Prof. Dr. Breudorf, ehemals Hauptgeschäftsführer des Dachverbandes der gesetzlichen Unfallversicherung, hatte es verstanden, sich an die Spitze der neu geschaffenen Mammutinstitution RUV zu setzen. In der Rückschau wurde deutlich, wie raffiniert der gewiefte Taktiker vorgegangen war. Man musste die Dinge auf die Spitze treiben, um eine Revolution lostreten zu können. Erst hatten immer mehr neue Listenberufskrankheiten und deren Bearbeitung den Apparat der gesetzlichen Unfallversicherung aufgebläht. Gesteigertes Leistungsvolumen und anschwellende Mitarbeiterzahl hatten in den Fusionsverhandlungen die Position der gesetzlichen Unfallversicherung gestärkt. Und die intensivierte Forschung sorgte dafür, dass immer mehr arbeitsbedingte Erkrankungen etabliert wurden.
Das von Breudorf intensiv protegierte Zentralinstitut für Arbeits-medizin (ZFA) spielte dabei eine ausschlaggebende Rolle. Bei der Finanzierung dieser Mammut-Forschungseinrichtung hatte es keine Probleme gegeben. Die starke Fraktion der Arbeitnehmervertreter in der sozialen Selbstverwaltung hatte für großzügige Etatbewilligungen gesorgt.
„Arbeit macht doch krank. – Deshalb müssen eure Zuschüsse steigen, liebe Unternehmer“. Das war der ideologische Unterbau.
Die Übermacht des ZFA beschleunigte den Niedergang der arbeitsmedizinischen Hochschulinstitute. Das ZFA war zum Forschungsmonopolisten für die Berufskrankheiten aufgestiegen, die nach der Einführung des Finalitätsprinzips in dem großen Pool der arbeitsbedingten Erkrankungen aufgegangen waren. Hinter verschlossenen Türen wurde hier die Lufthoheit des ZFA in der wissenschaftlichen Arbeitsmedizin vorangetrieben.
Gab es da aber nicht eine Interessenkollision, in dem Sinn, dass hier ein Sozialversicherungsträger die Deutungshoheit bezüglich der arbeitsbedingten Erkrankungen erhielt? Klar gab es die. Dies wurde jedoch vehement abgestritten; denn kann eine quasi staatliche Einrichtung überhaupt Lobbyarbeit leisten? Und wie sie kann, indem z. B. tendenziöse Forschungsergebnisse etwa zum Erreichen politischer Ziele missbraucht werden.
Breudorf frohlockte. Sein Baby, das ZFA, hatte sich gemausert. Das Institut war zum Garanten für die Stabilisierung der RUV avanciert, und er selbst war ein begehrter Gesprächspartner in der Politik geworden. Die zentrale Verwaltung der RUV hatte reichlich Luft zum atmen, wobei mehr ein- als ausgeatmet wurde. Federn lassen mussten hingegen die einzelnen Berufsgenossenschaften. Deren Strukturen lösten sich mehr und mehr auf, sehr zum Leidwesen der zahlreichen Hauptgeschäftsführer und der Präventions- und Leistungsabteilungen.
Um Breudorfs Arbeitsplatz brauchte man sich also keine Sorgen zu machen. Auch Professor Breitling, der Leiter des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin befand sich auf dem Gipfel des Erfolgs. Früher hatten ihn auf internationalem wissenschaftlichen Parkett Fragen gequält, wie: „What the hell does causality mean? Is it statistical significance, is it politics, or is it imagination?“ Doch die Abkehr vom gedanklich disziplinierenden Kausalitätsprinzip beseitigte diese Skepsis. Es eröffneten sich neue Forschungsfelder mit neuen Studiendesigns. Krebs durch Schichtarbeit war so ein Thema, und die Multiple Chemical Sensibilty war vielleicht doch berufsbedingt. Organisationspathologien sowie Führungsverhalten und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden der Arbeitnehmer nahmen einen immer größeren Raum in den Forschungsprojekten des ZFA ein. Ja, es wurde sogar die neuerdings gesetzlich verordnete Frauenquote von fünfzig Prozent in den Vorständen der DAX-Unternehmen hinsichtlich ihrer gesundheitsstiftenden Wirkung untersucht. Wir verraten kein Geheimnis, wenn wir das Ergebnis schon vor Ende der Datenauswertungen verkünden. Natürlich führt mehr Weiblichkeit im Vorstand zu mehr Gesundheit. Frauen leben schließlich auch länger als Männer.
Davon profitierte auch die ASU. Die Flut der mehr oder weniger wissenschaftlichen Beiträge schwoll an. Die Manuskripte kamen jetzt nicht nur aus der Arbeitsmedizin, sondern auch immer mehr aus den Sozialwissenschaften und der Psychologie. Der Leserkreis erweiterte sich, die Auflage stieg.
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