsuizid im Zustand eingeschränkter Schuldfähigkeit wegen Tötung auf Verlangen schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden war.
Umstritten war in diesem Verfahren, ob die im Zustand verminderter Schuldfähigkeit oder unter Vorliegen mildernder Umstände begangene Tötungshandlung das Tatbestandsmerkmal „vorsätzlich“ i. S. des § 105 SGB VI erfüllen kann. Denn im Schrifttum wird gefordert, dass § 105 SGB VI in Fällen geringen Verschuldens bei einer Tötung auf Verlangen teleologisch zu reduzieren sei. Der 13. Senat schloss eine teleologische Reduktion der Vorschrift nachdrücklich aus. Der Gesetzgeber habe bewusst bei jeder Art des Vorsatzes und ohne Rücksicht auf den Grad der Schuldfähigkeit einen Anspruchsausschluss vorgesehen. Das einheitliche Regelungskonzept in allen relevanten Rechtsgebieten, u.a. auch im § 101 SGB VII, verbiete eine eingeschränkte Anwendung der Vorschrift.
Autonomer Wunsch zum Sterben grundrechtlich geschützt
In seiner Zurückweisung der Revision bestätigt der 2. Senat zunächst die Wesentlichkeit der Unfallfolgen für die Todesfolge. Bei dieser reinen Rechtsfrage nach der „Wesentlichkeit“ der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung müsse entschieden werden, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht habe, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand Schutz gewähren soll.
Vorliegend trat zu dem Unfallereignis als weitere (Wirk-) Ursache des Todes der Behandlungsabbruch durch die Durchtrennung der Magensonde hinzu. Er beruhte auf dem rechtlich geschützten Willen des Versicherten, keinen lebensverlängernden Maßnahmen ausgesetzt zu sein. Als durch Beschluss des Amtsgerichts bestellte Betreuerin war die Klägerin gemäß § 1901a Abs. 1 Satz 2 BGB verpflichtet, dem Willen des von ihr betreuten Versicherten in der medizinischen Behandlungssituation Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Als direkte Folge des erlittenen Unfalls kam so der bereits zuvor bestehende Wunsch, keinen lebensverlängernden Maßnahmen ausgesetzt zu sein, maßgebend zum Tragen.
Die Umsetzung des Versichertenwillens, keine lebensverlängernden Maßnahmen erdulden zu müssen, bewege sich mithin (noch) innerhalb des Risikorahmens, gegen den die Beschäftigtenversicherung des SGB VII Schutz gewähren soll. Vom Schutzzweck der Beschäftigtenversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII mit umfasst ist ein Verhalten des Versicherten, das erst durch die Verletzungen bedingt wird, die im versicherten Schutzbereich der unfallbringenden Tätigkeit erlitten bzw. zugefügt wurden. Nach der Wertung des im 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 29.7.2009 zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers umfasst die versicherte Tätigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung auch die durch die Autonomie und Menschenwürde (Art. 1 GG) des einzelnen Versicherten getragene Entscheidung, keine lebensverlängernden Maßnahmen erdulden zu müssen. Dies gilt zumindest, wenn aufgrund eines Arbeitsunfalls so schwere Verletzungsfolgen wie im vorliegenden Fall bestehen. Rechtlich wesentliche und daher vom Schutzzweck des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII umfasste (Wirk-)Ursache für den Tod des Versicherten waren folglich die Verletzungen aus dem Wegeunfall.
Maßgebend sei dabei nicht, ob die Verletzungen aus dem Arbeitsunfall ohnehin tödlich verlaufen wären, sondern nur, dass durch einen Versicherungsfall so schwere Verletzungen eingetreten sind, dass gerade dadurch der (verfassungs-)rechtlich geschützte autonome Wunsch des Versicherten, sterben zu wollen, zum Tragen gekommen sei.
Reduktion des § 101 SGB VII durch Patientenverfügung
Trotz der Vorsätzlichkeit des Handelns der Klägerin sind die beantragten Hinterbliebenenleistungen auch nicht gem. § 101 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Obgleich der Senat sich nicht den Überlegungen der Literatur zur Reduktion der Norm bei geringer Schuld oder Straffreiheit des Tuns anzuschließen vermag, ist § 101 Abs. 1 SGB VII einschränkend dahingehend auszulegen, dass jedenfalls bei einer strafrechtlich gerechtfertigten Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch i. S. d. neueren Rechtsprechung des BGH (s. o.) kein Leistungsausschluss in Betracht kommt.
Diese mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung der Norm ist entgegen deren Wortlaut geboten, weil bei wortlautgetreuer Auslegung ein Grundrechtsverstoß drohen würde. Der Senat sieht sich durch die Neuregelungen des sog. Patientenverfügungsgesetzes (3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz), das sich auf eine breite, überparteiliche Parlamentsmehrheit stützten konnte, sowie durch die strafgerichtliche Rechtsprechung des BGH zum Behandlungsabbruch veranlasst, jedenfalls die vorsätzliche Herbeiführung des Todes eines Versicherten, die strafrechtlich die Kriterien einer gerechtfertigten Sterbehilfe erfüllt, aus dem Anwendungsbereich des § 101 Abs. 1 SGB VII auszuschließen. Mit Blick auf die dem Strafrecht immanente Legitimation staatlichen Strafens einerseits und das der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit dienende Leistungsrecht des Sozialgesetzbuchs andererseits hält es der Senat für geboten, die vom Gesetzgeber gewollten, weitgehenden Änderungen in § 1901a BGB auch im Sozialrecht zur Geltung zu bringen. Liegen die vom BGH genannten Kriterien vor, so könne ein straffreier Behandlungsabbruch, der den Willen des Patienten zum Ausdruck brachte, auch im Sozialrecht nicht mehr zu leistungsrechtlich negativen Konsequenzen für Personen führen, die diesen von der Rechtsordnung gebilligten Willen des Versicherten durch ihr vorsätzliches Handeln verwirklicht haben.
Nicht nur aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsordnung sondern insbesondere aus humanitären Gründen ist dieser Entscheidung, die einen möglicherweise schwer erträglichen Zielkonflikt der Angehörigen meidet, uneingeschränkt zuzustimmen.