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Multiple Sklerose und Fatigue

Multiple Sklerose

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der entzündliche Läsionen in Gehirn und Rückenmark auftreten, die oft vom Untergang von Nervenfasern und Nervenzellen gefolgt sind. Dies kann zu einer Vielzahl von neurologischen Ausfällen führen.

Charakteristisch sind neben „sichtba-ren“ neurologischen Symptomen wie beispielsweise Gangstörungen, Spastik und Ataxie auch „unsichtbare“ Symptome wie Fatigue, Depressionen, kognitive Störungen, Blasenstörungen, Sensibilitätsstörungen und Schmerzen.

Wenn auch nicht direkt erkennbar, so können diese Symptome negative Auswirkungen auf die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit haben. Eine objektive Einschätzung des Schweregrades ist dabei schwierig, da die Symptome überwiegend durch Selbstbeobachtungen und -einschätzungen wie bei der Fatigue erhoben werden und auch neuropsychologische oder urologische Untersuchungsbefunde die Belastungen der Betroffenen nicht immer ausreichend abbilden. Hinzu kommt, dass die Symptome im Tagesverlauf schwanken können und der Arbeitsplatz selbst mit seinen Anforderungen eine zu berücksichtigende Variable darstellt.

Eine ausführliche Anamnese, ergänzt durch somatische, neuropsychologische, psychiatrische und selbstreflexive Para-meter sowie eine Arbeitsplatzanalyse sind bei MS Voraussetzung für die realistische Einschätzung von Gefährdungen und Leistungsfähigkeit.

Da die Symptome sich oft überlappen – beispielsweise können Konzentrationsstörungen auf Fatigue, Depression oder auch kognitive Einschränkungen zurückgeführt werden – kommt auch der Differenzialdiagnostik eine Schlüsselrolle zu, um optimale Therapien und Arbeitsplatzanpassungen zu ermöglichen.

Studien legen nahe, dass dies noch nicht ausreichend gelingt: So beziehen etwa 40 % der Multiple-Sklerose-Patienten bei einem durchschnittlichen Alter von 44 Jahren eine Erwerbsminderungsrente (Flachenecker 2008), bei einer vergleichsweise geringen Arbeitslosenquote. Dies lässt schnelle Be-rentungen statt Erhalt der Teilhabe am Arbeitsleben vermuten. Dabei haben Arbeitslosigkeit und frühe Berentungen für die Be-troffenen nachhaltige Auswirkungen: Ein niedrigerer sozioökonomischer Status bis hin zur Armut sowie eine niedrigere Lebensqualität (Schipper 2007; Ziegler et al. 2010).

Aus der klinischen Erfahrung spielt Scham hier eine Rolle: Defizite werden zu verbergen versucht, und es kann zu Teufelskreisen aus Überforderung mit daraus resultierenden Konflikten und Krankschreibungen kommen. Dabei zeigt die Praxis, dass ein offener und entstigmatisierender Umgang mit unsichtbaren Symptomen helfen kann, die Fähigkeiten der Betroffenen realistischer einzuschätzen und zu praktikablen Anpassungen zu finden.

Fatigue

Unter Fatigue wird der subjektiv wahrgenommene Mangel an Energie (physisch, mental) verstanden, der eine Person an der Ausführung von Aktivitäten hindert. Betroffen von dieser Erschöpfung sind etwa 90 % aller MS-Patienten. Das bedeutet: die Wahrscheinlichkeit, Mitarbeiter mit einer Fatigue in der Belegschaft vorzufinden, ist sehr hoch.

Typische Aussagen Betroffener lauten:

  • „Wenn ich den Weg zur Arbeit geschafft habe, bin ich schon reif für eine Pause.“
  • „In der Pause brauche ich Ruhe. An Gespräche mit Kollegen ist nicht zu denken“.

Anhand dieser Aussagen wird deutlich, dass Betroffene eine im Vergleich zu Gesunden deutlich größere Anstrengung aufbringen müssen, um vormals selbstverständliche Leistungen zu erbringen. Das bedeutet aber nicht, dass Berufstätigkeit nicht mehr möglich ist.

Diagnostik

  • Selbstbeobachtung in Form von Tage-büchern/Protokollen
  • Einsatz von Fragebögen wie WEIMUS, FSS, MFIS
  • Klärung von Faktoren, die Einfluss auf die Fatigue nehmen können (z. B. Inkon-tinenz, nächtlicher Harndrang, Spastiken, Schmerzen, Depression)
  • Im Idealfall neuropsychologische Diag-nostik zum Ausschluss kognitiver Faktoren
  • Werden Medikamente eingenommen, die müde machen können?
  • Eventuell schlafmedizinische Untersu-chung (z. B. Schlaflabor): Gibt es schlafbezogene Atem- oder Bewegungsstörungen, die zur Störung der Schlafarchitektur führen (z. B. nächtliche Spastiken, periodische Beinbewegungen)?
  • Wirkt sich ein schlechter körperlicher Trainingszustand verschlimmernd auf die Symptomatik aus?
  • Wirkt sich Hitze verschlimmernd auf die Fatigue aus (Uhthoff-Phänomen)?

Ätiologie

Die Ätiologie der Fatigue ist nicht vollstän-dig geklärt: Diskutiert werden diffuse axonale Schädigungen (z. B. Tartaglia et al. 2004), Atrophien (Marrie et al. 2005; Tedeschi et al. 2007) und im PET dargestellte Verarbeitungsveränderungen (Roelke et al. 1997; Tartaglia et al. 2008). MS-Patienten müssen für vergleichbare Handlungen deutlich mehr Gehirnareale aktivieren als Gesunde. Eine Heilung ist bisher nicht möglich, wohl aber Verbesserungen der Symptomatik.

Behandlung

  • Therapie der verschlimmernden somatischen Faktoren
  • Vermeidung/Verminderung von Medikamenten, die die Fatigue verstärken
  • Medikamentöse Therapieversuche bei vermuteter primär MS-bedingter Fatigue (z. B. SSRI, SNRI)
  • Fatigue-Management/Verhaltensände-rungen durch Selbstbeobachtungen

Fatigue-Management am Arbeitsplatz

  • Durch sorgfältige Analyse kann herausgefunden werden,
    • ob Schwierigkeiten am Arbeitsplatz tatsächlich auf die Fatigue zurückzuführen sind,
    • zu welchen Tageszeiten die Leistungs-fähigkeit besonders hoch bzw. niedrig ist,
    • wie Pausen strukturiert sein sollten, um die Leistungsfähigkeit länger er-halten zu können,
    • ob Anpassungen des Arbeitsplatzes, der Arbeitsabläufe oder des Arbeitsumfanges erforderlich sind,
    • ob Empfehlungen für weitere Fach-ärzte (z. B. Urologe, Neurologe, Schlaf-mediziner) oder Maßnahmen (z. B. Krankengymnastik, Schlaflabor, Aus-dauersport, Kühlwesten etc.) erforder-lich sind,
    • ob es Hinweise auf Gefährdungen gibt.
  • Als hilfreich haben sich folgende Maßnahmen am Arbeitsplatz herausgestellt:
    • anspruchsvolle Tätigkeiten in Zeiträume mit der geringsten Erschöpfung legen, Routinetätigkeiten zu an-deren Zeiten erledigen,
    • regelmäßige Pausen einlegen (ideal: frische Luft und Bewegung),
    • bei Fatigue, die durch Hitze begüns-tigt wird, auf Raumtemperatur achten, evtl. Klimageräte einsetzen,
    • Pausen für Vorgesetzte und Kollegen transparent machen, um Missverständnisse zu vermeiden,
    • Anpassen der Arbeitszeiten im Sinne einer Gleitzeit,
    • Reduzierung der täglichen Arbeitszeit,
    • bei Erkrankten mit Gehbehinderung kurze Wege innerhalb des Betriebes (z. B. vom Parkplatz zum Schreibtisch, zur Toilette),
    • gute, flimmer-/blendfreie Beleuchtung,
    • Belüftung zugluftfrei, aber frisch,
    • Entlastung von Botengängen,
    • Stehhilfen (Stehhocker), wenn Stehen (z. B. am Kopierer) nötig ist,
    • höhenverstellbare Arbeitstische/Ab-lagen,
    • Sitze an motorische Behinderung an-passen,
    • eventuell bewegliche Unterarmauf-lagen für Tastaturen und Computermäuse,
    • unterfahrbares Inventar für Rollstuhlbenutzer,
    • Erreichbarkeit von Schränken etc. vom Rollstuhl aus,
    • evtl. Heimarbeitsplatz,
    • Arbeit so strukturieren, dass häufige Störungen vermieden werden (beispielsweise durch feste Telefonzeiten, Teamsitzungen etc.),
    • Arbeitnehmer unterstützen und er-mutigen, auf eigene Belastungsgren-zen zu achten,
    • Ansprechpartner sein,
    • Vorgesetze und Kollegen bei Bedarf (und Einverständnis des Mitarbei-ters) informieren und aufklären. 

Literatur

Haupts M, Schipper S: Unsichtbare Symptome der Multiplen Sklerose (Hrsg: DMSS-NRW). Senden: DMV Deutscher Medizin Verlag, 2010.

Weiterführende Literatur kann beim Verfasser an-gefordert werden.

    Info

    Exkurs Arbeitszeit

    Die Reduzierung der Arbeitszeit hat ver-schiedene Aspekte, die im Vorfeld bedacht sein wollen. Zunächst bedeutet weniger Arbeitszeit aber auch weniger Einkommen. Darüber hinaus ergeben sich auch Aus-wirkungen auf die Rente, da geringere Rentenbeiträge auch den späteren Renten-anspruch bei der Erwerbsminderungs- bzw. Altersrente verringern können im Vergleich zur Situation bei Vollzeitbeschäftigung. Hierzu sollte der Arbeitnehmer sich schon im Vorfeld von seinem Rententräger be-raten lassen, um ein böses Erwachen zum Rentenzeitpunkt zu vermeiden.

    Unabhängig von den bisher erörterten finanziellen Problemen gibt es auch eine arbeitsrechtliche Komponente. Zunächst einmal gilt die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeitszeit. Diese kann nur einvernehm-lich von Arbeitnehmer und Arbeitgeber geändert werden. Ein Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit besteht nicht uneingeschränkt; der Arbeitgeber kann der Reduzierung zum Beispiel widersprechen, wenn die Interessen des Betriebes dadurch wesentlich eingeschränkt werden.

    Es gibt aber auch einen Weg zur Arbeits-reduzierung bei vollem Lohnausgleich. Kann ein Schwerbehinderter oder ein einem Schwerbehinderten gleichgestellter Arbeit-nehmer seine Arbeitsleistung trotz tech-nischer Hilfsmittel nur noch zu weniger als 2/3 der an diesem Arbeitsplatz üblicher-weise erbrachten Arbeit erbringen, dann kann der Arbeitgeber beim Integrationsamt Minderleistungsausgleich beantragen. Wird der Antrag bewilligt, beträgt die Arbeitszeit des Arbeitnehmers zwar weiterhin die volle vereinbarte Zeit und er bekommt auch das volle Arbeitsentgelt. Das Arbeitspensum des Arbeitnehmers wird jedoch verringert, so dass er mehr Pausen einlegen kann und weniger Belastung erfährt. Der Arbeitgeber erhält für den nicht erbrachten Teil der Arbeit einen finanziellen Ausgleich, so dass ihm dadurch kein Schaden entsteht.

    Info

    Exkurs Heimarbeitsplatz

    Ein Heimarbeitsplatz ist eine Möglichkeit, Belastungen für den Arbeitnehmer zu reduzieren. Die Einrichtung eines Heim-arbeitsplatzes bedarf der Einigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wird ein Heimarbeitsplatz eingerichtet, sollte der Arbeitnehmer aber auf verschiedene Punkte achten. So besteht die Gefahr der „Selbst-ausbeutung“, da man „mal eben“ den Computer starten kann, um zu arbeiten – auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten. Eine weitere Gefahr ist die Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Privatleben, womit neue Belastungen entstehen können. Ein weiterer Problempunkt kann die Rück-bindung an den Stammbetrieb sein. Der Heimarbeiter gerät möglicherweise aus dem Blick der Kollegen, er steht wegen des Heimarbeitsplatzes eventuell außer-halb des allgemeinen Informationsflusses.

    Weitere Infos

    Jobcoaching für Menschen mit MS

    http://www.dmsg-hamburg.de/wp-content/uploads/2014/02/Jobcoachingflyer2014_screen.pdf

    Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V.

    https://www.dmsg.de/

    Multiple Sclerosis International Federation

    https://www.msif.org/

    Für die Autoren

    Dr. med. Dieter Pöhlau

    DRK Kamillus Klinik

    Neurologische Abteilung

    Hospitalstraße 6

    53567 Asbach

    dieter.poehlau@kamillus-klinik.de

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