Erzwungene Migration – etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist davon betroffen
Der Fachkräftemangel in der Gesundheitswirtschaft betrifft zwar weltweit die Mehrzahl aller Länder, Hintergründe und Auswirkungen unterscheiden sich oft aber erheblich voneinander. Vom 22. bis zum 24. Oktober analysierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner sowie Ärztinnen und Ärzte auf dem OHHW 2019 (Occupational Health for Health Workers) in Hamburg die Situation der Gesundheitsfachkräfte in den einzelnen Staaten. Deutlich wurde dabei auch, wie sehr sich die Gesundheitssysteme durch globale Vernetzung gegenseitig beeinflussen und wie wichtig interkulturelle Kompetenzen sowie gemeinsames Handeln sind. Organisiert wurde der OHHW 2019 für die rund 190 Teilnehmenden unter anderem vom International Committee for Occupational Health (ICOH) und vom Scientific Committee for Occupational Health for Health Workers (SCOHHW) sowie der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS). Die Keynote Speaker der Konferenz kamen aus Afrika und Südamerika, Asien, Nordamerika und Europa.
Etwa 57 % der Länder erleben derzeit Kriege sowie humanitäre oder ökonomische
Krisen. Die Migration, die dadurch zwangsweise ausgelöst wird, betrifft aktuell etwa ein Drittel der Weltbevölkerung. Auf die Gesundheitsfachkräfte wirkt sich das besonders aus. Sie arbeiten in Krisengebieten, übernehmen die gesundheitliche Versorgung von Migrierten und zählen dabei oft selbst zu den Vertriebenen. Hinzu kommt, dass sie mit einer zunehmenden Gewalt gegenüber medizinischen Fachkräften konfrontiert sind, mit fehlendem Gesundheits- und Arbeitsschutz sowie mit Schwierigkeiten bei der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus ihren Herkunftsländern.
Gesundheitssektor – Wachstumsbranche mit erheblichen Belastungen für „Health Workers“
Gleichzeitig gehört der Pflege- und Gesundheitssektor zu den Branchen, die weltweit am stärksten wachsen. Der WHO zufolge sind die Beschäftigten zu 80 % weiblich. Zu den „Health Workers“ zählen dabei sämtliche Personen, die im Gesundheitswesen arbeiten: ärztliches Fachpersonal, Pflegekräfte, therapeutisches, pharmazeutisches und soziales Fachpersonal, Angehörige des Managements, aber auch Studierende oder Hauswirtschaftskräfte. „Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sind in kaum einer Branche häufiger,“ erklärte Gwen Brachmann, die Vorsitzende des SCOHHW. Fast überall ist zum Beispiel der Alltag der Pflegenden mit erheblichen Belastungen verbunden, die die Psyche ebenso wie auch das Muskel-Skelettsystem betreffen. Zu den Risiken gehören außerdem die Gefahr der Ansteckung beispielsweise mit TB, HIV/AIDS, SARS, Ebola oder Hepatitis, Kontakt mit chemischen Substanzen wie unter anderem Formaldehyd, Ethylen und eben auch Gewalterfahrungen, Belastungen durch Schichtdienste und Stress. Dabei müsse man sich darüber im Klaren sein, dass es „kein funktionsfähiges Gesundheitssystem ohne gesunde Fachkräfte“ geben kann,“ sagte Brachmann.
Antoon De Schryver vom SCOHHW forderte angesichts dieser Situation „eine neue Kultur der Prävention“, die auch das Ablegen gefährdender Verhaltensweisen umfasst. In Krisengebieten kommt jedoch oft erschwerend hinzu, dass den Fachkräften Kenntnisse für einen funktionierenden Arbeitsschutz unter den Bedingungen vor Ort fehlen, beispielsweise, wenn es darum geht, Infektionen zu verhindern.
WHO: “Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personal”
Selbst wenn der globale Mangel sich nicht wegdiskutieren lässt, sei zu berücksichtigen, dass Daten international unterschiedlich verfügbar seien und dass es verschiedene Methoden gebe, sie zu erheben, sagte Christiane Wiskow, ILO Switzerland. Trotzdem treten einige Fakten recht deutlich hervor. Frauen arbeiteten so etwa vorwiegend im unteren Bereich der Hierarchie; die Kluft zeige sich auch in einer im Vergleich zu Männern schlechteren Bezahlung. Fast überall gebe es eine Ungleichheit im Zugang zu Gesundheitsleistungen. Vor allem in armen Ländern fehlen Gesundheitsfachkräfte, ein Mangel, der sich in ländlichen Gebieten noch stärker zeigt. In vielen Ländern sei das Gesundheitswesen die Branche mit den meisten Beschäftigten. In Europa seien Gesundheitsfachkräfte hohen psychischen Belastungen ausgesetzt. Aufgrund des Personalmangels in den Einrichtungen müssten sie teilweise bis zu sieben Tage in der Woche funktionieren und lange Dienste in Kauf nehmen. Dies führt dann zu Ermüdung, Motivationsverlust, zu häufigeren Unfällen und Fehlern. Letztlich also zu einer Verschlechterung der Behandlungsqualität für die Erkrankten. Es müsse ein Ziel für alle sein, „produktive Arbeitsplätze in Freiheit, Sicherheit und sozialer Würde“ zu schaffen, erklärte Christiane Wiskow.
Stefan Brandenburg, Hauptgeschäftsführer der BGW, der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, verwies auf die ethischen Aspekte bei der Anwerbung von Gesundheitspersonal aus dem Ausland. Um einen „Care Drain“ zu vermeiden, habe die WHO mit dem „Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personal“ einen Verhaltenskodex herausgegeben, der auch für die Bundesregierung verbindlich sei. Dieser Kodex sieht vor, dass die Mitgliedstaaten in Ländern mit Fachkräftemangel darauf verzichten, aktiv Personal anzuwerben.
Gesundheitsfachkräfte und weltweite Migration
Angesichts der forcierten, durch Krisen verursachten Migrationsbewegungen, müssen Gesundheitssysteme neu und vor allem auch grenzüberschreitend gedacht werden, forderte Fouad M. Fouad, American University of Beirut, Libanon. Was geschieht mit Gesundheitsfachkräften, die vertrieben werden? Wie kann das Recht von Migrierten auf Gesundheitsversorgung gewährleistet werden? Hier spielt auch die Behandlung von chronischen Krankheiten und Gesundheitsproblemen noch aus den Herkunftsländern häufig eine Rolle.
Schätzungen des UN-Flüchtlingsrates zufolge befindet sich ein Großteil der Geflüchteten in Ländern mit niedrigem Einkommen. Konzepte zur Gesundheitsversorgung orientieren sich viel zu oft an der Staatsbürgerschaft. Der Zugang zur Leistung wird auch durch finanzielle Hürden erschwert – im Libanon zum Beispiel durch einen Grundbetrag, der bei der Registrierung im Ankunftsland hinterlegt werden muss. Gleichzeitig erhalten Gesundheitsfachkräfte unter den Geflüchteten oft keine offizielle Erlaubnis ihren Beruf auszuüben. Im Libanon führe dies zu einer komplexen „Schattenwirtschaft“, in der „informelle Gesundheitsdienste“ von syrischen Fachkräften angeboten werden, die Verantwortlichkeiten aber unklar bleiben. Es sei zu klären, welche Rechte Migrierte in den unterschiedlichen Ländern haben und auch wie sich Gesundheitssystem und Migration gegenseitig beeinflussen.
Fehlende Ressourcen
Der Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich zeigt sich in Ländern mit höherem Einkommen vor allem vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung – mehr älteren und pflegebedürftigen Menschen stehen hier immer weniger Pflegende gegenüber. In ärmeren Ländern entsteht er häufig auch durch „Care Drain“, verursacht durch die Abwanderung von Fachkräften in Länder, die bessere Arbeitsbedingungen versprechen oder durch erzwungene Migration. Acran Salmen-Navarro New York University School of Medicine, USA, beschrieb unter anderem die zunehmende Öffnung Chiles für Ärztinnen und Ärzte aus anderen Ländern und die Migrationsbewegung nach Venezuela aus den vor fünf Jahren noch wirtschaftlich schwächeren Nachbarländern. Nun habe sich der Prozess umgekehrt. Die hochqualifizierten Ärztinnen und Ärzte, die das Land aufgrund der Krise verlassen haben, fehlen jetzt zum Beispiel besonders in der Geburtshilfe und in der Pädiatrie. Etwa 7,5 Millionen Menschen seien bereits aus Venezuela geflüchtet, darunter viele Gesundheitsfachkräfte, erklärte auch Igor Bello, Venezuelan Society of Occupational
Health. Die meisten gehen nach Kolumbien. Erstmals findet damit auch eine Flucht in wirtschaftlich schwächere Länder statt.
Ein weiterer Aspekt ist die Situation der Migrierten aus Gesundheitsberufen, die wissenschaftlich noch nicht ausreichend untersucht ist. Der Berufseinstieg gelingt meist nicht auf der gleichen Ebene wie im Herkunftsland. Die Zugewanderten sehen sich stattdessen mit Jobs konfrontiert, die sich durch die „drei D“ charakterisieren lassen – „difficult, dirty and dangerous“. Es werden Qualifikationen nicht berücksichtigt oder anerkannt, die dem Gesundheitssystem dann eben auch nicht zur Verfügung stehen. Außerdem bringt der Migrantenstatus als solcher eine Vielzahl von psychosozialen Risiken mit sich. Die Gesellschaften brauchen Konzepte, um mit Migration und Einwanderung, die schon immer Teil der Geschichte war, umzugehen.
Schlechte Arbeitsbedingungen
In ärmeren Ländern, darunter vielen afrikanischen Staaten, tragen vor allem schlechte Arbeitsbedingungen dazu bei, dass Health Worker das Land verlassen. Von ärztlichen Fachkräften und Gesundheitspersonal wird verlangt, auch ohne so grundlegende Dinge wie Wasser, Elektrizität, Rettungswagen und Materialien zur Versorgung der Erkrankten zu arbeiten, erklärte Abdeljalil el Kholti, Professor für Arbeitsmedizin an der Universität von Casablanca, Marokko. Hinzu kämen geringe Löhne und schlechte Lebensbedingungen. „In Frankreich arbeiten“, so Kholti, „54.000 Ärzte, die nicht dort geboren sind. Jeder fünfte Arzt ist Tunesier, Marokkaner oder Algerier.“
Tawanda Nherera, BOC Zimbabwe, zeigte am Beispiel des Central Hospitals Zimbabwe, einen umfassenden Mangel an Ressourcen. In vielen Hospitälern fehlten Beschäftigte, was unter anderem an einem komplizierten und langwierigen behördlichen Antragsverfahren liege, mit dem die Krankenhäuser konfrontiert sind, wenn sie Ärztinnen und Ärzte oder Pflegepersonal einstellen wollen. Neben Human Ressources seien auch Medikamente und Medizintechnik knapp. Es fehle unter anderem an Überlebensnotwendigem wie Trinkwasser, Nadeln oder Einweghandschuhen. Die Bezahlung des ärztlichen Fachpersonals sei nicht existenzsichernd, Fort- und Weiterbildungen für sie würden über ein intransparentes Losverfahren vergeben, das die Korruption befördert.
Lebenssituationen von Frauen bei der Prävention berücksichtigen
Gesundheitseinrichtungen seien aufgrund von Kriegsstrategien häufig das Ziel von Zerstörung, was medizinisches Personal dann noch einmal besonders gefährde, sagte Rima Habib, American University of Beirut, Libanon. Frauen und Männer machen in Kriegsgebieten unterschiedliche Erfahrungen. Frauen erleben häufiger sexuelle Gewalt. Gleichzeitig beeinflussten die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor auch das Privatleben. Sie tragen dazu bei, die Scheidungsraten zu erhöhen. Schichtarbeit gelte zum Beispiel als eine der Hauptursachen für familiäre Belastungen.
Viviana Gómez-Sanchez, Latin American Association of Occupational Health, betonte die Notwendigkeit, schwangere Frauen sowohl am Arbeitsplatz zu halten als auch sie durch Impfungen während eines bestimmten Zeitfensters vor Infektionen mit Hepatitis B, Keuchhusten oder Influenza zu schützen. Danileing Lozada, Venezuelan Society of Occupational Health, stellte unterschiedliche Möglichkeiten vor, die Arbeit an die Bedürfnisse von Schwangeren anzupassen, beispielsweise durch den Einsatz von Robotern, um Erkrankte zu bewegen, durch ergonomisch angepasste Arbeitstische und Stühle sowie durch eine Arbeitsorganisation, die Nachtschichten für Schwangere vermeidet.
Elke Schneider, EU-OSHA, Schweiz, beschrieb die Situation europäischer Health Workerinnen, die unter anderem durch Teilzeitarbeit gekennzeichnet ist, durch informelle Arbeit in der Betreuung und Pflege von älteren Menschen oder Gelegenheitsjobs. Die Frauen verdienen weniger als Männer, haben weniger Zugang zu Fortbildungen und sind in Entscheidungsgremien unterrepräsentiert. Zu den Belastungen gehören Stress und mentale Probleme, zunehmend auch durch Gewalterfahrungen sowie langes Stehen oder Sitzen, monotones Arbeiten und das Bewegen von Personen. Wie Schneider betonte, ist Prävention vor allem dann wirkungsvoll, wenn sie im Dialog mit den Frauen ihre Bedürfnisse erfasst und Lebenssituationen wie beispielsweise Familienphase, Pflege von Angehörigen oder das Älterwerden im Beruf berücksichtigt.
Prävention verbessern
Das Thema Prävention umfasste so unterschiedliche Aspekte wie die bessere Vorbereitung von medizinischen Hilfskräften auf Einsätze in Krisengebieten, den Schutz vor Infektionen und Stichverletzungen sowie anderen Arbeitsunfällen. Marija Bubas aus Kroatien berichtete über eine Initiative zur Vermeidung von Stolper- und Sturzunfällen durch die Ausgabe von rutschfesten Schuhen. Sven Malte John verwies auf die Notwendigkeit, den Hautschutz in den Gesundheitsberufen zu verstärken, bessere Handdesinfektionsmittel zu verwenden, Dermatosen schneller zu melden und bei Hauterscheinungen schneller zu reagieren. Noch immer verlassen viel zu viele Gesundheitsfachkräfte ihren Beruf aufgrund von arbeitsbedingten Erkrankungen der Haut.
Im Hinblick auf die Verbesserung der Arbeitssituation ging es unter anderem darum, digitale Möglichkeiten besser zu nutzen, künstliche Intelligenz einzusetzen oder auch Bewegungen durch Exoskelette zu unterstützen. Wie Andrew Imada, der frühere Präsident der International Ergonomics Association USA, erklärte, kann auch eine makroergonomische Perspektive, die das gesamte Umfeld der Beschäftigten mit einbezieht, von Nutzen sein, um zum Beispiel Verletzungsrisiken oder das Entstehen von Berufskrankheiten zu vermeiden und eine bessere Qualität der Gesundheitsversorgung der Erkrankten zu erreichen.
Gewalt gegen Health Workers – Deklaration
Zur Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und andere Beschäftigte im Gesundheitssektor wurde auf dem OHHW 2019 folgende Deklaration verabschiedet:
Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
Daher appellieren die Teilnehmenden der Konferenz OHHW 2019 an die betreffenden nationalen und internationalen Organisationen, das Gesundheitspersonal vor diesen Verbrechen zu schützen.
Weitere Infos
International Committee for Occupational Health (ICOH)
www.icohweb.org/site/scientific-committee-detail.asp?sc=19
International Social Security Association (ISSA)
https://ww1.issa.int/de/home
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
https://www.bgw-online.de
Internationale Labor Organisation (ILO)
https://www.ilo.org/global/lang--en/index.htmf
Info
Organisation des OHHW 2019 und Kooperationspartner
Der OHHW2019 wurde vom International Committee for Occupational Health (ICOH) und dem Scientific Committee for Occupational Health for Health Workers (SCOHHW), SC for Occupational and Environmental Dermatoses (SCOED), und SC for Woman Health and Work (SCWHW) organisiert. Präsident der Konferenz ist Albert Nienhaus, Professor für Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen im IVDP am UKE. Die International Social Security Association (ISSA) mit der Section Prevention of Occupational Risks in Health Services ist Kooperationspartner. Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und die Internationale Labor Organisation (ILO) unterstützen den Kongress.
Info
Auswahl im Text genannter Vorträge
– Christiane Wiskow: Global shortage of health workers and the consequences for OSH
– Fouad M. Fouad: Health workers and informal health services in the Middle East – The case of Syrian health workers in Lebanon.
– Fouad M. Fouad: Health systems without borders, re-thinking health system frameworks in times of forced migration.
– Acran Salmen-Navarro: Introduction – history of migration and general concepts, interventions for immigrant HWs in NYC.
– Tawanda Nherera. Working conditions in a healthcare system in crisis – the case of Zimbabwe.
– Rima R. Habib. Research on healthcare workers in conflict settings: a gender perspective.
– Danileing Lozada. Adaptations of workplaces for pregnant women in the health sector.
– Marija Bubas. „Vison Zero“ – how to create a culture of prevention.