„… wir haben dann die Patientin gefragt, welchen beruflichen Belastungen sie ausgesetzt gewesen ist. Sie hatte regelmäßig die Siebe mit Lösungsmitteln gereinigt. Das war's: Ihre Erkrankung war berufsbedingt.“
„Aber das ist doch keine Berufskrankheit“, wagte ein Arbeitsmediziner in der nachfolgenden Diskussion einzuwerfen.
„Doch, da gibt es die Metaanalyse von Kettaneh und Mitarbeitern aus dem Jahre 2007, in die 14 Einzelstudien eingingen. Heraus kam eine statistisch signifikante Korrelation zwischen Expositionen gegenüber organischen Lösungsmitteln und der Sklerodermie. Wir müssen also von neuen Erkenntnissen ausgehen. Hier greift die Öffnungsklausel des § 9 Abs. 2 SGB VII.“
„Aber das waren Fallkontrollstudien. Deren methodische Unzulänglichkeiten sind doch bekannt“, setzte der Zurufer nach.
„Bei dieser Metaanalyse handelt es sich um eine seriöse Publikation in einem peer reviewed Journal.“
„Was keine Garantie für eine ausreichende Power ist.“
Am Ende der Diskussion hatte der Arbeitsmediziner Mühe, den davon eilenden Rheumatologen zu erreichen. „Nur auf ein Wort, Herr Professor: Da gibt es keine epidemiologische Evidenz“, sagte er.
Er erntete einen mitleidigen Blick, erreichte aber immerhin, dass der Mann stoppte.
„Fallkontrollstudien leiden sehr stark unter Bias, Confounding und Selektion“, sagte der Arbeitsmediziner.
„Selbstverständlich, Herr Kollege, aber Sie wissen doch auch, dass Fallkontrollstudien bestens geeignet sind, um die Ursachen seltener Erkrankungen, wie die der progressiven systemischen Sklerodermie, zu untersuchen.“
„Aber für den Preis einer ungenaueren Aussage. In einer Fallkontrollstudie be-obachtet man keine Erkrankungswahr-scheinlichkeiten, wie in einer Kohorten-studie, sondern Expositionswahrscheinlichkeiten. Das relative Risiko wird durch die Odds Ratio ersetzt.“
Der Rheumatologe schaute den Arbeitsmediziner leicht spöttisch über seine Brillenränder an. „Herr Kollege, wir wollen uns doch nicht in der Propädeutik verlieren.“
Der Mahner ließ sich jedoch nicht beirren. „Die Odds Ratio ist ganz entscheidend von der Güte der Expositionsermittlung abhängig. Da sich die Sklerodermie meist schleichend über einen längeren Zeitraum entwickelt, haben wir in der Regel keine exakten Angaben über die zurückliegenden Einwirkungen. Deswegen ist man auf Interview, Fragebogen oder Expertenbeurteilung angewiesen. Es kommt zum Recall-Bias. Das Kausalitätsbedürfnis und die selektive Erinnerung produzieren höhere Expositionen als tatsächlich vorgelegen haben. Personen mit Lösungsmittelbelastungen werden meist auch besser arbeitsmedizinisch überwacht, im Gegensatz zu den beruflich nicht exponierten. Das führt zum Diagnostic-Bias. Expositionen gegenüber Lösungsmitteln waren und sind häufig in der gewerblichen Wirtschaft. Die Sklerodermie ist jedoch eine vergleichsweise seltene Erkrankung. Dementsprechend ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass die Sklerodermie mit einer Lösungsmittelexposition assoziiert ist. Alle diese Faktoren führen zu einer Erhöhung des Risikoschätzers. Und so kommt es, dass in der von Ihnen zitierten Metaanalyse elf positiven nur drei negative Fallkontrollstudien gegenüber stehen“.
„Also haben wir statistische Signifikanz“, sagte der schon leicht genervte Rheumatologe triumphierend.
„Die Magie der großen Zahl verführt dazu, die gebotene kritische Distanz zu Metaanalysen zu verlieren. Sie können nicht besser sein als die Summe der Einzelstudien. Die Metaanalyse von Kettaneh ist methodisch schlecht gemacht. Die Belastungsanalysen waren unterschiedlich basiert, mal durch Fragebogen, mal durch Interview oder Expertenmeinung. Die einzelnen Kontrollpopulationen wiesen eine unterschiedliche Provenienz auf. Die Heterogenität der Einzelstudien war zu groß, d. h. zwischen den Studienergebnissen bestand eine größere Variation als man dies durch Zufall erwarten würde. Und überhaupt: Frauen erkranken bis zu achtmal häufiger an Sklerodermie als Männer, sind aber in lösungsmittelexponierten Berufen schwächer vertreten.“
Der Oberarzt schaute ungeduldig auf seine Uhr. „Tut mir leid, wir haben jetzt eine Sitzung unserer Arbeitsgruppe Rheuma und Arbeit. Wissenschaft ist Wahrheit, sehr verehrter Herr Kollege.“
„Ja aber, die Fallkontrollstudien sind in erster Linie Meinungsumfragen, in denen danach gefragt wird, wie böse die Arbeitswelt ist“, rief der Arbeitsmediziner der davon stürmenden rheumatologischen Kapazität hinterher.
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