So richtig und wichtig, wie der Artikel von Prof. Dr. Kentner und Dr. Hakimi die Exzesse in der „klinischen“ Vorsorge-medizin brandmarkte, so nützlich wäre auch eine Nabelschau in der eigenen Fachgruppe. Mit dem nachfolgend beschriebenen Vorgang soll ein wichtiger Grund von vielen für die mangelnde Nachwuchsgewinnung in der unabhängigen klinischen Arbeits-medizin, dargestellt werden – im Übrigen ein Zustand, der durch die hier tätigen Kollegen sofort beendet werden könnte.
„Budget, Regress, QM, Notdienste, Fort-bildungszertifikat; ich habe die Nase voll, ich werde Betriebsarzt.“ So oder so ähnlich scheint es vielen älteren Kolleginnen und Kollegen zu gehen und man kann sie gut verstehen. Eine ganze Generation von Ärztinnen und Ärzten hat sich einer Sozialrechts-klausur unterworfen, die mit dem klassischen Arztbild, das die meisten am Ende ihrer Medizinalassistentenzeit anstrebten, nicht mehr viel gemeinsam hat. Aber man hat sich arrangiert. Über die Einführung des menschenverachtenden AiP wurde sich nicht laut geäußert und niemand fand die Ab- und Wiederanschaffung des Hammerexamens schlimm. Das Hammerexamen hatte man schließlich selbst einmal bestanden und die AiPs sollten nicht jammern – Lehrjahre sind keine Herrenjahre. So ist am Ende eines fleißigen arbeitsreichen Lebens in Klinik und Praxis ein gewisser Wohlstand entstanden und mancher kann, will oder darf mit Bezug der Versorgungswerksrente noch nicht ganz aufhören.
Eine Beschäftigung ist schnell gefunden
Zwei- bis dreimal im Monat Praxisvertretung oder Notdienst, einige haben zudem noch einen gültigen Rettungsdienstschein und vielleicht in der Jugend einmal die Arbeitsmedizinkurse besucht und sich die Betriebsmedizin anerkennen lassen, so kann man sich unterhalb der Zuverdienstgrenze noch das eine oder andere Extra gönnen und verliert nicht ganz so abrupt den Kontakt zur liebgewonnenen Arbeit. Im Grunde genügt eigentlich eine halbwegs gültige Approbation, da es ausreichend arbeitsmedizinische Systemdienstleister gibt, die „Honorararzttätigkeit“ ohne Stress und Reglementierung anbieten. Um die Abrechnung kümmert sich eine Buchhaltung, Geräte und geeignete Be-triebe werden bereitgestellt, manchmal so-gar eine nette Hilfskraft.
Gern kommt man morgens mit einem Hebammenkoffer, gefüllt mit Mundspateln, Reflexhammer, Stethoskop und Untersuchungslampe in einen Betrieb. Der Pförtner ist freundlich und geleitet in das „Sanitätszimmer“. Eine Kantine und frischer Kaffee sind auch verfügbar und für den Asketen gibt es einen Roibuschtee von der Chef-sekretärin.
Da macht das „Arzten“ doch noch mal richtig Spaß. Die Untersuchungskandidaten kommen pünktlich und sind außerdem selten wirklich krank. Das „Wartezimmer“ ist nie zu voll, es gibt eine Pause und pünktlich Feierabend. Die € 450,– kommen zeitnah aufs Konto und niemand stellt Fragen oder veranstaltet das, was die Berufsausübung ansonsten so unerquicklich gemacht hatte.
Wer die Möglichkeiten dazu hat, fängt schon in seinen letzten aktiven Jahren Mitt-woch nachmittags, oder in der Zeit, in der der Weiterbildungsassistent die KV-Klientel abarbeitet, mit dieser budget- und regressfreien Nebenbeschäftigung an.
Für das Honorar ist plötzlich jeder selbst verantwortlich
Doch wie so oft in dieser Generation wurde zu kurz gedacht. Die Mittwochnachmittagsrunde wird auf Basis der schon bezahlten Kassenarztpraxis unterkalkuliert. Die € 450,– „Honorar“ vom Systemdienstleister werden nicht ins Verhältnis zur GOÄ-Taxe der geleisteten Untersuchungen gestellt. Um die gesetzlichen Bestimmungen zur betriebsärztlichen Tätigkeit wird sich gleich zwei-mal nicht gekümmert. Einerseits hat man sich um Grundbetreuung und betriebsspezifische Betreuung nach DGUVVorschrift 2 noch nie Gedanken gemacht, das macht ja der Auftraggeber, und andererseits kann und will man zwischen Eignungs- und Tauglichkeitsuntersuchungen sowie Vorsorgen nach ArbMedVV nicht unterscheiden. Man will nach der „blauen Bibel“ untersuchen und überlässt die Beurteilung und Abrechnung anderen.
Im Betrieb entsteht der Eindruck der net-ten alten Frau Doktor oder des netten alten Herrn Professors, die zweimal im Monat zum Seh- und Hörtesten kommen. Das sind aber keine Betriebsärzte sondern Totengräber der Arbeitsmedizin! Als Bestattungsunternehmer fungieren ihre Auftraggeber, indem mit diesem Modell jeder Wettbewerb um eine seriöse arbeitsmedizinische Betreuung von vorn herein ad absurdum geführt wird.
Ein jüngstes Beispiel aus der Praxis
In einem Betrieb der Metallindustrie, der mindestens 180 Stunden betriebsärztliche Grundbetreuung nach DGUV Vorschrift 2 vertraglich zu vereinbaren hätte und in dem etwa 250 Mitarbeiter jährlich zur Vorsorge bzw. zu Eignungsuntersuchungen vorge-stellt werden, erfolgt bislang die „Betreuung“ mit 24 Vorortterminen jährlich durch einen Emeritus. Dieser ist auf 450-Euro-Basis bei einem auf dieses Geschäftsmodell speziali-sierten arbeitsmedizinischen Systemdienst-leister beschäftigt, dessen Kosten für den Herrn Professor sich also jährlich auf etwa € 6400,– belaufen. Ihm werden eine ebenfalls teilzeitbeschäftigte Arzthelferin und etwas veraltete Geräte und Ausrüstungen zur Verfügung gestellt. Laut Auskunft des Betriebs erhält der Systemdienstleister ca. € 14 000,– pro Jahr für die „betriebsärztliche Betreuung“.
Das Unternehmen fragte in einer seriösen arbeitsmedizinischen Praxis um eine zeitgemäße, gesetzeskonforme, arbeitsmedizinische Betreuung nach und zeigte sich aufgrund der erhaltenen Kalkulation erschrocken.
Rechnen wir das bisherige Modell durch, kommen wir bei € 6400,– für 24 ärztliche Arbeitstage auf ca. € 266,– pro Tag. Damit wäre eine Vollzeitstelle Arzt und Arbeitstag abgebildet. Sofern der Systemdienstleister also 10 Rentner beschäftigt (nach den Veröffentlichungen auf seiner Webseite sind es sogar 15 Kollegen) kann er folglich mit € 64 000,– Bruttokosten mindestens 240 Arbeitstage absichern. Kein Kassenarzt und kein Personalmanager eines Krankenhauses käme auf die Idee, eine Facharztstelle so zu planen. Selbst wenn man den Gesamtumsatz an Hand der Jahresentgeltsumme für die Betreuung kalkuliert (€ 140 000,–) ist jedem schnell klar, dass auf diese Weise eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Kalkulation mit einer Beschäftigung von Facharzt, Hilfspersonal, inklusive Sozialabgaben und Steuern, Investitionen und Nebenkosten, Versicherungen und Abschreibung nicht gelingen kann. Hier wird sogar noch eine Verwaltung mit ernährt. Es funktioniert dadurch, dass die Kollegen meistens sogar 3–4 Tage arbeiten und damit die Personalkosten nochmals halbiert werden und die Geräte meistens jenseits von Gut und Böse sind. Im Falle dieses Systemdienstleiters finden Ergometer Anwendung, die jeden Samstag in einem anderen Feuerwehrschuppen aufgestellt werden, um für € 50,– je Proband, Eignungsuntersuchungen für Atemschutzgeräteträger nach FWDV 7 (früher G 26.3) durchzuführen. So erwirtschaftet sich für die geschickten Kaufleute des Systemdienstleisters noch immer ein nettes Sümmchen ohne jede eigene Anstrengung.
Schlussfolgerungen
Die Folgen für die Akzeptanz und den Wett-bewerb in der Arbeitsmedizin hingegen sind fatal. Auch wenn ein arbeitsmedizinischer Ordinarius kürzlich klarstellte, dass ihn die betriebswirtschaftlichen Hintergründe nur insoweit interessieren würden, als dass sein eigenes Salär sichergestellt sein müsse, so bricht er hier einem ungeheuerlichen Nihilismus Bahn. Genau dieses Desinteresse hat wesentlich zum Niedergang der Arbeitsmedizin in der Fläche beigetragen. Heute lassen wir unsere zumeist promovierten, jedenfalls mindestens approbierten Kollegen „Masterabschlüsse“ an Fachschulen für Betriebswirtschaftslehre machen, um ökonomische Grundkompetenzen im Umgang mit dem Kunden abzubilden. Nur die eigene Ökonomie darf uns nicht interessieren.
Die Geschäftsmodelle der „arbeitsmedi-zinischen Systemdienstleister“ werden zunehmend auch in der „Kassenmedizin“ kol-portiert. Daher betrifft dieses Problem auch die Nichtarbeitsmediziner. Röntgenmobile auf Lebensmitteldiscounterparkplätzen für die Allgemeinheit gibt es schon wieder. Findige Kaufleute und Juristen in Kombination mit standesinteressenlosen ärztlichen Kollegen werden auch in der Versorgung auf dem Land Einzug halten und dort zu einer weiteren Ausdünnung und Wettbewerbsverzerrung der ärztlichen Grundversorgung führen. In einer solchen Konkurrenzsituation werden noch weniger Kollegen auf dem Land arbeiten wollen. Die betroffenen Patienten kommen weder als Wählerklientel noch als wehrhafte Geschädigte in Betracht. Deshalb muss es ärztliche Aufgabe sein, sich auch um diese Zusammenhänge Gedanken zu machen.
Nur weil es einer ganzen Generation von Ärzten eingeredet wurde, dass es unschicklich sei, über die betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Arztberufes nachzudenken, sollte man sich nicht dazu erheben, die Kollegen im Rest der Welt für schlechte Ärzte zu halten, die genau diese Grundpflichten des Arztes jederzeit im Blick haben müssen.
Fragen Sie bei Notarzt- oder Praxisvertreterbörsen nach. Es gibt keine Ärzte für € 255,– oder weniger am Tag. Oder fragen Sie doch bei einem Schlüsseldienst, ob er zu diesem Preis bei Ihnen vorbeischaut. Es ist egoistisch und unkollegial, für dieses Salär den jüngeren Kollegen die Arbeitsgrundlage zu zerstören.
Interessenkonflikt: Der Autor ist Inhaber und leitender Facharzt einer Arbeitsmedizinischen Praxis, die auf die Betreuung von Klein- und Mittelbetrieben spezialisiert ist.
Autor
Christian Wolf
Facharzt für Arbeitsmedizin
Frankendamm 47
18439 Stralsund