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Crowdsourcing Projekt „Reden Sie mit!“

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.

Crowdsourcing project “Have your say!” – Practical research priorities for occupational medicine in Austria

The aim of the AAMP project “Unresolved issues in occupational medicine. Have your say!” was to find out which topics should be prioritized with the limited research resources available in Austria. With the help of crowd­sourcing, where, in contrast to traditional research practices, end users rather than scientists set the research topics, a practical research agenda with eight key topics was developed for Austria.

Crowdsourcing Projekt „Reden Sie mit!“ – Praxisnahe Forschungsprioritäten für Arbeitsmedizin in Österreich

Ziel des AAMP-Projekts „Ungeklärte Fragen in der Arbeitsmedizin. Reden Sie mit!“ war es, herauszufinden, welche Themen mit den limitierten Forschungsressourcen in Österreich priorisiert behandelt werden sollen. Mit Hilfe von Crowdsourcing, wo im Unterschied zu klassischen Forschungspraktiken nicht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern Endnutzerinnen und Endnutzer die Forschungsthemen vorgeben, konnte eine praxisnahe Forschungsagenda mit acht Themenschwerpunkten für Österreich entwickelt werden.

doi:10.17147/asu-1-384617

Kernaussagen

  • Mit Hilfe von Crowdsourcing konnte die AAMP eine praxisnahe Forschungsagenda für Österreich entwickeln.
  • Aus 165 Frageneinreichungen wurden 67 Forschungsthemen extrahiert und auf acht prioritäre Fragen verdichtet.
  • Die am höchsten priorisierten Forschungsfragen behandeln die Themenkomplexe Co-Expositionen von Arbeitsstoffen, digitale Methoden in der Arbeitsmedizin und Relevanz alters­bedingter Einschränkungen.
  • Die AAMP plant auf Basis der gesammelten Forschungsfragen ein angewandtes Forschungsprojekt zu dem Thema Möglichkeiten der arbeitsmedizinischen Versorgung im Homeoffice.
  • Gezielter Ressourceneinsatz durch überlegte Prioritätensetzung

    In Österreich gibt es an den insgesamt sieben Medizin-Universitäten nur ein universitäres Forschungsinstitut im Bereich der Arbeitsmedizin. Zur Unterstützung der arbeitsmedizinischen Wissenschaft in Österreich hat es sich die Österreichische Akademie für Arbeitsmedizin und Prävention (AAMP), gemeinsam mit dem Open Innovation in Science Center (OIS), daher zur Aufgabe gemacht, mit dem Projekt „Ungeklärte Fragen in der Arbeitsmedizin. Reden Sie mit!“ zu eruieren, welche gesellschaftlich relevanten Probleme und Themen mit den limitierten Forschungsressourcen1 in Österreich priorisiert behandelt werden sollen.

    Das von Februar bis November 2023 durchgeführte Projekt beinhaltete die Entwicklung einer praxisnahen Forschungsagenda für die Arbeitsmedizin in Österreich, jedoch nicht die wissenschaftliche Untersuchung der daraus abgeleiteten Forschungsfragen. Stattdessen soll die Beantwortung einer der acht am höchsten priorisierten Forschungsfragen in einem weiteren Follow-up-Projekt durch die AAMP erfolgen. Inter­essierte Forschungseinrichtungen können sich an der priorisierten Forschungsagenda orientieren. Bereits wissenschaftlich beantwortete Fragen an die Arbeitsmedizin, deren Antworten im Feld jedoch nicht ausreichend bekannt sind, sollen in weiterer Folge von der AAMP aufbereitet und in zielgruppengerechter Form (z. B. AAMP-Kurse und -Fortbildungen, ÖGA-Kongresse, aufbereitete Informationen für bestimmte Gruppen) verbreitet werden.

    Praxisnahe Forschung durch Crowdsourcing

    Neben der Priorisierung der Forschungsthemen zum Zwecke des gezielten Ressourceneinsatzes war ein zweites, wesentliches Ziel des Projekts, Probleme beziehungsweise Fragestellungen zu identifizieren, die eine hohe praktische Relevanz haben.

    Traditionell entscheiden Forschende oder Förderorganisationen über jene Fragen, die die Forschung beantworten soll. Die Unternehmenswelt hat jedoch vorgezeigt, dass die Einbeziehung von Stakeholdern und Endnutzerinnen/Endnutzern in die Identifikation von Forschungs- und Entwicklungsprioritäten von großem Nutzen sein kann. So lassen sich viele der besten Ideen für neue Produkte und Dienstleistungen quer durch alle Branchen (Telekommunikation, Automobil, Medizintechnik etc.) darauf zurückführen, dass Stakeholder und Endnutzerinnen/Endnutzer bei der Festlegung der F&E-Agenda aktiv beteiligt waren (Grill 2021). Eine Form dieser kollaborativen, nach außen offenen Praxis nennt sich Crowdsourcing. Der Begriff ist eine Zusammensetzung aus den Wörtern „Crowd“ und „Outsourcing“ und umfasst einen interaktiven Arbeitsprozess, der eine große Anzahl meist externer Akteure („Crowd“) involviert. Damit wird die Externalisierung eines zuvor internen Arbeitsprozesses beschrieben („Outsourcing“) (Howe 2006). Gerade in Priorisierungsprojekten, wenn es um die Festlegung von Forschungsprioritäten geht, ist die Einbindung von Endnutzerinnen und Endnutzern sehr vorteilhaft: Dank solcher Projekte können knappe Ressourcen wie Forschungsgelder und wissenschaftliches Personal effektiver genutzt und kritische Evidenzlücken geschlossen werden. Dadurch erhöht sich die Relevanz und Legitimität von Forschung, und spezifisch für den Gesundheitsbereich wirkt sich die Beforschung der priorisierten Forschungsfragen und Themen sowie deren Umsetzung in die Praxis positiv auf die Gesundheit der Menschen aus (Grill 2021). Um einen möglichst hohen praktischen Nutzen der letztlich (durch Follow-up-Projekte) gewonnenen Forschungserkenntnisse zu erreichen, wurde demnach Crowdsourcing zur Sammlung der wichtigsten Forschungsfragen gewählt.

    Methodisches Vorgehen

    Das Kernteam (s. Autorinnen und Autoren dieses Artikels) legte den Rahmen für das Projekt gemeinsam fest und übernahm die operative Umsetzung (z. B. Workshops, Crowdsourcing, Auswertung etc.). Unterstützt wurde es von einer eigens eingerichteten Steuerungsgruppe, bestehend aus
    neun Vertreterinnen und Vertretern aus arbeitsmedizinischer Praxis, Wissenschaft sowie Behörden und Politik2. Die Steuerungsgruppe fungierte beratend und unterstützend dabei, relevante Interessen und wichtige Aspekte bei der Durchführung des Projekts zu beachten und im späteren Verlauf die Priorisierung der gesammelten Fragen zu übernehmen.

    Der methodische Zugang wurde in Anlehnung an die Delphi-Methode entwickelt, die in der arbeitsmedizinischen Literatur bereits in mehreren Arbeiten zur Priorisierung von Forschungsagenden herangezogen wurde (Harrington 1994; Iavicoli et al. 2001; Lalloo et al. 2018; Sadhra et al. 2001; Van der Beek et al. 1997). Das Projekt „Ungeklärte Fragen in der Arbeitsmedizin. Reden Sie mit!“ lässt sich in zwei methodische Teile gliedern:

  • Crowdsourcing: Erstes, offenes Sammeln möglichst vieler, praxisnaher, thematisch breiter Fragen, ohne einen Anspruch auf Repräsentativität erlangen zu müssen.
  • Priorisieren: Identifizieren und Rangreihen der wichtigsten, offenen Forschungsthemen.
  • Crowdsourcing-Teilnehmende

    Zunächst wurden im Rahmen eines Kick-off-Workshops mit der Steuerungsgruppe die Zielgruppen des Crowdsourcing sowie die konkrete Aufgabenstellung an die Crowd definiert. Dieses Treffen wurde außerdem genutzt, um die Kontaktaufnahme mit Schlüsselpersonen zur Bekanntmachung der Crowdsourcing-Kampagne und die Veröffentlichung auf diversen Plattformen zu koordinieren.

    Als Endnutzerinnen und Endnutzer wurden grundsätzlich all jene Personen festgelegt, die ein Interesse an der arbeitsmedizinischen Forschung und ihren Ergebnissen haben. Die Crowdsourcing-Kampagne richtete sich gezielt an folgende fünf Gruppen:

  • Arbeitsmedizinerinnen/-mediziner und Arbeitsmedizinischer Fachdienst (AFa)
  • Arbeitgeberinnen/Arbeitgeber
  • Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer
  • Expertinnen/Experten aus dem Gesundheits- und Sicherheitsmanagement
  • Weitere Expertinnen und Experten aus verwandten Disziplinen wie beispielsweise Public Health, Psychiatrie und Psychologie, Physikalische Medizin sowie Onkologie.
  • Alle Interessierten konnten mit Hilfe eines einseitigen Online-Fragebogens ihrer Meinung nach unbeantwortete Forschungsfragen, kaum beforschte Themen oder Ideen für die Forschung einreichen. Der Online-Fragebogen enthielt aufgrund des Ziels möglichst hoher Zugänglichkeit (kurzer und einfacher Fragebogen) nur drei soziodemografische Variablen (Geschlecht, Alter, und beruflicher Hintergrund) sowie die beiden mit der Steuerungsgruppe entworfenen Crowdsourcing-Fragen:

  • Welche arbeitsmedizinischen Fragen sind für Sie noch immer unbeantwortet?
  • Welche arbeitsmedizinischen Fragen werden Ihrer Meinung nach in der Zukunft eine immer größere Rolle ­spielen?
  • Im Zeitraum Anfang März bis Anfang Mai 2023 wurde der Crowdsourcing-Fragebogen insgesamt 165 Mal vollständig ausgefüllt (Ausschöpfungsquote 14,3 %). Von den 165 Teilnehmenden waren 46 % Frauen und 52 % Männer (2 % gaben kein Geschlecht an). Das Durchschnittsalter betrug 50 Jahre (die jüngste Person war 25 Jahre, die älteste Person 69 Jahre alt). Die Beantwortung des Online-Fragebogens dauerte durchschnittlich 12 Minuten. 71 % aller Teilnehmenden beantworteten beide offenen Crowdsourcing-Fragen; 10 % nur die erste und 19 % nur die zweite offene Crowdsourcing-Frage. ➥ Abbildung 1 zeigt die Verteilung der beruflichen Hintergründe der Befragten.

    Priorisierung der 67 gesammelten Forschungsthemen

    In einem ersten Schritt der Datenbereinigung wurden die Einreichungen zu den beiden offenen Crowdsourcing-Fragen einer übergeordneten Kategorie (i. e. Frage, Kontext für eine Frage, Problem-Statement, Schlagwort) zugeordnet. Im Anschluss wurden aus jeder Einreichung sowohl das Thema (bzw. die Themen) als auch die daraus abgeleitete Frage (bzw. Fragen) extrahiert. In einem letzten Schritt der Datenbereinigung wurden Themen und Fragen aussortiert, die zu formalen oder rechtlichen Rahmenbedingungen gehörten und nicht durch arbeitsmedizinische Forschung untersucht werden können (z. B. „Wie können die Kosten für Arbeitsbildschirmbrillen/Gleitsichtbrillen und Büroausstattung [z. B. höhenverstellbare Tische] überschaubar gehalten werden?“ oder „Wer betreibt in Österreich arbeitsmedizinische Forschung und vor allem, wo gibt es finanzielle Ressourcen dafür?“). Basierend auf dieser Datenbereinigung wurden 67 für die Arbeitsmedizin potenziell relevante Forschungsthemen von den Endnutzerinnen und Endnutzern gesammelt.

    Die Priorisierung der acht relevantesten Forschungsthemen erfolgte durch die Mitglieder der Steuerungsgruppe in mehreren Schritten im Rahmen eines Priorisierungsworkshops:

  • Vorselektion: Schriftliche Vorauswahl der zehn relevantesten Themen ohne Möglichkeit des untereinander Abstimmens; nicht von der Steuerungsgruppe ausgewählte Themen wurden zu diesem Zeitpunkt ausgeschieden.
  • Hoffnungsrunde: Gemeinsame Diskussion der einfach nominierten Themen (Themen, die nur von einer Person der Steuerungsgruppe ausgewählt wurden) und etwaige Aufnahme in die Liste der Toppriorisierten.
  • Einzug in das Finale: Auswahl der acht relevantesten Themen auf Basis der mehrfach nominierten und neu ausgewählten einfach nominierten Themen.
  • Rangreihung der acht relevantesten Themen.
  • Daraus ergab sich die finale Priorisierung der acht als besonders relevant identifizierten, zentralen Fragestellungen (➥ Tabelle 1).

    Diese priorisierten Fragestellungen wurden schließlich gemeinsam mit dem Projektbericht (Grill u. Palfinger 2023) auf der Website der AAMP veröffentlicht und die österreichischen Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner sowie der arbeitsmedizinische Fachdienst über den Newsletter der AAMP informiert. Gleichzeitig wurden diese acht zentralen Fragestellungen von der AAMP in die wissenschaftliche Community getragen, um einerseits zu klären, welche
    Aspekte bereits wissenschaftlich bearbeitet werden und andererseits aufzuzeigen, welche Aspekte noch weitgehend unbeantwortet sind.

    Follow-up-Projekt

    Die aktuelle gesetzliche Regelung des österreichischen ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes zu den Aufgaben der arbeitsmedizinischen Betreuung stellt zwar ein passendes Konzept für „klassische“ Arbeitsplätze und -aufgaben dar, bei denen Beschäftigte an einem festen Arbeitsplatz beziehungsweise einer festen Arbeitsstätte tätig sind. Das Gesetz muss jedoch künftig geänderten Anforderungen durch Flexibilisierung des Arbeitsorts gerecht werden. Die AAMP hat es sich in einem Follow-up-Projekt daher zur Aufgabe gemacht, sich einer Kombination der beiden priorisierten Fragen: „Wie kann sich die Arbeitsmedizin digitaler Methoden bedienen?“ und „Wie wirken sich neue Arbeitsorganisationsformen und neue Technologien auf die Arbeitsmedizin aus?“ zu widmen. Dabei wird der Fokus auf die digitalen Möglichkeiten der arbeitsmedizinischen Versorgung im Homeoffice gesetzt. Hierfür soll zunächst eruiert werden, welche telemedizinischen Angebote es bereits auf dem arbeitsmedizinischen Markt gibt und wo diesbezüglich Probleme beziehungsweise Unterstützungsbedarfe bestehen.

    Die AAMP plant des Weiteren Fortbildungskurse zu identifizierten Themen, die bereits ausreichend erforscht sind, aber für die kein ausreichender Wissenstransfer stattgefunden hat. Insbesondere zwei Fragen deckten im Rahmen des Priorisierungsprozesses Informations- beziehungsweise Kommunikationsbedarfe auf, auch wenn sie selbst nicht relevant für die Forschung sind:

  • Welche Vorsorge wird für die Stimmhygiene für Lehrkräfte getroffen?
  • Wie schaffen wir die Verknüpfung von Arbeitsmedizin und (allgemein-)medizinischer Betreuung nach dem Berufsleben und außerhalb der Arbeitstätigkeit? (Kohortenstudien für Spätfolgen etc.)
  • Interessenkonflikt: Die Autorinnen und Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Literatur

    Harrington JM: Research priorities in occupational medicine: A survey of United Kingdom medical opinion by the Delphi technique. Occup Environ Med 1994; 51: 289–294.

    Howe J: The rise of crowdsourcing. Wired 2006; 14 (6).

    Iavicoli S, Marinaccio A, Vonesch N, Ursini CL, Grandi C, Palmi S: Research priorities in occupational health in Italy. Occup Environ Med 2001; 58: 325–329.

    Lalloo D, Demou E, Smedley J, Madan I, Asanati K, Macdonald EB: Current research priorities for UK occupational physicians and occupational health researchers: A modified Delphi study. Occup Environ Med 2018; 75: 830–836.

    Sadhra S: Occupational health research priorities in Malaysia: A Delphi study. Occup Environ Med 2001; 58: 426–431.

    Van Der Beek AJ, Frings-Dresen MH, Van Dijk FJ, Houtman IL: Priorities in occupational health research: A Delphi study in The Netherlands. Occup Environ Med 1997; 54: 504–510.

    Online-Quellen

    Grill C: Involving stakeholders in research priority setting: A scoping review. Research Involvement and Engagement 2021; 7: 75
    https://doi.org/10.1186/s40900-021-00318-6

    Grill C, Palfinger T: Ungeklärte Fragen in der Arbeitsmedizin – Reden Sie mit! Endbericht (Oktober 2023); LBG OIS Center, Wien, 2023
    https://www.aamp.at/fileadmin/inhalte/04-Projekte/Endbericht_Nov_2023.p…

    Tabelle 1:  Rangreihung der acht priorisierten Fragestellungen

    Tabelle 1: Rangreihung der acht priorisierten Fragestellungen

    Bild: high_resolution - stock.adobe.com

    Koautoren und Koautorin

    Kontakt

    Dr. phil. Sally Bitterl
    Wirtschaftspsychologin; AAMP – Österreichische Akademie für Arbeitsmedizin und Prävention; 1100 Wien

    Foto: AAMP

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