Schwere körperliche Arbeit ist nicht verschwunden!
Im letzten Jahrzehnt hat die Produktion mit dem Schlagwort „Industrie 4.0“ in der deutschen Wirtschaft einen Siegeszug angetreten. Es könnte daher vermutet werden, dass fast alle Arbeitstätigkeiten in der Produktion digitalisiert und automatisiert ablaufen. Dem ist aber nicht so! Nicht-automatisierbare Arbeiten, vor allem in der Materialbereitstellung, der Werkstückzufuhr sowie in vielen logistischen Bereichen, erfordern manuelle Verrichtungen mit zum Teil sehr hohen physischen Belastungen, die aus Körperhaltungen, Lastenhandhabung und Krafteinsatz resultieren.
Bei einer Befragung der BGHM (Berufsgenossenschaft Holz und Metall) von 20.000 Erwerbstätigen wurde nach Beschwerden bei oder unmittelbar nach der Arbeit gefragt. Vierzig Prozent der Männer klagten über Schmerzen im unteren Rücken, 37% über Schmerzen im Nacken-/Schulterbereich. Bei den Frauen hatten 45% Schmerzen im unteren Rücken und fast 58% Schmerzen im Nacken-/Schulterbereich. Die DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) sieht die Muskel-Skelett-Erkrankungen als „wichtiges Gesundheitsproblem“. Demnach müssen 78% der europäischen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber täglich mit den Folgen in ihren Unternehmen umgehen, denn Krankmeldungen, Motivationsverlust, Arbeitsunfähigkeit und Frühberentungen verursachen hohe Kosten.
Hebehilfen können den Menschen bei schwerer körperlicher Arbeit durch Heben, Halten und Tragen entlasten. Deren Auswahl, Anschaffung und Einsatz ist jedoch nicht trivial. Hier sind einige Prüfpunkte, die zu beachten sind:
Viele Arbeitsobjekte scheinen sich einer Handhabung durch Hebehilfen zu entziehen, da ihre technische Manipulation nicht trivial ist. So zum Beispiel auch großformatige Bleche.
Das folgende Fallbeispiel zum Einsatz eines Vakuumhebers für großformatige Bleche zeigt jedoch eine Lösung.
Blechhandhabung im Ist-Zustand
Eine Laserschneidanlage soll mit Großformatblechen beschickt werden. Die gängigen Blechstärken in diesem Segment erstrecken sich üblicherweise von 0,8–20 mm, das können – je nach Abmessung der Blechtafeln – im schlechtesten Fall bis 720 kg Einzelgewicht sein. Als Beispiel wird eine Blechstärke aus dem unteren Drittel angenommen. Die Bleche weisen das Format 1500 × 3000 mm, t = 5 mm, auf, das entspricht bei Stahlblech einem Gewicht von ca. 180 kg. Die Bleche befinden sich auf einem Palettenstapel in Nähe der Laserschneidanlage (2–3 m Weg). Hier können also entweder vier Personen mit Spezialhandschuhen an den vier Ecken die Beschickung übernehmen oder aber ein Gabelstapler hebt den Stapel auf das Tischniveau und zwei Werker versuchen, das Blech in einer Relativbewegung auf den Tisch zu platzieren (auch hier sind also drei Werker erforderlich). Achtung: Bei geölten Blechen treten häufig starke Adhäsionskräfte auf, die dann nur mühsam oder gar nicht überwunden werden können. Legt man einen Schneidzyklus von 20 min zugrunde, erfolgt diese Tätigkeit dreimal pro Stunde. Nach der Beschickung der Schneidanlage können die Beschäftigten andere Tätigkeiten ausführen, was im Sinne eines Belastungswechsel sinnvoll ist. Es bleiben jedoch die extremen Lastgewichte von etwa 45 kg pro Person und die hochbelastenden gebeugten und verdrehten Körperhaltungen beim Aufnehmen der Bleche von Palette.
Blechhandhabung im neuen Soll-Zustand
Eine „klassische“ Hebehilfe mit mechanischen Greifern scheidet hier aus, da die Greifer nicht unter die Blechtafel eingeschoben werden können. Infrage kommt allerdings ein Vakuumheber (➥ Abb. 1).
Mit dem Vakuumhebegerät wird eine Person in die Lage versetzt, ohne Einsatz von Muskelkraft den Arbeitsgang zu bewältigen (siehe auch Infokasten links).
Andere Leitmerkmalmethoden (Körperzwangshaltung LMM KH oder manuelle Arbeitsprozesse LMM MA) weisen ebenfalls auf eine sehr geringe körperliche Belastung hin.
Fazit
Lastenhandhabung von nur schwer greifbaren Arbeitsobjekten mit hohen Lastgewichten sollten auf keinen Fall manuell durchgeführt werden. Auch der Einsatz mehrerer Personen schützt nicht vor Verletzungen und langfristig wirkenden Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems. Durch den Einsatz lediglich eines Beschäftigten für Hub- und Transportvorgänge mit einem Vakuumheber ergeben sich niedrige Arbeitskosten und eine kurze Amortisationsdauer.
Interessenkonflikt: Der Autor ist bei der AERO-LIFT Vakuumtechnik GmbH beschäftigt.
Weitere Infos
Gefährdungsbeurteilung mit den Leitmerkmalmethoden
www.baua.de/leitmerkmalmethoden
Beispiel
Überschlägige Berechnung der Lastenhandhabung
mit der Leitmerkmalmethode LMM HHTn
Im Ist-Zustand mit allein manueller Handhabung
Es wird LMM HHT in der Version von 2019 eingesetzt.
Bestimmung der Zeitwichtung: etwa 20-mal pro Schicht 1,5 Punkte
Bestimmung der Lastwichtung: L > 40 kg 100 Punkte
Lastaufnahmebedingungen: beidhändig und symmetrisch 0 Punkte
Körperhaltung Start/Ziel: stark gebeugt/aufrecht bis leicht gebeugt 10 Punkte
Gelegentliche Rumpfverdrehung bzw. -seitneigung: 1 Punkt
Hände häufig körperfern: 3 Punkte Kraftübertragung erheblich behindert: ölig 2 Punkte
Erschwernis durch Tragen über 2 m 2 Punkte
Belastungswechsel ist gegeben 0 Punkte
Daraus ergibt sich ein Gesamtpunktwert nach Multiplikation bzw. Addition gemäß Vorschrift LMM HHT von 180 Punkten.
Dieser Punktwert ist der („tiefroten“) Risikokategorie 4 (≥ 100 Punkte) zuzuordnen. Eine körperliche Überbeanspruchung ist wahrscheinlich, mit Beschwerden und gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist zu rechnen. Maßnahmen zur Arbeitsgestaltung sind unmittelbar erforderlich.
Im neuen Soll-Zustand mit Vakuumheber
Durch den Wegfall des Lastgewichts kann an und für sich die Leitmerkmalmethode HHT nicht mehr angewendet werden. Setzt man trotzdem als Lastgewicht den Minimalwert ein, so erhält man (für Männer) einen Gesamtpunktwert von 9. Dies entspricht der niedrigsten (grünen) Risikokategorie. Körperliche Überbeanspruchungen sind unwahrscheinlich.
Die Tätigkeit mit dem Vakuumheber könnte auch von Frauen durchgeführt werden. Auch dort liegt mit 12 Punkten der niedrigste Risikobereich vor.