Die Arbeitsmedizin braucht also klare Vorgaben. Schließlich heißt arbeitsmedizinische Fachkunde zu wissen, was wann wo nachzuschlagen ist. Es fühlt sich deshalb richtig gut an, wenn allmählich auch die letzten Lücken im Regelwerk geschlossen werden.
Nein, nicht wie Sie jetzt vielleicht spekulieren, die bei Fahr-tätigkeiten, über die manche Kollegen penetrant lamentieren. Es ist doch von den Experten (= Juristen) klar gesagt: Unterzuckerungen, mangelndes räumliches Sehen oder gar epileptische Anfälle bei Staplerfahren haben mit Arbeitsschutz nichts zu tun. Basta. Da muss dann eine Betriebsvereinbarung her. Und das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder gar die informationelle Selbstbestimmung? Egal, allein dieses Wortungetüm muss jeden vernünftigen Betriebsarzt doch abschrecken. So etwas gab´s früher schließlich auch nicht.
Aber sonst, ja sonst hat in unserem Fachgebiet alles seine gute Ordnung. Amtlich geordnet sind nun auch die Untersuchungsfristen. Da sagt mir eine AMR, ob ich bei einer entsprechenden Gefährdung eine Nachuntersuchung nach 6 bis 12 Monaten durch-führen muss oder ob es 6 bis 48 Monate sein dürfen. Oder vielleicht 12 bis 48 Monate? Oder 12, 24 oder 36 Monate, die aber bitte exakt? Biologisch faszinierend, wie der Körper offensichtlich zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten nach betriebsärztlichem Kontakt lechzt. Sie bezweifeln das? Dann schauen Sie mal in die AMR hinein. Die gibt nämlich den Stand der Arbeitsmedizin und sonstige gesicherte arbeitsmedizinische Erkenntnisse wieder. Und sie stützt sich auf anerkannte wissenschaftliche Literatur – etwa die „Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen“. Man nennt das wohl evidenzbasierte Medizin.
Ehrlich gesagt, auch so ein Satz geht überhaupt nicht: „Wir möchten Ihnen anbieten, sich bei unserem Betriebsarzt untersu-chen zu lassen, und würden uns freuen, wenn Sie dieses Angebot wahrnehmen würden.“ Derart schwammig hat sich mein Betrieb bislang aber tatsächlich ausgedrückt. Ich habe unsere Personaler jetzt erst einmal aufgeklärt, wie man das in Deutschland korrekt zu formulieren hat: „Nach dem Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung für Ihren Arbeitsplatz sind wir nach der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge gesetzlich verpflichtet, Ihnen eine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung nach dem Anhang zu dieser Verordnung anzubieten (§ 5 Absatz 1 i.V.m. dem Anhang der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV)).“ Weiter lesen können Sie diesen faszinierenden Text in der AMR Nr. 1 zu § 5 ArbMedVV. Von unserem Bürgermeister erhalte ich mit gewisser Regelmäßigkeit ähnlich ausgefeilte Briefe. Er bietet mir darin an, die Parkgebühren (und einen selbstverschuldeten kleinen Zuschlag) noch nachträglich zu überweisen, anderenfalls – na Sie wissen schon. Zurück zum Betrieb: Die Mitarbeiter sind beeindruckt von dieser Präzision, zu solch literarischem Werk suchen sie gern das kritische Gespräch mit mir und diskutieren Ziel und Inhalt des Schreibens. Und schon habe ich den zwanglosen Einstieg in eine herzliche Arzt-Patienten-Beziehung. Meinen pubertierenden Kindern sollte ich einige Angebote mal in derselben Form machen: „Ich biete Euch im Rahmen der gesetzlich festgeschriebenen elterlichen Fürsorge an, Euch heute und in den kommenden Jahren alle 12 bis 24 Stunden zu Euren haushaltlichen Pflichten zu beraten.“ Was meinen Sie, wie eifrig die ihre Klamotten wegräumen oder die Mülltonne an den Straßenrand stellen?
Regeln helfen mir schließlich auch, nicht einer grenzenlosen Selbstüberschätzung zu erliegen. Zum Beispiel hatte ich mir immer ganz naiv eingebildet, das simple Wort „regelmäßig“ zu verstehen. Aber so einfach ist das offenbar gar nicht; denn ich durfte lesen, dass der Begriff „regelmäßig“ in einer eigenen AMR konkretisiert werden soll. Ein wahrer Meilenstein in der Arbeitsmedizin. Das beruhigt, alles wird gut.
Wenn ich Studierenden un-sere Regelwerke erläutere, sind sie aufrichtig begeistert von der strahlenden, großen Klarheit unseres Fachgebiets. Alles normiert, kein eigenes, differenzierendes Abwägen und kein ineffizientes Diskutieren. Allerdings verstehe ich einfach nicht, warum die Arbeitsmedizin dann trotzdem so selten gewählt wird.
Sie ist doch so ein spannendes Fach. Ganz im Ernst!
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