SL: Wissenschaftliche Leitlinien in der Medizin sind eine wichtige Grundlage für ärztliche Entscheidungen. Sowohl die Erstellung als auch die Aktualisierungen sind relativ aufwendig. Wie sehen Sie die Zukunft arbeitsmedizinischer Leitlinien?
Univ.-Prof. Dr. med. Susanne Völter-Mahlknecht: Die Bedeutung der arbeitsmedizinischen Leitlinienarbeit wird unserer Einschätzung nach vor dem Hintergrund der raschen Zunahme an medizinischem Wissen und Daten zukünftig zunehmen. Aufgrund der damit einhergehenden Informationsflut wird es immer schwieriger, aber auch umso wichtiger, Informationen zu sichten, zu bewerten und evidenzbasiertes Wissen zugänglich zu machen. So können wissenschaftliche Leitlinien auch zukünftig einen essenziellen Beitrag für ärztliche, evidenzbasierte Entscheidungen und systematisch erarbeitete Entscheidungshilfen zu gesamtgesellschaftlich wichtigen Versorgungsfragen leisten. Eine solche systematische Evidenzaufarbeitung gewährleistet, dass Politikberatung und politische Entscheidungen sowie Regelwerke auf evidenzbasiertem Wissen aufbauen können.
Angesichts der zunehmenden Relevanz von Leitlinien ist es sehr bedenklich, dass die Leitlinienarbeit in der Arbeitsmedizin wie auch in vielen anderen Facharztrichtungen mit fehlenden personellen und zeitlichen Ressourcen sowie mit einer viel zu geringen Finanzierung zu kämpfen hat. Dieses Problem wird sich verstärken, da die Leitlinienarbeit zunehmend aufwendiger und die Menge der im Rahmen der Leitlinienarbeit zu bearbeitenden relevanten Themen angesichts des raschen Wandels in der Arbeitswelt und der damit einhergehenden Herausforderungen für die medizinische Prävention am Arbeitsplatz eher zunehmen wird.
Aufgrund der Diskrepanz zwischen der zu bewältigenden Leitlinienarbeit und der zur Verfügung stehenden Ressourcen sollen die arbeitsmedizinischen Leitliniengruppen zukünftig seitens der DGAUM personell bei organisatorischen Aufgaben unterstützt werden. Organisatorische Erleichterungen erhofft man sich auch von der seitens der AWMF begonnenen Digitalisierung in der Leitlinienarbeit. Aber selbst wenn die Digitalisierung in der Leitlinienarbeit manche Abläufe erleichtert, verringert sich dadurch nicht der Aufwand der inhaltlichen Leitlinienarbeit.
Es wäre daher sehr wünschenswert, wenn auch die Politik die Leitlinienarbeit mehr unterstützen würde, damit arbeitsmedizinische Leitlinien auch zukünftig ihren essenziellen gesamtgesellschaftlichen Beitrag leisten und zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen beitragen können.