Einleitung
Der Geruchssinn ist evolutionär einer der ältesten Sinne zur Informationsaufnahme und Kommunikation mit der Umwelt. Unter anderem dient der Geruchssinn der Wahrnehmung von Gefahren wie Feuer. Bisherige Forschungsergebnisse verdeutlichen vor allem zwei Bereiche, wobei diese beim Neugeborenen und Säugling eng miteinander verbunden sind. Zum einen spielt der Geruchssinn eine wichtige Rolle bei der Bindung an Bezugspersonen, im Besonderen an die Mutter, zum anderen ist der Geruchssinn wichtig für die Nahrungsaufnahme. Nach der Geburt, wenn die anderen Sinne des Neugeborenen noch nicht ausgereift sind, spielt besonders der Geruchssinn eine entscheidende Rolle. Im Zuge des Heranwachsens des Kindes und gleichzeitiger Verfeinerung des Hör- und Sehsinns tritt der Geruchssinn bei der bewussten Wahrnehmung von Sinnesreizen zurück.
Entwicklung des Geruchssinns
Die Geburt stellt die Transition von intrauterinem Leben zum extrauterinen Leben dar (Mellor 2019). Bereits intrauterin werden Feten auf diese Umstellung vorbereitet. Bei dieser Transition kommt dem Geruchssinn eine besondere Bedeutung zu:
Bereits in der 11. Schwangerschaftswoche sind zilientragende Neurone in der olfaktorischen Mukosa des Fetus nachweisbar, ab der 16. Schwangerschaftswoche ist die Nase geöffnet und Fruchtwasser kann durch die Nase zirkulieren sowie die Riechschleimhaut erreichen; reife olfaktorische Neurone sind ab der 28. Schwangerschaftswoche in der olfaktorischen Mukosa und ab der 32. Schwangerschaftswoche im Bulbus olfactorius nachweisbar (Schaal 1988). Dies sind die anatomischen Voraussetzungen für einen funktionierenden Geruchssinn. Passend hierzu wurde gezeigt, dass einige Frühgeborene ab der 25. Schwangerschaftswoche motorische Reaktionen auf Gerüche zeigen. Die Reaktion nimmt mit der Reife der Frühgeborenen zu und kann ab der 33. Schwangerschaftswoche zuverlässig beobachtet werden. Der Geruchssinn ist also bereits intrauterin funktionsfähig und kann die Geruchs- und Nahrungspräferenz nachhaltig beeinflussen. In das Fruchtwasser können Geruchsbestandteile der mütterlichen Ernährung gelangen und somit dem Fetus im Fruchtwasser als Geruchsreiz dargeboten werden. Es wurde beobachtet, dass Fruchtwasser nach Gewürzen wie zum Beispiel Knoblauch oder Kümmel riechen kann. Neugeborene, deren Mütter in den letzten Wochen der Schwangerschaft bestimmte Nahrungsmittel (z. B. Anis, Karotte, aber auch Alkohol) in großen Mengen konsumiert haben, bevorzugen nach der Geburt den Geruch dieser Nahrungsmittel (Mennella et al. 2001). Neugeborene, deren Mütter diese Nahrungsmittel nicht konsumiert haben, zeigen ablehnende Gesichtsausdrücke als Reaktion auf diese Gerüche. Basierend auf diesen Untersuchungen kann davon ausgegangen werden, dass der Geruchssinn etwa ab der 25. Schwangerschaftswoche funktionsfähig ist und Bestandteile des Fruchtwassers als Geruchsreize vom Fetus wahrgenommen und erlernt werden können.
Der Geruchssinn postnatal
Durch die Geburt kommt das neugeborene Kind in eine neue und zum großen Teil fremde Umgebung mit neuen Sinnesreizen. Gerüche und der Geruchssinn sind bei der Anpassung an diese neue Umgebung von großer Bedeutung. Mit dem Begriff der „transnatalen chemosensorischen Kontinuität“ wird dieser Sachverhalt näher beschrieben. Bei der transnatalen chemosensorischen Kontinuität handelt es sich um eine chemosensorische Überschneidung von Fruchtwasser, Kolostrum und Muttermilch. Dadurch sollen die Transition und das Erlernen der neuen Umgebung für Neugeborene erleichtert werden.
Direkt nach der Geburt bevorzugen Neonaten den Geruch von Fruchtwasser gegenüber dem Geruch der mütterlichen Brust. Erst im Anschluss wird der Geruch von Muttermilch von den Neugeborenen favorisiert – das Bekannte wird von dem Erlernten abgelöst. Basierend auf dem Konzept der chemosensorischen Kontinuität ist das Fruchtwasser für das Neugeborene ein bekannter Geruch. Kolostrum und Muttermilch sind dagegen zunächst neue Geruchsreize. Hierdurch werden mehrere wichtige Funktionen des olfaktorischen Systems im Neugeborenenalter verdeutlicht. Neugeborene können Gerüche unterscheiden, Gerüche bewerten und Gerüche erlernen. Diese Aspekte wurden in weiteren Studien ausführlich gezeigt.
Bereits am zweiten Lebenstag können Neugeborene zwischen dem Geruch der eigenen Mutter und einer fremden Mutter unterscheiden (Marin et al. 2015). Für die Untersuchung von Marin et al. wurde der Schweißgeruch der Mutter verwendet und die Orientierung des Kopfes des Neugeborenen zu diesem Geruch gemessen. Auch reagieren Neugeborene in den ersten Lebensstunden mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken auf Gerüche. Der Geruch von Ei ruft einen ablehnenden Gesichtsausdruck hervor, wohingegen der Geruch von Banane einen positiven Gesichtsausdruck auslöst. Die Neugeborenen in dieser Studie waren nur wenige Stunden alt und hatten keine postnatale Exposition gegenüber diesen Gerüchen. Zunächst wurde vermutet, dass Kinder eine angeborene Präferenz bezüglich bestimmter Gerüche haben. In Anbetracht der oben genannten Beobachtungen, dass Gerüche von Feten intrauterin erlernt und postnatal erinnert werden können, wird eine angeborene Geruchspräferenz jedoch in Frage und einem intrauterinen Lernen gegenübergestellt.
Zusätzlich zu dem oben beschriebenen Konzept der chemosensorischen Kontinuität, können auch nicht-physiologische und fremde Gerüche in der Neonatalzeit erlernt werden. Das Erlernen neuer Gerüche wird durch die Verbindung mit einem positiven oder physiologisch bedeutsamen Reiz verstärkt und erleichtert. So wurde gezeigt, dass Neugeborene den Geruch von Kamille an der mütterlichen Brust in den ersten Lebenstagen erlernen können, sich diesem erlernten Geruch zuwenden und positive Reaktionen im Sinne von Schmatzen zeigen. Auch nach 21 Monaten reagieren diese Kinder mit einer positiven Zuwendung auf den erlernten Kamillegeruch, wohingegen Kinder, die keine Kamille-Exposition in den ersten Lebenstagen erfahren hatten, neutrale bis ablehnende Reaktionen zeigen.
In einer anderen Studie wurde Neugeborenen am ersten Lebenstag ein Zitrusgeruch präsentiert, während die Kinder gestreichelt wurden. Nach Erlernen des Geruchs und der Verbindung zum Streicheln zeigten die Neugeborenen auch dann eine positive Reaktion, wenn ihnen nur der Zitrusgeruch präsentiert wurde.
Auch wenn durch diese Studien gezeigt werden konnte, dass neue und nicht-physiologische Gerüche im Neugeborenenalter erlernt werden können, ist das Erlernen eines physiologischen Geruchs nachhaltiger. Neugeborene, die in den ersten zwei Lebenswochen mit Formelnahrung ernährt wurden, bevorzugen auch nach dieser Zeit weiterhin den Geruch von Muttermilch gegenüber dem Geruch der Formelnahrung.
Klinische Bedeutung des Geruchssinns im Neugeborenenalter
Basierend auf den oben genannten Aufgaben und Funktionen des olfaktorischen Systems im Neugeborenenalter, sollte dieser Sinn bei der Versorgung, besonders von Frühgeborenen, berücksichtigt werden. Im Weiteren wird das Potenzial des olfaktorischen Systems für therapeutische Ansätze beschrieben.
Bei frühgeborenen Kindern kommt es zu einem abrupten Umgebungswechsel. Die bereits erwähnte intrauterine Vorbereitung auf die Transition vom intrauterinen zum extrauterinen Leben ist noch nicht abgeschlossen. Neben den Komplikationen, die eine Frühgeburtlichkeit mit sich bringen kann, kommt es durch den abrupten Umgebungswechsel zu einer Unterbrechung der transnatalen chemosensorischen Kontinuität. Dadurch kann die Adaptation an die neue, extrauterine und in den meisten Fällen unphysiologische Umgebung erschwert sein. Aktuelle Empfehlungen zur Versorgung und Pflege von frühgeborenen Kindern berücksichtigen die Bedeutung der chemosensorischen Informationen für diese Kinder. Frühgeborene sind aufgrund der medizinischen und pflegerischen Versorgung vielen fremden und zum Teil unangenehmen Gerüchen ausgesetzt und werden so zum Beispiel häufig dem Geruch von Desinfektionsmittel exponiert. Die Frühgeborenenversorgung beinhaltet für das Kind unangenehme und zum Teil schmerzhafte Tätigkeiten wie beispielsweise Blutabnahmen oder der Wechsel einer Magensonde. Es wurde gezeigt, dass der Geruch von Desinfektionsmittel eine Aktivierung geruchsverarbeitender Gehirnareale bei Frühgeborenen bewirkt (Frie et al. 2018). Frühgeborene nehmen also ihre Geruchsumgebung wahr, was mögliche Auswirkungen auf spätere Geruchspräferenz und Geruchsverarbeitung haben kann. Der Geruch von Desinfektionsmittel bekommt eine negative Assoziation.
Wie das Beispiel zeigt, kann durch den Geruchssinn eine negative Assoziation zwischen Geruch und Schmerzlernen entstehen. Dieser Aspekt kann jedoch auch positiv verwendet werden. Gerüche können die Schmerzverarbeitung und Schmerzwahrnehmung positiv beeinflussen. Mehrere Studien zeigten, dass schmerzhafte Prozeduren, wie zum Beispiel Blutabnahmen, von Frühgeborenem und reifen Neugeborenen als weniger schmerzhaft wahrgenommen werden beziehungsweise weniger Reaktionen auf einen Schmerzreiz hervorrufen, wenn während der Prozedur der Geruch der Mutter oder Muttermilchgeruch präsentiert wird.
Das Atemzentrum von Frühgeborenen ist noch nicht ausgereift und so kommt es bei ihnen häufig zu einer Störung der Atmung im Sinne von Apnoen. Mehrere Studien zeigten, dass die Atemfrequenz von Frühgeborenen durch Geruchsexposition verändert werden kann. Der Geruch von Buttersäure führt zu einer Abnahme der Atemfrequenz, wohingegen der Geruch von Vanille zu einer Steigerung der Atemfrequenz führt. Letzteres wurde als nicht-medikamentöser Therapieansatz evaluiert. Es wurde eine Verringerung der Apnoe-Frequenz und damit eine stabilere Atmung der Frühgeborenen durch die Präsentation eines Vanille-Geruchs beobachtet (Marlier et al. 2005).
Die Nahrungsaufnahme ist eng mit dem Riechen und olfaktorischen Informationen verbunden. Die Geruchsinformationen sind besonders in der cephalen Phase der Nahrungsaufnahme von Bedeutung und es besteht eine physiologische Verbindung von Nahrungsaufnahme und Geruchsinformationen. Letztere regen den Appetit an, steigern die Speichelproduktion, verbessern den Schluckvorgang und steigern bei Neugeborenen das nicht-nutritive Saugen. Frühgeborene erreichen, bedingt durch mangelnde Kraft und nicht ausgereifte Saug-Schluck-Koordination, noch keine ausreichende orale Nahrungsaufnahme und müssen über eine Magensonde ernährt werden. Dadurch fehlen Geruchsinformationen, die die cephale Phase einleiten könnten. Verschiedene Studien bestätigten, dass durch die Herstellung einer Verbindung zwischen Nahrungsaufnahme und Geruchsinformation die orale Nahrungsaufnahme von Frühgeborenen gefördert werden konnte. Die Verbindung zwischen Geruchsinformationen und Nahrungsaufnahme wird durch regelmäßige Präsentation eines Geruchs vor jeder Fütterung erreicht. So wurde gezeigt, dass durch den Geruch von Muttermilch, aber auch Vanille orale Nahrungsaufnahme gefördert, die Kinder schneller von der Magensonde entwöhnt und früher aus dem Krankenhaus entlassen werden konnten (Schriever et al. 2018).
Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
Mellor DJ: Preparing for life after birth: introducing the concepts of intrauterine and extrauterine sensory entrainment in mammalian young. Animals (Basel) 2019; 9 (10).
Schaal B: Olfaction in infants and children – developmental and functional perspectives. Chem Senses 1988; 13: 145–190.
Mennella JA, Jagnow CP, Beauchamp GK: Prenatal and postnatal flavor learning by human infants. Pediatrics, 2001. 107(6): p. E88.
Marin MM, Rapisardi G, Tani F: Two-day-old newborn infants recognise their mother by her axillary odour. Acta Paediatr 2015; 104: 237–240.
Frie J et al.: Cortical responses to alien odors in newborns: an fNIRS study. Cereb Cortex 2018; 28: 3229–3240.
Marlier L, Gaugler C, Messer J: Olfactory stimulation prevents apnea in premature newborns. Pediatrics 2005; 115: 83–88.
Schriever VA et al.: Sniffin’ away the feeding tube: the influence of olfactory stimulation on oral food intake in newborns and premature infants. Chem Senses 2018; 43: 469–474.
doi:10.17147/asu-1-211439
Kernaussagen
und die Nahrungsaufnahme von Bedeutung.
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