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Arbeitsgestaltung mittels vitaler ­Daten in der Intralogistik

Produktionsarbeit 4.0

Megatrends wie der demografische Wandel oder die Digitalisierung wirken sich auf unseren Arbeitsalltag aus (Spath et al. 2013). Neben intelligenten digitalen Systemen führen auch neue Tätigkeitsprofile der Beschäftigten oder sich wandelnde Beschäftigungsstrukturen Veränderungen in ungeahnter Geschwindigkeit herbei (Frey u. Osborne 2013, s. „Weitere Infos“). Es bilden sich neue Formen von soziotechnischen Arbeitssystemen, die mit einer Veränderung der Arbeitsorganisation einhergehen (Bauer et al. 2014, s. „Weitere Infos“). Rahmenbedingungen wie eine flexible Gestaltung der Arbeitszeit, eine individuelle Anpassung der Arbeitssysteme an die Bedürfnisse der Mitarbeitenden sowie bedarfsorientierte Weiterbildungen prägen die Produktionsarbeit (Vernim et al. 2016).

Work-Life-Integration statt ­Work-Life-Balance

Vor allem der Begriff einer ausgeprägten Work-Life-Balance findet in den Betrieben immer mehr Beachtung. Sie beschreibt den erfolgreichen Einklang von Berufs- und Privatleben mit dem Ziel, eine dauerhafte Überlastung zu vermeiden und eine Zufriedenheit mit der eigenen Rolle in verschiedenen Lebensbereichen zu ermöglichen. Folglich handelt es sich nicht nur um einen Ausgleich von Berufs- und Privatleben, sondern um eine Verzahnung der verschiedenen Lebensbereiche wie zum Beispiel Beruf, Familie, Gesundheit, Streben nach individuellen Bedürfnissen sowie spirituelle Erfüllung (Schnieder 2013). Durch die Einflüsse der Megatrends verschmelzen die Bereiche zunehmend miteinander und es ist eine Integration anstatt der bisherigen Trennung zu beobachten. In dieser Ausprägung verbinden sich das Berufs- und Privatleben zu einer Einheit, in der kein Unterschied mehr zwischen den Bereichen spürbar ist (Praeg u. Bauer 2017).

Generation Y in der Arbeitswelt

Besonders für jüngere Generationen wie der Generation Y soll der Beruf nicht in Konkurrenz zum Privatleben stehen. Als „Digital Natives“, die mit den neuesten Informations- und Kommunikationstechnologien aufgewachsen sind, haben sie maximalen Gestaltungsspielraum und Flexibilität, um ihr Leben hinsichtlich Bildungs- und Berufswahl sowie Familienplanung individueller zu gestalten als je eine andere Generation vor ihnen (Ewinger et al. 2016). Sie sehen die Arbeitszeit als sinnvoll, erfüllend und anregend an, die ein integraler Bestandteil ihres Lebens ist. Begriffe der ausgeprägten Leistungsorientierung und Privatleben haben somit eine besondere Bedeutung (Signium International 2013, s. „Weitere Infos“). Zusätzlich wird in dieser Generation großen Wert auf einen gesunden Lifestyle mit viel Sport und gesunder Ernährung gelegt (Muntschick 2017, s. „Weitere Infos“). Viele Unternehmen haben die Bedürfnisse dieser Generation bereits erkannt. Flexible Arbeitszeiten oder betriebliches Gesundheitsmanagement werden von Unternehmen für die Mitarbeitenden angeboten, jedoch weitestgehend außerhalb des üblichen Arbeitsumfelds (Ewinger et al. 2016) und hauptsächlich in nichtwertschöpfenden Bereichen wie der Büroumgebung. Aus dem dortigen Alltag sind diese Möglichkeiten nicht mehr wegzudenken (Spath et al. 2013). Die viastore Software GmbH aus Stuttgart nimmt sich dieser Problematik an und bindet nicht nur die sportlichen Interessen der Angestellten in ihre tägliche Arbeit, sondern auch die Work-Life-Integration in das produktive Umfeld ein.

Migrationsunterstützung für die Umsetzung menschzentrierter ­cyber-physikalischer Systeme (CPS)

Im Rahmen des dreijährigen Forschungsprojekts „MyCPS“ entwickelte die viastore Software GmbH ein adaptives Arbeitssystem für operative Intralogistik-Arbeitsplätze, um die Arbeit personalisierbar, attraktiv und motivierend gestalten zu können. Viastore ist ein internationaler Anbieter von Software für Warehouse-Management sowie vernetzte und automatisierte Materialflüsse in der Logistik und der industriellen Fertigung. Zweck des Anwendungsfalls ist die Integration des Menschen im Mittelpunkt zukünftiger Industrie-4.0-Lösungen. Die Mitarbeitenden sollen mithilfe von modernen Endgeräten interaktiv in die Beeinflussung ihres Arbeitsablaufs im Sinne einer besseren Produktionsplanung und -steuerung eingebunden werden (➥ Abb. 1).

Ziel des Forschungsprojekts war die Entwicklung von sieben prototypischen Industrie-4.0-Lösungen in Kernbereichen der industriellen Wertschöpfung. In interdisziplinärer Zusammenarbeit wurden Werkzeuge, Hilfsmittel sowie eine mittelstandtaugliche Handlungsmethodik zur Analyse, Planung, Realisierung und Bewertung von Anwendungsfällen für die erfolgreiche Durchführung von betrieblichen Industrie-4.0-Projekten in Form einer interaktiven Internet-Plattform erarbeitet (s. „Weitere Infos“). Im Mittelpunkt stand dabei immer die Einbindung der Mitarbeitenden in die gemeinsame Gestaltung, Nutzung und Weiterentwicklung der Lösungen, um das notwendige Vertrauen und die Akzeptanz für den Anwendungserfolg aufzubauen.

Heute in der Intralogistik

Bisherige Arbeitsplätze der operativen Intralogistik beinhalten je nach betrieblichem Bedarf unterschiedliche Tätigkeiten an unterschiedlichen Orten. Diese können unterteilt werden in Be-/Entladen von LKWs, Warentransport mit Staplern, Ein-/Auslagern von Waren in Regalen sowie Kommissionieren oder Verpacken von Waren (Arnold 2006). Die Mitarbeitenden sind mit mobilen Kleincomputern ausgestattet, die direkt mit dem Warehouse-Management-System (WMS) vernetzt sind. Über diese mobilen Computer erhalten die Mitarbeitenden eine Liste mit abzuarbeitenden Aufgaben sowie die dazugehörigen Detailinformationen. Die auszuführenden Tätigkeiten sind oftmals repetitiv, und weder die Art der Aufgaben noch der Aufgabeninhalt oder die Pausen orientieren sich an den Präferenzen oder den Beanspruchungssituationen der Mitarbeitenden. Des Weiteren erhalten die Mitarbeitenden üblicherweise kein Feedback über ihre geleistete Arbeit. Der nachfolgend vorgestellte Anwendungsfall stellt ein mögliches Szenario dar, um diese eher negativ wahrgenommenen Aspekte eines operativen Intralogistik-Arbeitssystems zu minimieren und somit weiche Faktoren wie Zufriedenheit oder Motivation zu festigen oder zu steigern.

Personalisiert, attraktiv und ­motivierend

Die Basis für das entwickelte Szenario bilden die von handelsüblichen Fitness-Trackern gesammelten Vitaldaten der Mitarbeitenden. Jeder digitale Fitness-Tracker ist mit Sensoren ausgestattet, die das Messen von körperlichen Aktivitäten, wie beispielsweise das Gehen, oder körperlichen Zuständen, wie den Puls, ermöglichen. Welche Arten von Sensoren in einem Fitness-Tracker verbaut sind, ist von dem jeweiligen Model des Trackers abhängig. In diesem Fall wurde ein Fitness-Tracker des Anbieters fitbit ausgewählt. Die lokal im Tracker gespeicherten Daten werden regelmäßig per Smartphone-App an die Plattform des Tracker-Anbieters zur Speicherung und Auswertung übertragen. Anschließend werden die anfallenden Vitaldaten wie Herzfrequenz, Anzahl der Schritte und geleistete Höhendifferenz mit den im WMS hinterlegten Aufgaben verknüpft. Durch diese Verknüpfung wird der Aktivitätsverlauf nach der erfolgreichen Durchführung der Tätigkeit dokumentiert.

Der Anwendungsfall wurde in zwei Ausbaustufen aufgeteilt, die in ➥ Abb. 2 schematisch dargestellt sind. Die zweite Ausbaustufe basiert auf demselben Aufbau wie die erste. Sie unterscheiden sich lediglich anhand der Fließrichtung der Datenströme. In der ersten Ausbaustufe können die gesammelten Vitaldaten nur von dem jeweiligen Mitarbeitenden eingesehen werden. Dies bedeutet, dass noch keine Daten zum Arbeitgeber fließen. Jeder Mitarbeitende sieht nur seine geleistete Arbeit und seine gesammelten Daten. Erst in der zweiten Ausbaustufe erhält das WMS lesenden Zugriff auf die während des Trainings aufgezeichneten Vitaldaten sowie die angegebenen Trainingsziele der Mitarbeitenden.

Abb. 2:  Schematischer Aufbau der zwei Ausbaustufen
Bild: Fraunhofer IAO
Abb. 2: Schematischer Aufbau der zwei Ausbaustufen

Die Verknüpfung der anfallenden Vitaldaten mit den im WMS hinterlegten Aufgaben in der ersten Ausbaustufe macht die geleistete Arbeit für die Mitarbeitenden transparent und gibt ihnen implizit sinnstiftendes Feedback (➥ Abb. 3). Dieses automatisiert erzeugte Leistungsprotokoll stellt neue Möglichkeiten der Motivationsanregung für die Mitarbeitenden dar. Durch die Nutzung von spielerischen Elementen können sich die Mitarbeitenden selbst innerhalb ihres beruflichen Alltags Trainingsziele in der Fitness-Plattform definieren, die durch die Erfüllung ihrer Tätigkeiten erreicht werden können. Finden sich mehrere Mitarbeitende in Gruppen zusammen, beispielsweise in der Frühschicht, können sich diese Gruppen auch gemeinsame Ziele setzen bzw. mit anderen Gruppen in den Wettbewerb treten. So kann die Erledigung von Aufgaben aus dem WMS unmittelbar mit der positiven Wahrnehmung des eigenen Erfolgs verbunden werden.

Abb. 3:  Personalisiertes Dashboard im WMS
Bild: viastore
Abb. 3: Personalisiertes Dashboard im WMS

In der zweiten Ausbaustufe können nun personenbezogene Daten von Mitarbeitenden zum Arbeitgeber fließen. Durch diese Rückkopplung entsteht ein menschzentrierter Regelkreis aus ausgeführten Aufgaben, entstandener Beanspruchung, zukünftigen Aufgaben und möglichen dynamischen Aufgaben-/Prozessänderungen. Diese Änderungen werden jedoch immer zuerst durch die betrieblichen Notwendigkeiten getrieben, können aber auch auf die persönlichen Präferenzen eingehen.

Der Regelkreis ermöglicht eine Kombination der individuellen Trainingsziele, der während einer Aufgabenausführung aufgetretenen Beanspruchung der Mitarbeitenden sowie der zukünftigen Aufgaben. Hierdurch kann das WMS den Prozess zur Durchführung für die Beschäftigten individuell und zielführend justieren. Einerseits kann das WMS den Mitarbeitenden Tätigkeiten vorschlagen, die sie unterstützen, ihre persönlichen Ziele zu erreichen, andererseits kann es sie vor einer drohenden Überbeanspruchung beispielsweise durch Mikropausen oder einen Tätigkeitswechsel schützen.

Datenschutzkonzept

Neben den technischen und organisatorischen Herausforderungen galt es auch, die datenschutzrechtlichen Herausforderungen zu klären. Entstehende Ängste vor Datenmissbrauch, zum Beispiel durch Überwachung, Leistungskontrolle sowie Jobverlust, müssen mit den zuständigen Interessengruppen kommuniziert und ausgeräumt werden. Hierfür wurde im Projektverlauf ein Konzept entwickelt, um den Fluss der Mitarbeiterdaten kontrollieren zu können. Der „MyCPS-Filter“ funktioniert ähnlich wie eine Firewall und verhindert den direkten, unkontrollierten und nicht protokollierten Zugriff des WMS auf die Vitaldaten der Mitarbeitenden. Die Hoheit über die Daten liegt hierdurch immer beim Mitarbeitenden. Durch frei definierbare Regeln können die Beschäftigten den Filter einfach und transparent selbst öffnen oder schließen. Die Definition der Regeln kann zeitbezogen, über Termine in einem Kalender, ortsbezogen mittels einer Bereichsmarkierung in einer Karte und nutzerkontextbezogen erfolgen. Über logische Operatoren können diese zu Sammelregeln verknüpft werden. Eine mögliche Verknüpfung ist zum Beispiel, dass das WMS nur dienstags zwischen 14:00 und 22:00 Uhr und nur in Werkshalle 3 auf die Vitaldaten zugreifen kann. Der Filter ist integraler Bestandteil des Arbeitssystems und stellt das Bindeglied zwischen den Mitarbeitenden und dem WMS dar. Des Weiteren verfügt der Filter über ein Zugriffsprotokoll. Hierdurch soll die Datennutzung durch das WMS jederzeit transparent für die Mitarbeitenden sein. Im Protokoll stehen chronologisch alle Zugriffsanfragen (wer, wann, welche Daten zu welchem Zweck genutzt hat) zur Verfügung. Dieses Bündel an Funktionen erlaubt es jedem Beschäftigten eigenständig, seine informationelle Selbstbestimmung technisch und transparent gegenüber den möglichen Nutzern durchzusetzen.

Fazit

Das oben beschriebene Beispiel zeigt, wie Berufs- und Privatleben auf dem betrieblichen Hallenboden ineinander integriert und wie sowohl die Ziele der Mitarbeitenden als auch die Ziele des Unternehmens berücksichtig werden. Das Unternehmen entwickelt im Laufe des Forschungsprojekts „MyCPS“ ein adaptives, personalisierbares Arbeitssystem im Bereich Logistik, das die persönlichen Interessen der Mitarbeitenden in den beruflichen Alltag einbindet. Sie lösen die bisherigen Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben auf und ermöglichen den Beschäftigten eine ausgeprägte Work-Life-Integration, die bisher nur aus der Büroumgebung bekannt ist. Der Anwendungsfall bietet ihnen die Möglichkeit, ein sinnstiftendes Feedback zu geben sowie neue Motivationsanreize durch das Erreichen ihrer eigenen Fitnessziele zu setzen. Des Weiteren kann das System die Mitarbeitenden dabei unterstützen, individuelle Trainingsziele zu erreichen und vor einer dauerhaft hohen Beanspruchung zu schützen. Es entsteht ein menschzentrierter Regelkreis.▪

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Arnold D (Hrsg.): Intralogistik. Potentiale, Perspektiven, Prognosen. VDI-Buch. , Berlin: Springer, 2006.

Ewinger D, Ternes A, Koerbel J, Towers I:
Arbeitswelt im Zeitalter der Individualisierung.
Wiesbaden: Springer Gabler, 2016.

Praeg C, Bauer W: Vom Zukunftstrend zum Arbeitsalltag 4.0: Die Zukunft der Arbeit im Spannungsfeld von Work-Life-Separation und Work-Life-Integration. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2017.

Schnieder S: Work Life Balance in Unternehmen – Eine Chance im Wettbewerb um Fachkräfte. Hamburg: ­Diplomica, 2013.

Spath D, Ganschar O, Gerlach S, Hämmerle M,
Krause T, Schlund S: Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, 2013.

Vernim S, Wehrle P, Reinhart G: Entwicklungstendenzen für die Produktionsarbeit von morgen. ZWF – Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb2016: 9: 569–572.

„MyCPS“: Migrationsunterstützung für die Umsetzung menschzentrierter Cyber-Physical Systems, ­Förderkennzeichen: 02P14B133, Laufzeit: 2016–2018.

Für die Autoren
Tim Hornung, M.Sc.
Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement
Universität Stuttgart
Nobelstraße 1270569 Stuttgart
Foto: Fraunhofer IAO
Koautoren
Mitautoren des Beitrags sind Jessica ­Klapper und Sven Schuler, beide Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement, Universität Stuttgart.

Weitere Infos

Bauer W et. al.: Industrie 4.0 – Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland. BITKOM Berlin, 2014

https://www.bitkom.org/sites/default/files/pdf/noindex/Publikationen/2014/Studien/Studie-Industrie-4-0-Volkswirtschaftliches-Potenzial-fuer-Deutschland/Studie-Industrie-40.pdf

Frey CB, Osborne MA: The future of employment. How susceptible are jobs to computerisation? Oxford Martin Programme on Technology and Employment, 2013

http://oxfordmartin.ox.ac.uk/­publications/view/1314

Muntschick V: Megatrend Gesundheit: Was müssen Arbeitgeber leisten? HRM Research Institute GmbH Mannheim, 2017

http://hrm.at/fachartikel/megatrend-gesundheit:-was-m%C3 %BCssen-arbeitgeber-leisten%3F--14613

Signium International: Generation Y – Das Selbstverständnis der Manager von morgen. Signium International Düsseldorf, 2013

https://www.zukunftsinstitut.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Auftragsstudien/studie_generation_y_signium.pdf

Migrationsunterstützung für die Umsetzung menschzentrierter Cyber-Physical Systems

https://mycpstoolbox.de/

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