Einleitung
Die Relevanz psychischer Erkrankungen im Kontext Arbeit hat in den letzten Jahren zunehmend Beachtung erfahren. Für Betriebs- und Werksärzte erlangt dadurch neben der medizinischen auch die berufliche Rehabilitation von psychisch erkrankten Arbeitnehmern eine wachsende Bedeutung. In Deutschland ist Rehabilitation für Menschen mit psychischen Erkrankungen eng an die unterschiedlichen Sozialleistungsgebiete und an die stark gegliederte Versorgungskette aus Prävention, Akutbehandlung sowie Rehabilitation und Pflege geknüpft. Betroffene darin zu unterstützen, berufliche Integrationsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen, kann nicht nur mit inhaltlichen, sondern auch mit strukturell-organisatorischen Hürden verbunden sein: Das Rehabilitationssystem ist an vielen Stellen unübersichtlich, die zeitnahe und bedarfsorientierte Umsetzung beruflich-rehabilitativer Maßnahmen dadurch eingeschränkt. Der DGPPN-Teilhabekompass zur beruflichen Integration für Menschen mit psychischen Erkrankungen setzt hier an: Er soll eine Orientierungshilfe für niedergelassene psychiatrisch-psychotherapeutische Fachärzte, Haus- und Allgemeinärzte, Betriebs- und Werksärzte, Ärzte der Gesundheitsämter/sozialpsychiatrischen Dienste sowie im stationären und teilstationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Setting tätige Ärzte sein und diesem Adressatenkreis helfen, Betroffene zeitnah und erfolgreich durch das breite Spektrum beruflicher Integrationsmaßnahmen in Deutschland zu führen. Der Teilhabekompass liegt sowohl in einer Papier- als auch in einer Online-Version vor.
Zielstellung
Rehabilitation ist Aufgabe von vielen Sozialversicherungsträgern nach den Sozialgesetzbüchern (SGB) und ist vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Kosten- und Leistungszuständigkeiten in medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation zergliedert. Dadurch ergibt sich für Betroffene und Professionelle ein nur schwer zu durchdringender Dschungel an Leistungsträgern, Einrichtungen und Maßnahmen (Stengler et al. 2016). Das führt häufig dazu, dass berufliche Integration erst am Ende der Versorgungskette und damit (zu) spät aufgegriffen wird, weil einfach handhabbare und umsetzbare Einsteuerungsmöglichkeiten in das Rehabilitationssystem fehlen (Stengler et al. 2014). Unbefriedigende Integrationsergebnisse mit frühzeitiger Erwerbsminderung und sozialer Isolation insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sind die Folge (Gühne u. Riedel-Heller 2015).
Der hier vorgestellte Teilhabekompass (THK), der im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) entstanden ist, ist als Instrumentarium zu verstehen, mit dessen Hilfe Menschen mit psychischen Erkrankungen auf dem Weg in Arbeit und Beschäftigung unterstützt werden können. Die anvisierte Zielgruppe für den THK sind niedergelassene Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Allgemeinmedizin, Betriebs- und Werksärzte, klinisch tätige Ärzte in psychiatrischen Versorgungseinrichtungen sowie Ärzte in den Gesundheitsämtern bzw. in den sozialpsychiatrischen Diensten. Um den Bedarf an einem Projekt wie dem THK bei der Zielgruppe einschätzen zu können, wurde über den Newsletter der DGPPN ein kurzer Fragebogen verbreitet. An der Beantwortung nahmen 196 Fachärzte teil, die in ihrem Arbeitsalltag Menschen mit psychischen Erkrankungen behandeln. Im Ergebnis zeigte sich, dass der Wunsch nach umfassenden Informationen zum hier behandelten Thema deutlich ist und dass der THK sowohl als Broschüre wie auch in einer Online-Version in der Berufspraxis als unterstützend erlebt werden würde.
Hintergrund
Dass Arbeit nicht nur identitäts- und sinnstiftend sein, sondern auch körperliche Belastungsfaktoren mit sich bringen kann, ist ein bekanntes Phänomen. Ebenso bekannt, aber zu wenig beachtet, ist der Umstand, dass Arbeitslosigkeit ein wesentlicher Risikofaktor für psychische Krankheit ist und andererseits psychische Krankheiten zu Arbeitsunfähigkeit führen können. Das spiegelt sich auch in der Zunahme von Fehlzeiten am Arbeitsplatz aufgrund psychischer Erkrankungen wider: Krankenkassen und unabhängige Analysen berichten seit vielen Jahren durchgängig von steigenden Zahlen. So wird im DAK Gesundheitsreport 2016 deutlich, dass für die letzten 20 Jahre Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen um beinahe das Dreifache gestiegen sind. Während Frühberentungen über alle Krankheitsbilder hinweg eher rückläufig sind, steigen für die psychischen Erkrankungen auch hier die Zahlen stetig an (Robert Koch-Institut 2015).
Daraus ergibt sich vor allem für Betriebs- und Werksärzte eine hohe Verantwortung im Hinblick auf die Rückführung von psychisch erkrankten Arbeitnehmern an den vorherigen bzw. einen besser geeigneten Arbeitsplatz. Die Notwendigkeit einer engeren Kooperation mit dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem ist evident – leider findet das Thema Arbeit jedoch im Kontext der ambulanten, teil- oder vollstationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bislang zu wenig Berücksichtigung. Verzögerungen bei der Inanspruchnahme beruflicher Integrationsmaßnahmen werden dabei augenscheinlich billigend in Kauf genommen. Im internationalen Vergleich haben sich hier zumeist effizientere Zugangswege etabliert: Berufliche Rehabilitation fokussiert dort auf den „First-place-then-train“-Ansatz (Supported Employment, SE; z. B. Burns et al. 2007; Modini et al. 2016), bei dem Betroffene zügig auf dem ersten Arbeitsmarkt platziert werden. In Deutschland ist es jedoch nach wie vor üblich, berufliche Integration vorwiegend nach dem „First-train-then-place“-Ansatz (Pre-Vocational Training, PVT) umzusetzen (Stengler et al. 2016). Das letztgenannte Vorgehen hat in vielerlei Hinsicht seine Berechtigung. Im individuellen Fall sollten jedoch beide Ansätze geprüft werden.
Aufbau, Struktur und Inhalt
Der THK stellt im Überblick sowohl regelfinanzierte berufliche Integrationsmaßnahmen nach SGB IX als auch darüber hinausgehende arbeits- und beschäftigungstherapeutische Angebote vor. Es werden neben den „Maßnahmen“ auch die vermittelnden „Leistungsanbieter“ übersichtlich dargestellt sowie Hinweise auf Modell- und Pilotprojekte gegeben (für letztgenannten Punkt steht die Online-Version wesentlich ausführlicher und mit regionalen Suchmöglichkeiten zur Verfügung). Abgerundet wird der THK durch „prototypische“ Fallvignetten von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, mit deren Hilfe individuelle Vermittlungs- und Zuweisungspfade in berufliche Integrationsmaßnahmen besser nachvollzogen werden können.
Regelfinanzierte Maßnahmen der „klassischen beruflichen Integration“
In diesem Kapitel sind sämtliche regelfinanzierten Angebote der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, die von Akteuren und Leistungsanbietern beruflicher Integrationsmaßnahmen vorbereitet, begleitet und durchgeführt werden und im Wesentlichen im SGB IX verankert sind, zusammengefasst. Die Maßnahmen wurden dabei so angeordnet, dass sie dem möglichen Suchprinzip der Adressatengruppe folgen: Hat der Betroffene ein Arbeitsverhältnis oder nicht? Für jede darunter aufgeführte Maßnahme werden Kurzinformationen bereitgestellt ( Tabelle 1).
Regelfinanzierte Leistungsanbieter der „klassischen beruflichen Integration“
Die hier aufgeführten Leistungsanbieter bieten Betroffenen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an. Das Angebotsspektrum reicht von ausschließlicher Beratung bis hin zur Durchführung entsprechender Maßnahmen (Beispiel siehe Tabelle 2).
Berufliche Integrationsmaßnahmen – nicht primär SGB IX
Neben den klassisch im SGB IX verorteten beruflichen Integrationsmaßnahmen tragen auch weitere Akteure zu einem Gelingen der beruflichen Rehabilitation bei. Diese werden im THK ebenfalls vorgestellt. Neben Projekten im regelfinanzierten Versorgungssystem (z. B. Ergotherapie in einer Psychiatrischen Institutsambulanz) zählen dazu auch forschungsfinanzierte Modellprojekte.
Reha-Verläufe individuell
Um dem Anwender des THK zu verdeutlichen, dass auch Patienten mit vermeintlich wenig aussichtsreichen Bedingungen in berufliche Integrationsmaßnahmen gelangen können, wurden im vierten Abschnitt „typische Reha-Karrieren“ als Fallvignetten aufbereitet. Dabei konnte auf Patientengeschichten aus verschiedenen Einrichtungen des SGB-V-Bereichs (stationär, teilstationär, institutsambulant) und aus dem niedergelassenen Feld zurückgegriffen werden. Zudem wird hier auf das Pilotprojekt „PIA2Work“ der Psychiatrischen Institutsambulanz des Universitätsklinikums Leipzig verwiesen, das sich sehr intensiv im Rahmen des Behandlungsauftrages der PIA-Vereinbarung nach § 118b SGB V um Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen hinsichtlich einer erfolgreichen arbeits- und beschäftigungstherapeutischen Perspektive bemüht (Stengler et al. 2015).
Zusammenfassung
Im Auftrag der wissenschaftlichen Fachgesellschaft DGPPN ist mit dem THK ein Instrument entstanden, das ärztlichen Kollegen, die Menschen mit – insbesondere schweren – psychischen Erkrankungen behandeln, eine Orientierungshilfe im Dschungel beruflicher Integrationsmaßnahmen anbietet. Mit dem THK soll der hohe Stellenwert von (kompetitiver) Arbeit und Beschäftigung im Rehabilitations- und Behandlungsprozess betont werden. Der von den Autoren spezifisch gewählte Adressatenkreis, der sich an entscheidenden Schnittstellen mit Steuerungsmöglichkeiten für den weiteren Verlauf befindet, kann mit den leicht verfügbaren Informationen des THK wesentlich dazu beitragen, dass möglichst frühzeitig im Behandlungsprozess psychisch erkrankte Menschen von Angeboten der beruflichen Integration profitieren. Betroffene sollen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedarfslage im Bereich Arbeit und Beschäftigung bereits im sog. kurativen Behandlungssektor abgeholt werden. Ziel zukünftiger Bemühungen muss es sein, für diese Menschen medizinische, soziale und berufliche Maßnahmen integrativ und ganzheitlich vorzuhalten. In Anbetracht der bevorstehenden Gesetzesänderungen durch das Bundesteilhabegesetz ab Januar 2017 wird es erforderlich sein, den THK fortlaufend an aktuelle politische Neuerungen anzupassen.
Literatur
Burns T et al.: The effectiveness of supported employment for people with severe mental illness: a randomised controlled trial. Lancet 2007; 370: 1146–1152.
DAK-Gesundheit: Gesundheitsreport 2016, Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten, Schwerpunkt: Gender und Gesundheit. medhochzwei, Heidelberg, 2016.
Modini M et al.: Supported employment for people with severe mental illness: systematic review and meta-analysis of the international evidence. Br J Psychiatry 2016; 209(1): 14-22.
Stengler K, Riedel-Heller SG, Becker T: Berufliche Rehabilitation bei schweren psychischen Erkrankungen. Nervenarzt 2014; 85: 97-107.
Stengler K et al.: PIA2work – ein Pilotprojekt zur Förderung von Arbeit und Beschäftigung im Kontext einer Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA). Posterpräsentation, DGPPN Kongress 26.11.2015.
Stengler K et al.: DGPPN-Teilhabekompass zu beruflichen Integrationsmaßnahmen für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Nervenarzt 2016: 1–6.
Weitere Infos
Gühne U, Riedel-Heller S: Die Arbeitssituation von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in Deutschland. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (Hrsg.), Berlin, 2015.
Robert-Koch-Institut: Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis. RKI, Berlin, 2015.
Für die Autoren
Dipl.-Psych. Jana Rauschenbach, M.A.
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
AG Psychosoziale Forschung
Universitätsklinikum Leipzig AöR
Semmelweisstr. 10,
04103 Leipzig