ASU: Sie sind Arbeitsmedizinerin in freier Praxis mit Gelbfieber-Impfstelle und betreuen eine Vielzahl von Betrieben in sehr unterschiedlichen Branchen, mit ebenso unterschiedlichen Strukturen, Aufgaben und Problemstellungen. Für welche Sparten und Unternehmensformen sind Sie betriebsärztlich tätig?
Dr. Stichert: Ich betreue Firmen aus den Bereichen Maschinenbau, Gesundheitsdienst, Bäckerhandwerk, Verwaltung, Großhandel- und -lagerei sowie eine Druckerei. Die betriebsärztliche Betreuung erfolgt dabei sowohl im Unternehmermodell wie auch in einem familiengeführten Großbetrieb mit angeschlossener Werksambulanz.
ASU: Wie ist Ihre Vorgehensweise, wenn ein neuer Betrieb Ihre arbeitsmedizinische Betreuung sucht? Und welche Erwartungen werden an Sie im Erstkontakt gestellt?
Dr. Stichert: Häufig erfolgt die Kontaktaufnahme über die Kontaktmöglichkeit auf meiner Webseite. Ich erfrage dann, wie groß der Betrieb ist, wie viele Beschäftigte zu betreuen sind, welche Untersuchungsarten anfallen und muss mir dann zunächst die Frage stellen: Habe ich überhaupt noch Zeit übrig, um Art und Umfang der erforderlichen Betreuung zu gewährleisten? Wenn ja, erstelle ich ein Angebot und werde dann zumeist zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Teilweise wird danach aber auch direkt die Betreuung vereinbart, da die Firmen schon längere Zeit vergeblich eine betriebsärztliche Betreuung gesucht haben. Gründe für die Suche sind entweder das Ausscheiden des bisherigen Betriebsarztes aus Altersgründen oder die Aufforderung durch die Berufsgenossenschaft, endlich eine betriebsärztliche Betreuung einzurichten.
Im Erstkontakt möchten die Firmen dann wissen, welche Untersuchungen bei ihnen vor Ort durchgeführt werden können und wie denn die betriebsärztliche Betreuung allgemein organisiert wird. Meistens wird anschließend auch direkt der Kontakt zur Personalvertretung/Betriebsrat hergestellt, die dann auch Fragen haben.
ASU: Als Betriebsärztin kennen Sie die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Gesundheit. In der Beratung wird Ihre Kernkompetenz in der Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Begutachtung berufsbedingter Erkrankungen die wesentliche Rolle spielen. Wie entsteht im Annäherungsprozess an die Geschäfts- und Personalleitung sowie den Betriebsrat einerseits und die Beschäftigten andererseits die notwenige Vertrauensbasis?
Dr. Stichert: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies über die Zeit durch glaubwürdiges und authentisches Handeln erfolgt. Im Rahmen der Werksambulanz wurde mir der Einstieg erleichtert, da sowohl die Geschäftsleitung als auch die Beschäftigten mich schnell über die kurative Betreuung kennenlernen konnten und mich als „Ärztin“ schätzen lernten. Außerdem beschäftigt die Firma seit langen Jahren eine Arzthelferin in der Werksambulanz, die dann positive Rückmeldungen über meine Art zu arbeiten und den Umgang mit ihr an die Belegschaft weitergeben konnte. Auch die erforderliche Empathie und das betriebsärztliche Engagement werden relativ schnell bemerkt und mit Vertrauen honoriert.
ASU: Was wird im Einzelnen von Ihnen bei der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefährdungen, in der Gesundheitsberatung und in der berufsfördernden Rehabilitation erwartet?
Dr. Stichert: Die Geschäftsleitungen erwarten zunächst eine Unterstützung im Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention. Sich betriebsärztlich einzubringen, wenn es darum geht, ob ein kranker Mitarbeiter wieder eingesetzt werden kann und welche Einschränkungen bestehen, das wird häufig abgefordert. Schwieriger gestaltet sich schon die Sensibilisierung für die Primärprävention, da man dann doch häufig „stört“ und die Argumentation mit ausbleibenden Schadensereignissen nicht immer hilfreich ist. Ich habe auch schon einem großen Betrieb gekündigt, da ich kein Fortkommen sah und die zur Schau gestellte Gesundheitsförderung nicht ehrlich gemeint war. Häufig ist es ein Kampf, immer wieder zu begründen, warum man etwas einfordert und welcher Vorteil sich auf Seiten des Unternehmers dadurch einstellen kann. In einem Unternehmen bekomme ich des Öfteren zu hören: „Dies ist ein Maschinenbauunternehmen und kein betreutes Arbeiten“.
Die Beschäftigten sind dagegen hoch erfreut, wenn dort eine Ärztin ist, die sich Zeit für ein Gespräch nimmt und sowohl die private Situation als auch die Ängste, den Arbeitsplatz zu verlieren, bespricht und ernst nimmt. Meistens wird dann ein Plan erstellt, was im Einzelnen sinnvollerweise geschehen sollte und der Beschäftigte ist erleichtert, da er nun überhaupt erst einmal eine Vorstellung davon bekommt, wie die nächsten Schritte aussehen könnten.
Schwierig wird es immer dann, wenn körperliche Einschränkungen und eine ungelernte Tätigkeit zusammen treffen und ggf. auch noch Sprachprobleme vorhanden sind. Ich weiß dann genau, dass wir für diesen Menschen keinen anderen Arbeitsplatz finden werden, an dem nicht körperlich belastende Tätigkeit zu verrichten ist. Vor allem Betroffene mit Rückenerkrankungen finden kaum Unterstützung: der Orthopäde hat kaum Zeit. Eine Rehabilitation kommt erst in Frage, wenn ambulant alles ausgeschöpft wurde. Das Integrationsamt ist nicht zuständig, da ein Patient auf Rückenschmerzen keinen Grad der Behinderung erhält. Dieser Personenkreis fühlt sich dann häufig sehr allein gelassen.
ASU: Betriebsärzte sind bei ihrer Aufgabenerfüllung unabhängig. Sie beraten bei der Unfallverhütung, im Gesundheitsschutz, der Arbeitsplatzgestaltung, beraten auch in schwierigen Gebieten wie psychosoziale Belastungen usw. Können Sie tatsächlich frei arbeiten oder unterliegen Sie auch Weisungen oder entsprechenden Versuchen dazu, z. B. seitens der Unternehmensleitung?
Dr. Stichert: Ich kann frei arbeiten, aber nur, weil ich meine Betriebe so gestreut habe, dass ich von keinem abhängig bin und jederzeit dort aufhören könnte. Den größten Betrieb betreue ich aus diesem Grunde auch zusammen mit einer anderen Kollegin, da dadurch das Risiko aufgeteilt wird und nicht über die Hälfte meiner Einsatzzeit mit einem Mal wegbrechen könne. Versuche, vor allem von Seiten der Geschäftsführung, aber auch von Seiten der Beschäftigten, mir meine Weisungsfreiheit zu nehmen, gibt es immer wieder.
ASU: Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Haus- und Fachärzten?
Dr. Stichert: Ich arbeite seit 1992 in der Arbeitsmedizin und habe es maximal zehnmal erlebt, dass ein Hausarzt oder Facharzt mich als Betriebsärztin angerufen hätte, um mich mit einzubinden. Am häufigsten passierte dies in meiner Zeit als festangestellte leitende Betriebsärztin, da ich dort in neun Jahren in dieser Funktion bekannt war. Meistens wende ich mich mit dem Einverständnis des Patienten an seinen behandelnden Arzt und bitte um Unterstützung bei bestimmten anstehenden Maßnahmen, um z. B. den Arbeitsplatz erhalten zu können. Eine Krankenhaus-Mitarbeiterin habe ich beispielsweise zum Impfen an ihren Hausarzt verwiesen, der dann die notwendige Tetanusimpfung im Jahr 2011 dreimal mit Tetanus-monovalentem Impfstoff durchführte und als Applikationsort den Gluteus maximus verwendete. Da die Mitarbeiterin auch Pertussis und Diphtherie benötigte, habe ich in der Praxis angerufen und das heute übliche Vorgehen erklärt. Der Kollege sagte „Danke“ und legte auf.
ASU: Führen Sie im Rahmen der Prävention auch regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen in den von Ihnen betreuten Betrieben durch? Und gibt es bei Ihren Unternehmen ein tatsächliches Verständnis dafür, dass Vorsorgeuntersuchungen die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten nachhaltig stärken können, vor allem, wenn sie im Kern der Betriebsabläufe angesiedelt sind?
Dr. Stichert: Ich nehme einmal an, dass Sie Vorsorgeuntersuchungen im Sinne der kurativen Medizin meinen. Dies mache ich nur in meinem Maschinenbauunternehmen mit angeschlossener Werksambulanz. Dort werden allen Beschäftigten alle zwei Jahre Gesundheitschecks angeboten, die auch gerne und regelmäßig von den Beschäftigten angenommen werden. Allerdings versuchen wir auch darauf Einfluss zu nehmen, dass die Beschäftigten in dem dazwischen liegenden Jahr doch ihren Hausarzt aufsuchen sollen. Den Impfstatus überprüfe ich dagegen bei jedem Patientenkontakt bzw. empfehle, den Impfpass zu Hause auf Vollständigkeit zu überprüfen. Es ist schon etwas Wahres an den Worten von Prof. Badura: „Männer sind für betriebliche Gesundheitsvorsorge erreichbar, wenn sie ihre Endlichkeit bemerken“. Da in diesem Unternehmen auch die leitenden Angestellten und die Geschäftsleitung dieses Angebot annehmen, besteht für die Vorsorgeuntersuchungen ein tatsächliches Verständnis. Aber auch die berufsgenossenschaftlichen Vorsorgeuntersuchungen werden von den Beschäftigten akzeptiert und meistens, wenn es nicht ein absoluter „Arztmeider“ ist, gerne in Anspruch genommen.
ASU: Nach welcher Methode identifizieren Sie bei den jeweiligen Betrieben das gesundheitliche Risikopotenzial einer Belegschaft unter Berücksichtigung der Arbeitsstruktur, Arbeitssicherheit, spezifischer Belastungen, Altersstruktur und präventiven Erfordernissen?
Dr. Stichert: Ich mache mir ein Bild über die Gegebenheiten im Rahmen der Begehungen, auch über die Gefährdungsbeurteilung, wenn schon eine existiert und in vielen Gesprächen sowohl mit der Geschäftsleitung, aber vor allem mit den Beschäftigten und der Personalvertretung. Dies ist auch ein Grund, warum ich auf meine arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen nicht verzichten möchte, da ich in einem Vieraugengespräch mehr erfahren kann als bei einer Begehung. In einigen meiner Betriebe führe ich inzwischen eine Befragung zum Thema Gefährdungsanalyse mit eingeschlossener psychischer Belastungsanalyse durch, die vor allem im Vergleich zuvor ausgewählter Abteilungen sehr aussagekräftig ist.
ASU: Die aktuell diskutierten Maßnahmen zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) und zur Wiedereingliederung chronisch Kranker in den Arbeitsprozess (Return to Work RTW) sind ja zentrale Themen der Arbeitsmedizin. Sind Sie in Ihrem Beratungsalltag auch damit befasst?
Dr. Stichert: Ich habe in all meinen Betrieben auf die gesetzliche Verpflichtung und die Vorteile eines gelebten betrieblichen Eingliederungsmanagements hingewiesen. Problematisch ist es nach wie vor in den kleineren Betrieben, in denen man so selten ist und als Betriebsarzt außerhalb der Einsatzzeit kaum wahrgenommen wird. Dass wir auf einen Fachkräftemangel zusteuern, wird leider immer noch nicht von allen Beteiligten erkannt. In den größeren Unternehmen ist die Umsetzung des betrieblichen Eingliederungsmanagements dagegen fast nie ein Problem.
ASU: Laut Ihrer Webseite haben Sie im Laufe Ihrer Tätigkeit in der Arbeitsmedizin sowohl in einem Angestelltenverhältnis als auch in einem übergeordneten Zentrum und seit 2004 als selbständige Einzelkämpferin gearbeitet. Worin liegen ihrer Ansicht nach die Vor- oder auch Nachteile?
Dr. Stichert: Als Betriebsärztin der Universität zu Köln wusste ich jeden Tag, wo mein Schreibtisch steht, wo die Untersuchungen erfolgen und ob ich mir einen Kaffee kochen kann oder nicht. Ich hatte nahezu jeden Tag dieselben Personen um mich. Hilfreich war diese Situation auf jeden Fall in der Weiterbildung, da mein Weiterbildungsassistent mich jederzeit erreichen konnte und ich ihn langsam an die Untersuchungsarten heranführen konnte.
Letzteres gestaltete sich in meiner Zeit als Leitende Ärztin in einem übergeordneten Zentrum als sehr schwierig. Meine Weiterbildungsassistenten wurden relativ schnell bei den Kunden voll eingesetzt. Sie bekamen auf Geheiß der Zentrumsleitung kaum Einarbeitungszeit, in der sie mich oder einen anderen erfahrenen Arbeitsmediziner begleiten und uns über die Schulter sehen konnten. Ich kontrollierte dann anschließend die ausgestellten Bescheinigungen und musste es irgendwie organisieren, mit den einzelnen Assistenten über die Inhalte, die mir aufgefallen waren, zu sprechen.
Was mir ebenfalls nicht gefiel, war die Situation, dass ein Nicht-Betriebsarzt mir Vorgaben machte, wie ich meine betriebsärztliche Tätigkeit zu gestalten hatte. Ich meine damit nicht den medizinischen Teil, aber zum Beispiel wurde die Erstellung von Exceltabellen gefordert, die uns Betriebsärzten in unserer Tätigkeit jedoch gar nicht halfen. Auch die zeitlichen Vorgaben empfand ich in den meisten Fällen als zu eng und lediglich auf die betriebswirtschaftliche Seite hin ausgerichtet.
Ich genieße im Rahmen meiner heutigen Selbständigkeit, dass ich meine Zeit frei aushandeln und wirklich so gestalten kann, wie ich es aus fachlicher Sicht für richtig erachte. Ich bin froh, dass ich bei meinen Kunden so sein darf, wie ich eben bin und auch durchaus eine Kündigung aussprechen kann, ohne mich hinterher rechtfertigen zu müssen. So klappt es immer, wenn der richtige Betriebsarzt beim richtigen Kunden arbeitet und die Chemie stimmt.
Nachteilig ist natürlich, dass ich zumeist alleine arbeite und auch mein eigener Buchhalter oder Einkäufer bin. Aus diesem Grunde genieße ich die Arbeit in der Werksambulanz, wo eine Arzthelferin mitarbeitet, mit der ich mich hervorragend verstehe.
ASU: Sie haben hier viele und interessante Aspekte Ihrer betriebsärztlichen Beratungstätigkeit geschildert und ein breites Spektrum mit anspruchsvollen Aufgaben aufgezeigt. Wie organisieren Sie sich mit freier Praxis und den zahlreichen Vor-Ort-Aktivitäten? Wie schaffen Sie dieses Pensum im Alltag?
Dr. Stichert: Recht anstrengend ist die abendliche Planung des folgenden Tages. Ich muss genau überlegen: Was muss ich wohin mitnehmen? Was wollte wer von mir? Wo muss ich noch etwas erledigen? Dann werden die Sachen für den nächsten Tag fertig gepackt und zum Transport bereit gestellt. Die Untersuchungen in den Firmen versuche ich so zu organisieren, dass sie örtlich hintereinander angefahren werden können, was in den meisten Fällen gelingt. Außerdem wohne ich strategisch günstig, so dass ich relativ selten im Stau stehe. Am Jahresende wird ein Betreuungsplan erstellt und die Terminbesonderheiten der einzelnen Betriebe übers Jahr verteilt. Termine streichen oder kurzfristig anderweitig vergeben ist zumeist kein Problem, aber Termine neu zu finden, ist häufig schwierig. Gekürzt wird dann gerne die Zeit, die für die Verwaltungstätigkeit reserviert wurde, so dass ich des öfteren am Wochenende an meinem Schreibtisch sitze.
ASU: Gestatten Sie schließlich noch die Frage, welche Rolle diese Zeitschrift für Ihre praktische Tätigkeit hat? Sie arbeiten dankenswerter Weise seit einigen Jahren für den Praxisteil der ASU als Autorin und berieten uns u. a. sehr wirkungsvoll beim Relaunchprozess der Zeitschrift, der eine breitere Öffnung für die betriebsärztlichen Leser ermöglichte.
Dr. Stichert: Ich lese die ASU regelmäßig, seit ich Anfang der 90er Jahre in der Arbeitsmedizin begonnen habe. Zum einen erfahre ich immer wieder einmal Neues, was ich als Einzelkämpferin noch nicht mitbekommen hatte. Zum anderen besteht eine sehr gute Zusammenarbeit in der Redaktion „Arbeitsmedizinische Praxis“, was unsere Arbeit immer wieder beflügelt hat. Wir verstehen uns alle sehr gut, arbeiten gerne zusammen und unterstützen uns gegenseitig, was manchmal schon zu Heftausgaben geführt hat, wo einer von uns, der gerade Zeit hatte, mehr vertreten war, als die anderen.
ASU: Herzlichen Dank für dieses Interview.
Das Gespräch führte:
Gernot Keuchen
Gentner Verlag, Stuttgart