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Heidelberger Gespräch 2018

Qualitätssicherung und -überprüfung in der Begutachtung

Dipl.-Med. K. Breuninger, MDS Essen, referierte den aktuellen Stand zur sozialmedizinischen Sicht auf die vor der Veröffentlichung stehende AWMF-Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ der Deutschen Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB). Neben einer Fülle von Literatur wird es die erstmals umfassend überarbeitete Leitlinie mit Beteiligung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) geben. Der sozialmedizinisch-gutachterliche Blick vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Bundesagentur für Arbeit (BA) steht nicht im Mittelpunkt, wird aber berücksichtigt.

J.-O. Siebold, Rechtsanwalt aus Gelsenkirchen, sprach über die Würdigung von Gutachten aus anwaltlicher Sicht. Er formulierte „Ist das Gutachten in einem sozialgerichtlichen Verfahren oder einem Verwaltungsverfahren im Sinne des Zieles des Mandanten positiv ausgefallen, so ist es gut und überzeugend.“ Die Position als Parteivertreter im Prozess gebiete es, diese Schlussfolgerungen in den entsprechenden Fällen immer zu ziehen. Er ging ausführlich und klar auf die Rahmenbedingungen für die sozialrechtsbezogene anwaltliche Tätigkeit ein.

Neues zum Grad der Behinderung/Grad der Schädigung (GdS/GdB) und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)

Prof. Dr. med. K.-D. Thomann, Landesarzt für Menschen mit Körperbehinderung in Hessen, bot einen historischen Überblick vom Reichsversorgungsgesetz (RVG) bis zur aktuellen Versorgungsmedizinverordnung. Das RVG entstand aus der Notwendigkeit, hunderttausende von Kriegsbeschädigten medizinisch und beruflich zu rehabilitieren. Mannschaften und Offiziere erhielten erstmals in der Geschichte die gleiche Entschädigung; maßgeblich war der gesundheitliche Schaden. Der Verordnungsgeber erkannte, dass sich die durch die Kriegsbeschädigung eingeschränkte körperliche Belastbarkeit nur durch eine höhere berufliche Qualifikation kompensieren ließ. Mit der Verabschiedung des Schwerbehindertengesetzes 1974 wurde auch eine zivile Behinderung nun mit einer MdE bewertet, obwohl viele Betroffene noch nicht – oder nicht mehr – im Erwerbsleben standen.

C. Osterland, Richterin am Sozialgericht Hannover, trug Ergänzungen zu den Rechtsfragen bei, die sich bei der MdE-Bemessung stellen. Die Bemessung, ausgehend von MdE-Tabellen, ist rechtlich problematisch. Das Sozialgesetzbuch (SGB) VII sieht weder die Erstellung derartiger Tabellen vor, noch ordnet das Gesetz an, wer sie erstellen darf und welches Verfahren hierfür eingehalten werden muss. Die Rechtspraxis wendet die Tabellen, die in jedem Standardwerk zur sozialgerichtlichen Begutachtung abgedruckt sind, in der weit überwiegenden Zahl der Fälle als rechtsverbindliche Größen an, ohne auf das Problem der fehlenden Transparenz einzugehen.

C. Drechsel-Schlund, Geschäftsführerin der Bezirksverwaltung Würzburg der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, referierte zur Weiterentwicklung der MdE-Bemessung aus Sicht der gesetzlichen Unfallversicherung. Vielerorts wurde in der jüngeren Vergangenheit diskutiert, ob die MdE-Erfahrungswerte für Funktionsstörungen nach Arbeits- und Wegeunfällen noch dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entsprechen. Hinterfragt wurde beispielsweise, inwieweit eine Prothesenversorgung bzw. die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes berücksichtigt würden. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) hat deshalb einen Vorschlag des Deutschen Sozialgerichtstags aufgegriffen und für die Weiterentwicklung der MdE-Bemessung ein unabhängiges, neutrales und ehrenamtlich tätiges Gremium multiprofessioneller Experten einberufen, die von unterschiedlichen medizinischen Fachgesellschaften bzw. Institutionen benannt wurden. Anfang 2018 wurde ein Abschlussbericht vorgelegt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die MdE-Feststellung nach § 52 Abs. 2 SGB VII und die Limitationen bei der Rechtsanwendung wurden eingehend beleuchtet.

Prof. Dr. M. Schiltenwolf, Zentrum für Orthopädie, Unfallchirurgie und Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg sprach dazu aus der Sicht des ärztlichen Gutachters. Da die Legaldefinition des verschlossenen Arbeitsmarkts als Grundlage der MdE-Bemessung regelhaft nicht umzusetzen ist, wurden MdE-Eckwerte nach medizinischen Gesichtspunkten vergleichbarer Beeinträchtigungen nach der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) von 10% bis 100% entwickelt. Diese medizinisch begründeten Eckwerte zeigen starke Übereinstimmung mit den GdB/GdS-Tabellen der Versorgungsmedizinverordnung. Der Anteil der verschlossenen Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für eine ganz konkrete Fallkonstellation konnte weder über empirische Daten noch über Arbeitsmarktanalyse ermittelt werden. Daher wurde der Ansatz medizinisch begründet; aus dem induktiven Ansatz der Legaldefinition (von der Verletzungsfolge zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zur Bemessung der MdE) wurde ein deduktiver Ansatz (von Klassen vergleichbarer medizinisch begründeter Beeinträchtigung zur MdE).

Zumutbarkeit von Erwerbstätigkeit und Verschlossenheit des Arbeitsmarktes

Dr. Ch. Osiander vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg beschrieb, wie sich der allgemeine Arbeitsmarkt heute darstellt. Insgesamt hat er sich in den letzten Jahren günstig entwickelt – die Arbeitslosigkeit sinkt, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nimmt weiter zu. Dabei ist die Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten überdurchschnittlich hoch. Zudem sinken Langzeitarbeitslosigkeit und Leistungsbezug im SGB II – der Grundsicherung für Arbeitsuchende – weiterhin nur in geringem Ausmaß. Schließlich verändern auch Prozesse wie die Digitalisierung die Tätigkeitsanforderungen in vielen Berufsfeldern.

Dr. jur. C. Stotz, Richter am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, vertrat die juristische Sicht. Unter dem Begriff „Verschlossenheit des Arbeitsmarktes“ werden im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung diejenigen Fallgestaltungen gefasst, in denen eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gezahlt wird, obwohl der Versicherte noch drei Stunden oder mehr täglich arbeiten kann. Hierzu gehören nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) neben den Fallgruppen, bei denen Versicherte entweder schwere spezifische Leistungseinschränkungen oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorwiesen, vor allem diejenigen Fälle, in denen Versicherte noch drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten können. Die Besonderheiten des Teilzeitarbeitsmarktes und dessen Entwicklung wurden thematisiert.

Dr. med. A. Bahemann, Zentrale der Bundesagentur für Arbeit, legte den Schwerpunkt auf die Begutachtung für die Agenturen für Arbeit –SGB III – und für die Jobcenter – SGB II. Dem Selbstverständnis entsprechend ist es für Ärztinnen und Ärzte sinnvoll, sich bei der Beratung und Begutachtung grundsätzlich auf Aussagen in ihrem medizinischen Fachgebiet zu beschränken. Allerdings darf ein Bezug auf „die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ vom Auftraggeber erwartet werden. Der rechtliche Rahmen für die Zumutbarkeit ist schon in beiden genannten SGB unterschiedlich; der arbeitsmarktliche Rahmen wird sich mit der Digitalisierung rasant weiterentwickeln. Diskutiert wurde unter anderem, wie sich das auf die ärztliche Begutachtung auszuwirken hat.

Psychiatrische Begutachtung und interkulturelle Kompetenz

Prof. Dr. med. W. Sax, Head Department of Anthropology and executive Director South Asia Institute der Universität Heidelberg, bereicherte die Tagung mit seiner kulturanthropologischen Sicht und fragte, ob „Krankheiten“ wie Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder dissoziative Identitätsstörung universell sind. Sind sie „Naturtatsachen“, die in verschiedenen Kulturen nur unterschiedlich benannt sind oder hat jede Kultur ihre eigenen Normen für Konformität und Abweichung, ihre eigenen Maßnahmen für psychische Gesundheit und Krankheit?

Dr. M. Abu-Amasheh und R. Schönberger vertraten das Thema ärztlich aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung. Interkulturelle Kompetenz und Multiperspektivität sind auch in der sozialmedizinischen Begutachtung von großer Bedeutung, um die Kriterien von Gleichbehandlung, Objektivität und Neutralität abbilden zu können. Menschen mit Migrationshintergrund haben besondere gesundheitliche, psychosoziale und ökonomische Belastungen. Kulturelle Aspekte, migrationsspezifische und soziale Faktoren können dabei Auswirkungen haben auch auf die Manifestation sowie den Verlauf von psychischen Erkrankungen. Vor diesem Hintergrund sehen sich psychiatrische Gutachter der Anforderung gegenüber, kultursensibel und vorurteilsfrei zu beurteilen, auch soziokulturelle Unterschiede bei Krankheitssymptomen und -erleben sowie bei Therapiezugang und -erfolg zu berücksichtigen.

Dr. A. Seiter aus der Agentur für Arbeit in Rostock führte zur Situation bei der Bundesagentur für Arbeit weiter aus, dass bereits in den 50er Jahren Arbeitsmigrantinnen und -migranten begutachtet wurden. Aktuell ergeben sich zusätzliche Anlässe, sich mit dem möglichen Krankheitsverständnis der begutachtenden Personen auseinanderzusetzen. Wesentlich ist in der Regel die Bewertung der Funktionsstörungen im Sinne der ICF mit dem ihr zugrunde liegenden biopsychosozialen Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Dr. med. W. Martinsohn-Schittkowksi, Kompetenz-Centrum für Psychiatrie und Psychotherapie der MDK-Gemeinschaft und des GKV-Spitzenverbandes, Rostock, rundete das Programm der „Heidelberger Gespräche 2018“ aus Sicht des MDK ab. In eine psychiatrische Begutachtung mit persönlichem Kontakt kommen vorrangig psychisch kranke Menschen, bei denen eine Beratung oder Begutachtung bei Arbeitsunfähigkeit erforderlich ist. Das Ziel besteht darin, Maßnahmen aufzuzeigen, die geeignet sind, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Psychisch kranke Menschen stellen bereits für sich genommen eine hochsensible Patientengruppe dar. Handelt es sich um zugewanderte Menschen, finden sich häufig zusätzlich sprachliche Barrieren und ein kulturspezifisches Krankheitsverständnis. Auch die Begutachtung für die Pflegeversicherung wurde angesprochen.

    autor

    Dr. med. Andreas Bahemann

    Bundesagentur für Arbeit

    Leiter Ärztlicher Dienst

    Regensburger Str. 104

    90478 Nürnberg

    Andreas-Bahemann@t-online.de

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