Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Die Schere der sozialen Ungleichheit droht durch die Folgen der Corona-Krise weiter aufzuklappen

Psychosoziale Folgen der ­Corona-Pandemie

ASU: Herr Professor Seidler, Sie sind Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention – welche Ziele verfolgt Ihre Gesellschaft?

Prof. Seidler: Soziale Einflussfaktoren spielen eine bedeutsame Rolle, wenn es darum geht, gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden. Salomon Neumanns Satz aus dem Jahr 1847 kann gewissermaßen als Leitmotiv der DGSMP gelten, sinngemäß: „Medizin ist eine soziale Wissenschaft“. Deutschland ist bisher vergleichsweise gut durch die Corona-Pandemie gekommen. Auch hinsichtlich der akuten Versorgung von Corona-Erkrankten steht Deutschland im Vergleich gut da. Das darf aber über eine ausgeprägte gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland nicht hinwegtäuschen: Menschen mit einem niedrigen Sozialstatus sterben durchschnittlich bis zu 12 Jahre früher als Menschen mit einem hohen Sozialstatus. Diese „Schere“ droht durch die Folgen der Corona-Krise und die erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie noch weiter aufzuklappen. Dem möchte die DGSMP, dem müssen wir alle gemeinsam entgegenwirken.

ASU: Sie beschäftigen sich auch mit den indirekten gesundheitlichen Folgen der Corona-Krise, ausgelöst etwa durch psychische Belastungen, Existenzängste oder auch besondere Belastungen in der Familie.

Prof. Seidler: Unsere Fachgesellschaft DGSMP gehört zu den Gründungsmitgliedern des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19. Im Kompetenznetz beschäftigen wir uns umfassend auch mit den indirekten gesundheitlichen Folgen der Kontaktbeschränkungen. Wir stellen fest, dass soziale Isolation zu psychischen Erkrankungen führen und bei älteren Menschen sogar ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko mit sich bringen kann. Ohne Frage ist bei der Lockerung der zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Maßnahmen Vorsicht geboten, um einen erneuten Anstieg der Erkrankungszahlen zu verhindern. Bei der Entscheidung über die Vordringlichkeit einzelner Maßnahmen müssen die indirekten Folgen immer mitbedacht werden. Das Wohl benachteiligter Kinder ist vordringlicher als das Wohl von Autohäusern.

ASU: Das Gesundheitssystem wurde massiv aufgerüstet. Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte und auch Testkapazitäten stehen nun ausreichend zur Verfügung, Arbeitsschutzmaßnahmen wurden und werden angepasst. Wie gut ist unsere Gesellschaft auf die indirekten gesundheitlichen und sozialen Folgen wie psychische Erkrankungen, Gewalt in Familien oder drohende Armut als Folge der Pandemie vorbereitet?

Prof. Seidler: In unserer schnelllebigen Zeit ist zu befürchten, dass nach Überwindung der Corona-Pandemie – spätestens nach Verfügbarkeit eines Impfstoffs und einer wirksamen Behandlung – neue Themen in den Vordergrund geraten. Viele indirekte gesundheitliche Folgen treten aber nicht akut, sondern allmählich – gewissermaßen chronisch – auf. Dazu gehören die Folgen von Armut, Gewalt in der Familie, psychischen Erkrankungen durch soziale Isolation. Dazu gehören aber auch Folgen von unterbliebener medizinischer Versorgung oder unterbliebener Vorsorge – teilweise aus Angst von Patientinnen und Patienten, sich in der Arztpraxis oder in der Klinik mit dem Coronavirus anzustecken. Wir werden uns also auf längere Sicht um die gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie kümmern müssen. Zeit zur Vorbereitung auf viele indirekte Folgen besteht noch – diese Zeit müssen wir jetzt nutzen.

ASU: Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, damit auch psychosoziale Folgen abgemildert werden können?

Prof. Seidler: Soziale Unterstützung benötigen all diejenigen, die aufgrund der Corona-bedingten Maßnahmen in wirtschaftliche Notlage geraten sind – das sind Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen oder in plötzlicher Arbeitslosigkeit, das sind auch Selbstständige, denen die Geschäftsgrundlage weggebrochen ist. Aber auch an bestehenden Arbeitsplätzen haben sich die Arbeitsbedingungen häufig verändert: Die Arbeit hat sich beispielsweise in einigen Bereichen des Gesundheitswesens verdichtet, die Work-Life-Balance ist häufig in Schieflage geraten, die rasche und häufig unvorbereitete Umstellung auf digitale Arbeit kann zu einer Informationsüberflutung führen (wir sprechen auch von „Techno-Stress“). Hier bedarf es einer anlassbezogenen Gefährdungsbeurteilung in den Betrieben. Darauf aufbauend kommen verschiedene Maßnahmen infrage: Bei Informationsüberflutung und „Techno-Stress“ können klare Regelungen (z.B. zum Umgang mit E-Mails), ausreichende Schulungen im Umgang mit neuen digitalen Technologien und ein funktionierender technischer Support vor Überbeanspruchungen schützen.

Das 2015 verabschiedete Präventionsgesetz hat der Prävention in beruflichen und außerberuflichen Lebenswelten zu Recht eine höhere Bedeutung eingeräumt. Die Corona-Krise darf nicht dazu führen, dass Präventionsleistungen abgebaut werden. Im Gegenteil: Maßnahmen der Prävention, der Gesundheitsförderung wie auch der Rehabilitation können dazu beitragen, indirekte gesundheitliche Folgen auszugleichen oder zumindest abzumildern. Wenn Kontaktbeschränkungen traditionelle Präventionsangebote nicht zulassen, können diese durch „kontaktlose“ – telepräventive oder telerehabilitative – Angebote teilweise ersetzt werden. Für die Zeit der Corona-Krise gilt: Wir brauchen kein Weniger, sondern ein Mehr an Prävention und Gesundheitsförderung!

ASU: Welche Bevölkerungsgruppen sind Ihrer Meinung nach besonders von den psychosozialen Folgen der Pandemie betroffen?

Prof. Seidler: Besonders gefährdet sind ältere Menschen, Familien mit Mehrfachbelastungen durch Arbeit, Kinderbetreuung und gegebenenfalls Pflege von Angehörigen, Personen mit Vorerkrankungen (auch Menschen, an die man in Bezug auf die Corona-Krise nicht sofort denkt: beispielsweise Menschen mit Hörbeeinträchtigungen, deren Sprachverständnis durch die Maskenpflicht deutlich erschwert wird), Wohnungslose. Häufig bereits traumatisierte Menschen in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete sind durch die Corona-bezogenen Maßnahmen besonders belastet.

ASU: Sehen Sie die Gefahr, dass ältere und chronisch kranke Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ins Hintertreffen geraten, weil Sie gegebenenfalls stigmatisiert werden?

Prof. Seidler: Seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen in Deutschland wurden vielfach Beschäftigte im öffentlichen Dienst – unter anderem Lehrerinnen und Lehrer – ab einem Alter von 60 Jahren dazu angehalten, zuhause zu bleiben. Begründet wurde dies mit dem besonders hohen Risiko Älterer für einen schweren Krankheitsverlauf im Falle einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus. Eine pauschale Gleichsetzung von Personen über 60 Jahren mit Personen, die an teilweise schweren Vorerkrankungen leiden, erscheint willkürlich und unverhältnismäßig. Die undifferenzierte Einstufung über 60-jähriger Beschäftigter als Risikogruppe kann einer Stigmatisierung Älterer Vorschub leisten, kann erhebliche biografische Einschnitte, psychische Probleme und nicht zuletzt auch ökonomische Notlagen mit sich bringen. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass die mit dem selektiven Fernbleiben älterer Beschäftigter vom Arbeitsplatz vielfach verbundene soziale Isolation grundsätzlich zu depressiven und posttraumatischen Belastungssymptomen führen kann. Allgemeine Lösungsansätze können nicht im selektiven Fernhalten älterer Beschäftigter vom Arbeitsplatz liegen. Vielmehr ist ein Niveau des Arbeitsschutzes zu gewährleisten, das älteren Beschäftigten – wie auch Beschäftigten mit Risikofaktoren und gegebenenfalls auch Vorerkrankungen – nach verantwortbarer Lockerung der Infektionsschutzmaßnahmen die Teilhabe am Arbeitsleben auch in den Zeiten von COVID-19 ermöglicht.

ASU: In vielen Branchen geht die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes um, was sich auf die Gesundheit negativ auswirken kann. Wie sollten Unternehmen Ihrer Meinung nach mit diesen Ängsten umgehen?

Prof. Seidler: Arbeitsplatzunsicherheit kann mit klassischen Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der Arbeitsgestaltung schwerlich entgegengewirkt werden. Hier liegt aktuell eine wichtige gesellschaftspolitische und arbeitsmarktpolitische Aufgabe. Auf betrieblicher Ebene sind hinreichende Information und Transparenz, soziale Unterstützung sowie konkrete Unterstützungsmaßnahmen wichtig.

ASU: Schulen und Kitas sind nur zum Teil geöffnet. Eine verlässliche und durchgehende Kinderbetreuung und Beschulung sind derzeit nicht möglich. Es sind vor allem die Mütter, die die Doppelbelastung Kinderbetreuung und Arbeit tragen. Wie kann man hier gegensteuern?

Prof. Seidler: Die Work-Life-Balance kann dann leichter wieder ins Lot kommen, wenn allgemein – von Seiten der Arbeitgeber, der Beschäftigten und der Familienangehörigen – akzeptiert wird, dass unter den gegebenen Umständen nicht alle Rollenerwartungen – als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer, Kinder- und Angehörigenbetreuender, Lehrkraft der Kinder – im üblichen Umfang erfüllt werden können. Die schrittweise Wiedereröffnung von Kitas und Schulen ist sinnvoll, um die Vereinbarkeit von beruflichen und familiären Anforderungen zu fördern – und hat eine höhere Priorität als die Wiederzulassung von Großveranstaltungen.

ASU: Viele Unternehmen haben ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis auf Weiteres ins Homeoffice geschickt. Neben zahlreichen positiven Aspekten bringt dies aber auch die Gefahr der sozialen Isolation mit sich. Wie kann Ihrer Meinung nach die Arbeit im Homeoffice optimal gestaltet werden?

Prof. Seidler: Auch zu diesem Punkt möchte ich auf unmittelbar praxisrelevante Ergebnisse des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 hinweisen. Die angesprochenen Maßnahmen zur Verhinderung einer Informationsüberflutung (also u.a. eine angemessene technische Ausstattung, verständlicher technischer Support) sind gerade auch für die Arbeit im Homeoffice von hoher Bedeutung. Es ist wichtig, die Kommunikation zwischen den Homeoffice-Beschäftigten aufrechtzuerhalten. Die alleinige Kommunikation per E-Mail ist zu vermeiden. Die Aufgabenverteilung sollte zur Kooperation anregen, beispielsweise durch die Vergabe von gemeinsam zu bearbeitenden Aufgaben.

ASU: Jede Krise bringt auch eine Chance mit sich. Welche Chancen sehen Sie als Folge der Corona-Pandemie?

Prof. Seidler: Eine stärkere Digitalisierung der Arbeit, eine bessere Integration des Homeoffice in die Arbeitsabläufe bietet die Chance auf mehr Flexibilität – dies kann (muss aber nicht) die Work-Life-Balance verbessern. Ein weiterer wichtiger Punkt: Aus den erschreckenden Erfahrungen mit der akuten Überlastung der Gesundheitsversorgung unter anderem in Italien wird deutlich, dass die gesundheitliche Versorgung nicht allein unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann und darf. Wir brauchen Kapazitätsreserven im Gesundheitswesen zur Bewältigung solcher unvorhersehbarer Krisen – auch wenn sich die Bereitstellung dieser Kapazitätsreserven außerhalb von Krisenzeiten nicht „rechnet“. Und wir brauchen einen starken Öffentlichen Gesundheitsdienst – dessen nachhaltige Stärkung und dessen Ausbau müssen jetzt angegangen werden – die hohe Bedeutung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sollte uns eine zentrale Lehre aus der Corona-Krise sein!

ASU: Wir bedanken uns für das Gespräch.

Anmerkung der Redaktion

Weitere Informationen zum Kompetenznetz Public Health ­COVID-19 finden sich unter
https://www.public-health-covid19.de/

Jetzt weiterlesen und profitieren.

+ ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
+ Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
+ Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

Premium Mitgliedschaft

2 Monate kostenlos testen

Tags