Er hatte immer gerne Vorlesungen gehalten. Es passierte mitunter, dass der Funke übersprang und die Studentinnen und Studenten im fünften klinischen Semester seine spontanen, in den Hörsaal gerichteten Fragen beantworteten und auch selbst Fragen stellten. Dann konnte er über sich selbst hinauswachsen und musste dabei aufpassen, dass er sich in seinen Allegorien und Apercus nicht selber verfranste. Gelegentlich konnte das Auditorium aber auch den Aggregatzustand eines alles verschlingenden Morasts annehmen. Die Studenten dösten, einige schliefen sogar. Sie hatten ihre Häupter auf die angewinkelten Arme auf den Tischplatten gebettet. In solchen Momenten spürte er, wie sich sein Esprit und seine Lockerheit verflüchtigten und alles schwer wurde, die Rede, der Gedankenfluss, der ganze Körper.
Nach solch einer Vorlesung fühlte er sich wie gerädert. Dabei entstanden bei ihm keine Aggressionen gegen die lethargische Studentenfront. Die Arbeitsmedizin war für sie ein Pflichtfach, mit geringen Anteilen am Gegenstandskatalog für die ärztliche Prüfung. Ob aufgepasst oder nicht, für das Punktekonto spielte das keine große Rolle. Gelegentlich war es ihm auch schon passiert, dass sein Vorlesungspart in der Evaluation am Ende des Semesters durch die Studenten verrissen wurde. Was haben denn diese Arbeitsplätze mit Medizin zu tun, wurde dort beispielsweise kolportiert. Da hatten einige den Sinn der Arbeitsmedizin nicht richtig verstanden.
Wie auch immer – regelmäßig sechsmal pro Semester trat er in der Hauptvorlesung auf. Dazu musste er eine längere Strecke mit seinem eigenen PKW anreisen. Er wohnte in einer knapp einhundert Kilometer von der Universitätsstadt entfernten Metropole, wo er einen eigenen überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Dienst betrieb. Mit der Zeit bereitete es ihm immer mehr Probleme, die für die Vorlesung notwendigen Stunden aus seinem begrenzten Zeitbudget herauszuschneiden. Ein halber Tag musste allemal dran glauben.
Das Vorlesungsgeld, eine Pauschale für jede Semesterwochenstunde, war schon vor längerer Zeit von der Univerwaltung kassiert worden. Doch nun fiel von heute auf morgen auch die Kostenerstattung für An- und Abreise weg. Dies wurde ihm lapidar in Form eines Serienbriefs mitgeteilt. Kein Dank für die bisherige Arbeit, auch keine verbindliche Floskel für die zukünftigen Aktivitäten. Alma mater, die nährende gütige Mutter hatte wieder einmal die Zähne gezeigt. Er ärgerte sich tierisch und schlief erst einmal eine Nacht darüber. Dann formulierte er einen Brief an die Fakultät, in dem er seine effektiven und kalkulatorischen Kosten im Zusammengang mit der Vorlesung darstellte. Sechs mal fünf Stunden mal 100 Euro pro Stunde plus die Kilometerpauschale würden reichlich 3000 Euro pro Semester ausmachen. Das sei neuerdings der Preis, den er dafür zahle, dass er einen Teil der Hauptvorlesung halte. Er müsse sich überlegen, ob er sich unter diesen Umständen noch länger engagieren solle, drohte er.
Es dauerte mehrere Monate, bis er Antwort bekam. Im Rahmen der allgemeinen Sparmaßnahen sei dieser Schritt absolut erforderlich gewesen, las er da. Wenn er seinen Vorlesungsbeitrag nicht mehr leisten wolle, so müsse man sich seitens der Medizinischen Fakultät überlegen, ob er noch länger deren Mitglied sein könne. Was schlicht und ergreifend bedeutete: Wenn du keine Lust mehr hast, dann nehmen wir dir den Titel. Bei ihm entwickelte sich das Gefühl, Opfer eines Raubüberfalls zu sein, einer Schurkentat mit Diebstahl geistigen Eigentums. Ein weitergehendes Engagement für diese selbstgerechte alterwürdige Fakultät kam für ihn nun erst recht nicht mehr in Frage.
Fürderhin hielt er aber dennoch weiter Vorlesung. Am Beginn seines Vortrags erwähnte er nunmehr stets, dass er hier auf eigene Rechnung stehe und er jedem der anwesenden Studenten nur raten könne, falls auch nur irgendwelche Gelüste nach einer akademischen Karriere bestünden, dieses reiflich zu überdenken. Daraufhin warf ein neunmalkluger Student ein, dass er doch ein Lehrangebot machen müsse, um seinen Titel zu erhalten. Er klaubte all seinen Sarkasmus zusammen und sagte: „Lieber Kollege, wissen Sie, wie das andere machen? Die kündigen Vorlesungsveranstaltungen zu völlig uninteressanten Themen und zu unmöglichen Zeiten an. Da kommt keiner. Und schon sind sie aus dem Obligo. Und außerdem können Sie meinen Titel ruhig haben. Ich brauche den nicht mehr für meine Eitelkeit oder meine Karriere.“ Was allerdings nicht ganz seiner Gemütslage und den Tatsachen entsprach.
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