Der Bundesrat hatte die Arbeitsschutzregelungen dem technologischen und demographischen Wandel und den Verschiebungen im Spektrum der arbeitsbedingten Erkrankungen angepasst. Es sei eine unbestreitbare Tatsache, dass die psychischen Leiden an der Spitze stünden. An zweiter Stelle würden die orthopädischen Krankheiten rangieren. Man hätte deswegen die medizinischen Betreuungsoptionen erweitert. In Zukunft stehe es den Betrieben frei, im Rahmen des Gesundheitsschutzes auch Psychologen und Psychiater sowie Orthopäden einzusetzen. Die Einsatzzeiten gem. DGUV-Vorschrift 2 würden sich dadurch allerdings nicht erhöhen, so das Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Binnen kürzester Zeit formierten sich Psychologen-Netzwerke. Die derartig organisierten Psychologen konnten aus einer Art Stand-by-Funktion für Problemlösungen im Betrieb abgerufen werden. Bezahlt wurde über eine Jahrespauschale. Da wollten die Betriebsärzte natürlich mithalten. Es fand ein Run auf Weiterbildungseinrichtungen statt, welche eine Qualifikation in Arbeits- und Betriebspsychologie vermittelten. Die großen Firmen mit eigenen angestellten Psychologen freuten sich. Sie zogen deren Arbeitszeit in die Einsatzzeit des Gesundheitsschutzes rüber und sparten Personalkosten. Auch die Orthopäden weiteten ihr Jagdgebiet auf den betrieblichen Bereich aus.
Doch der Krankenstand nahm nicht ab, er nahm zu. Und das kam so. Die Diagnosemanuals für die Psychiater waren permanent überarbeitet und erweitert worden. Mittlerweile gab es die ICD Kapitel V, Notation F00-F99 in der 14. und den DSM in der 7. Version. Durch die Weiterentwicklung der Klassifizierungssysteme war es möglich, immer mehr Verhaltensauffälligkeiten als psychische Erkrankung einzuordnen. Neue psychosoziale und umgebungsbedingte Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz waren identifiziert worden. Man hatte die postkonfliktive Belastungsstörung und das narzisstische Kränkungssyndrom als neue Krankheitsentitäten etablieren können. Das Expertengremium für Arbeitsmedizin beim BMAS hatte wissenschaftliche Begründungen für die Aufnahme der neuen Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste erarbeitet. Die Deutsche Gesellschaft für Nerven- und Seelenheilkunde (DGNS) hatte es darüber hinaus geschafft, dass der Bundestag eine Antistressverordnung verabschiedete. Die Gesundheitsministerin, Frau Dr. Ute zur Leiden, selbst Ärztin, hatte sich vehement dafür eingesetzt. Die Unternehmen wurden nunmehr verpflichtet, Antistressbeauftragte zu benennen. Erwartungsfroh rechnete man mit einem Zurückgehen der psychischen Leiden. Doch das Gegenteil trat ein. Da schlummerten ja noch so viele psychische Erkrankungsfälle im Verborgenen. Inzwischen konnte man Ritalin rezeptfrei erwerben. Methylphenidat gehörte zu den Standardmedikamenten in den werksärztlichen Ambulanzen.
Die Fürsorge der Orthopäden hingegen führte in den Betrieben zu zahlreichen neuen Operationsindikationen. Die Zahl der Kniearthroskopien, Akromioplastiken und Bandscheibenoperationen stieg nochmals an. Die Ersatzteilchirurgie feierte weitere Wachstumsrekorde. Es gab Lieferengpässe beim künstlichen Gelenkersatz. Viele operierte Patienten wechselten dann aber sogleich von der Anschlussheilbehandlung in die Frühinvalidität.
Die Arbeitsmedizin hatte in ihrem geschützten innerbetrieblichen Raum Konkurrenz bekommen. Es gab auf einmal nicht zu wenige, sondern zu viele Arbeitsmediziner. Die kurative Medizin hatte ihre Tentakel in die Arbeitswelt hinein wachsen lassen. Hier erreichte man auch Menschen, die nie zum Arzt gegangen wären. Und darunter ließen sich immer Kranke finden. Weil dem Assistenzpersonal nach US-amerikanischem Vorbild immer mehr Aufgaben in den Betrieben übertragen worden waren, sondierte Dr. Löwe – seit nunmehr 25 Jahren Präsident des Verbandes der Werksärzte (VdW) – in Geheimgesprächen ein engeres Zusammengehen des VdW mit dem BAMA. Das war der Berufsverband des arbeitsmedizinischen Assistenzpersonals. Natürlich hielt sich niemand an die Verschwiegenheitserklärungen. Die zornige Basis warf dem Vorsitzenden vor, den eigenen Berufsstand verraten und in der Lobbyarbeit versagt zu haben.
Ach ja, und wie war es Prof. Breudorf ergangen? Er war inzwischen zum Vorstandsvorsitzenden der neu fusionierten gesetzlichen Renten- und Unfallkasse (RUK) avanciert. Durch einen geschickten Schachzug hatte er erreicht, dass sich der Geschäftsführer der ehemaligen Rentenversicherung mit einem Vizeposten zufrieden gab. Dem hatte man den Titel eines Honorarprofessors an der Versicherungsverwaltungs-Hochschule in Sankt Augustusburg verliehen. Die Hochschule war das Ziehkind von Prof. Breudorf. Er hatte die Idee zur Gründung gehabt, und er hatte die erforderlichen finanziellen Mittel beschafft.
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