„Vielen Dank für die Erstattung des Gutachtens über Frau Neuer“, sagte der Unfallsachbearbeiter der Berufsgenossenschaft am Telefon. „Das ging sehr flott.“
„Bei mir geht es meist schnell. Ich mache nur Gutachten und das seit 20 Jahren“, sagte Dr. Renz. „Andere Gutachter müssen sich um ihre Abteilung in der Klinik oder ihr volles Wartezimmer kümmern. Gutachten sind bei denen Nebenprodukte. Ich hingegen habe als einzige Dienstleistung medizinische Gutachten.“
„Das begrüßen wir außerordentlich. Es beschleunigt unsere Berufskrankheitenverfahren ungemein. Wir würden Sie aufgrund Ihrer Erfahrung auch gerne öfter konsultieren. Aber Sie wissen doch: Der § 200 im Sozialgesetzbuch VII verpflichtet uns seit ungefähr 15 Jahren, drei Gutachter zur Auswahl zu präsentieren. Außerdem hat der Versicherte ein Vorschlagsrecht bei der Bestellung des Gutachters. Regelungen, die nicht unbedingt zur Verbesserung der Gutachtenqualität beigetragen haben.“
„Es war wohl mehr eine politisch, denn sachlich begründete Initiative, eine derartige Gesetzesänderung herbeizuführen. Was sich mittlerweile an der Begutachtungsfront tummelt, ist abenteuerlich. Durch medizinisch und juristisch unsaubere Argumentationen von fachlich unzureichend informierten Gutachtern kommt es zu zahlreichen Nachfragen seitens der Verwaltungen und auch Klagen vor den Sozialgerichten mit diversen Nachbegutachtungen.“
„Lassen Sie mich noch einmal auf das Gutachten über Frau Neuer zurückkommen“, tastete sich der Mann von der Berufsgenossenschaft vor. „Sie erinnern sich, es handelte sich um eine LWS-Erkrankung, eine BK 2108, die Sie abgelehnt haben.“
„Wenn ich Sie korrigieren darf: BK 2108 behandelt spezifisch bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS.“
„Ja richtig. Nun hatten wir Sie im Anschreiben zum Gutachtenauftrag gebeten, dass Sie sich in Ihrer Beurteilung an den Konsenskriterien orientieren.“
„Das habe ich getan. Ich habe mich aber kritisch mit den Kriterien auseinandergesetzt und ihre Schwachstellen aufgezeigt. Die "Konsenskriterien" sind eben kein antizipiertes Sachverständigengutachten.“
„Das heißt aber doch nicht, dass die Konsenskriterien falsch sind, bei so viel Sachverstand, der da mit eingeflossen ist.“
„Leider doch. Das geht schon los mit der Berechnung der kumulativen Belastungsdosis nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell. Dieses Modell bildet nicht die Realität ab.“
„Aber bei Frau Neuer sind die Bandscheibenschäden an der unteren LWS stärker ausgeprägt, als an der unteren HWS. Das bedeutet nach Konsenskriterien die Konstellation B4. Also ist ein Kausalzusammenhang wahrscheinlich.“
„Stimmt so steht es da drin. Jetzt setzen wir aber doch mal unseren einfachen Menschenverstand ein. Wie kann es überhaupt beim schweren Heben und Tragen und bei Rumpfvorwärtsbeuge zu Bandscheibenschäden an der HWS kommen? Dieser Wirbelsäulenabschnitt liegt bei den genannten Belastungen außerhalb der Hauptlastachse. HWS-Bandscheibenschäden kann also keinerlei Indizwirkung bezüglich einer BK 2108 beigemessen werden, ob sie nun stärker oder schwächer ausgeprägt sind als an der LWS. Zumal im vorliegenden Fall die gesamte Brustwirbelsäule frei von degenerativen Veränderungen war. Die Konsenskriterien werden durch biomechanische Überlegungen geprägt. Bei der Konstellation B4 werden diese jedoch vollständig ausgeblendet.“
„Aber wie soll man denn den beruflichen vom privaten Verursachungsanteil trennen?“
„Das geht bislang nicht, auch wenn es uns die Konsenskriterien vorspiegeln. Die diversen Kriterien und Indizien zur Anerkennung einer BK 2108 entsprangen den Gehirnen der Mitglieder der interdisziplinären Arbeitsgruppe und nicht irgendwelchen epidemiologisch oder pathophysiologisch basierten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Auch den Kommissionsmitgliedern musste bekannt sein, dass degenerative Bandscheibenschäden an der LWS auch ohne berufliche Belastung sehr häufig vergesellschaftet sind mit entsprechenden osteochondrotischen Veränderungen an der HWS. Diese Befundkombination stellt eigentlich ein Killerargument hinsichtlich der Anerkennung einer BK 2108 dar. Um hier doch noch sozialpolitisch etwas zu retten, postulierte man eine Indizwirkung durch die Schwere der Bandscheibenschäden der HWS. Dabei nahm man eine fehlende pathophysiologische Plausibilität in Kauf.“
„Aber die, wie Sie sagen, i.d.R. parallel laufenden Veränderungen an LWS und HWS müssen doch irgendwie zusammenhängen.“
„Tun sie ja auch, aber eben nicht biomechanisch, sondern wirbel-säulensystemisch.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Das glaube ich Ihnen gerne. Es verstehen ja nicht einmal die Orthopäden und Unfallchirurgen. Dabei ist es ganz einfach, es sind juvenile Aufbaustörungen i. S. des Morbus Scheuermann. Lesen Sie dazu einfach die Ausgabe März 2014 der Zeitschrift ASU.“
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