Seit dem Jahr 1998 werden in der AHG Klinik Münchwies Patienten mit dem Krankheitsbild Pathologischer PC-/Internet-Gebrauch behandelt. Zunächst handelte es sich hierbei lediglich um Einzelfälle, in den letzten Jahren ist aber ein massiver Anstieg der Behandlungszahlen zu verzeichnen. In der vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebenen sog. PINTA-Studie (Rumpf et al., s. „Weitere Infos“) konnte in Deutschland eine Prävalenz von 1,0 % in der Altersgruppe der 14- bis 64-Jährigen – und damit letztendlich derer, die auch dem Arbeitsprozess zur Verfügung stehen – erhoben werden. Sieht man sich die Zahlen noch genauer an, so stellt man fest, dass in der Altersgruppe der 14- bis 24-Jährigen – also der potenziellen Auszubildenden und jungen Arbeitnehmer, somit „unserer Zukunft“ – die Zahl der Betroffenen mit 2,4 % noch wesentlich höher ist.
Basierend auf der jahrelangen klinischen Erfahrung hat die AHG Klinik Münchwies ein Störungsmodell sowie einen Vorschlag zur diagnostischen Einordnung erarbeitet (Schuhler u. Vogelgesang 2013). Dabei gehen wir von folgenden Erscheinungsformen aus:
- Gaming: Spielen von Onlinespielen, vor allem Mehrpersonen-Rollenspiele,
- Chatting: insbesondere in sozialen Netz-werken und Chatrooms,
- Surfing: beispielsweise die Jagd nach im-mer mehr Informationen.
Klinisch zeigt sich, dass dabei das Gaming bei den stationär behandelten Patienten deutlich im Vordergrund steht. Seit Jahren konstant zeigt sich dabei eine Geschlechterverteilung zwischen männlichen und weiblichen Personen von 9:1.
Die Diagnose eines pathologischen PC-/Internetgebrauchs erfordert das Vorliegen weiterer Merkmale:
- Es liegt eine exzessive PC-/Internet-Aktivität von mehr als 35 Stunden wöchentlich, schul- und berufsfremd, vor. Die Aktivität beherrscht die Lebensführung der betroffenen Person.
- Durch die PC-/Internet-Aktivität kommt es zu negativen psychischen (die realen Bezüge werden freudlos und depressiv verarbeitet, Antriebsstörung außerhalb der PC-Aktivitäten, Gefühle der Wert- und Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit, Konzentrationsstörungen, Entwicklung sozialer Ängste), sozialen (sozialer Rück-zug mit zunehmender Vereinsamung, weitreichende Einbußen in der beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit, abnehmende Alltagskompetenzen, Verlust Tagesstruktur) und körperlichen (Adipositas, Untergewicht durch Mangel-ernährung, Hyperlipidämie, Hyperurikämie, Hypertonie, Rückenbeschwerden, Sehnenscheidenentzündungen, Sehstörungen, körperliche und hygienische Vernachlässigung bis zur Verwahr-losung, Schlafdefizite) Folgen.
- Überwertiges Immersionserleben: Die intensive Aufmerksamkeitsfokussierung auf die virtuelle Welt führt dazu, dass die Realität immer mehr in der subjektiven Wahrnehmung und Bedeutung zurücktritt.
Kernstück der Diagnostik bildet jedoch die sog. dichotome Störung intrapsychischer und interaktiver Funktionen. Hiermit ist Folgendes gemeint: Bezüglich des Selbstwerterlebens wird im virtuellen Raum das Selbst idealisierend ausgestaltet und emotional hoch besetzt positiv erlebt. Im scharfen Kontrast dazu wird das Selbst im realen Kontext abgewertet und vornehmlich negativ als schwach, erfolglos, ohne Einfluss und von anderen isoliert erlebt. Dadurch wird die Realität in der inneren Bewertung aversiv und bedrohlich.
Im Affekterleben steht einem aversiv bewerteten Realitätskontext ein idealisierend-positiv bewerteter PC-/Internet-Kontext gegenüber. Die Beziehungs- und Arbeitswelt im realen Leben ist von negativen Gefühlen wie Angst- und Schamgefühlen geprägt, die wiederum Fluchtimpulse in die von positiven Gefühlen beherrschte PC-/Internet-Aktivität auslösen.
Bezüglich der sozialen Interaktionsfähig-keit gelingen in der PC-/Internet-Aktivität erwünschte Interaktionen angstfrei, mit großer Sicherheit und Erfolg, während die soziale Interaktionsfähigkeit in der Realität von Angstgefühlen und Misserfolgserwartung bestimmt ist.
In der Handlungsmotivation erfolgt die PC-/Internet-Aktivität häufig im Flow-Erleben, das heißt, der Erfolg durch eigenes Handeln erscheint flüssig-leicht erreichbar mit Absorbierung durch die Aktivität. Dem steht eine starke motivationale Hemmung im realen Leben gegenüber: Eigene Ziele dort treten in ihrer Bedeutung zurück, deren Erreichung aus eigener Kraft wird als unwahrscheinlich eingeschätzt. Handlungsentwürfe sind vom erwarteten Misslingen bestimmt.
Auf dieser Basis sollte der pathologische PC-/Internet-Gebrauch unter der ICD-10-Kategorie F68.8 als eine spezifische Form der Beziehungs- und Verhaltensstörungen eingeordnet werden.
Sowohl klinisch als auch untermauert durch Ergebnisse eines Forschungsprojekts (Schuhler et al. 2013) zeichnet sich das Bild junger Männer, die trotz guten Bildungsstandes und auch Intelligenz zu einem großen Teil mehrere Ausbildungsversuche abgebrochen haben und schließlich dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen.
„Beim Spielen von Onlinerollenspielen bekomme ich Lob und Anerkennung im Sekundentakt. Bis mein Meister mir zum ersten Mal auf die Schulter klopfte und sagte: ‚Gut gemacht’ verging ein dreiviertel Jahr…“ (Björn, 20)
Das oben beschriebene Erleben der Betroffenen innerhalb von Online-Rollenspielen führt zu erheblichen arbeitsrele-vanten Funktionsdefiziten. Arbeitsbezogene Kompetenzen wie die Fähigkeit zum Belohnungsauschub nehmen ab, wie das vorstehende Zitat eindrücklich verdeutlicht.
Frustrationstoleranz bei Kritik, z. B. durch Kollegen und Vorgesetzte, Ausdauerfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft im Beruf, Selbstorganisationsfähigkeit, Anpassungs- und Umstellungsvermögen außerhalb der virtuellen Welt verkümmern. Dies zeigt sich auch in der täglichen Arbeitsroutine. Schuhler et al. (2013) konnten zeigen, dass insbesondere die Gewissenhaftigkeit, also die Fähigkeit, eine Handlung zu planen, diese Planung voranzutreiben und die Handlung auszuführen, bei diesem Klientel stark defi-zitär ist.
Soziale Kompetenzen im Kontakt mit Kunden verkümmern zusehends, da die Kommunikation im Spiel leichter fällt, mit weniger Angst besetzt ist und die direkte Auseinandersetzung mit einem Gegenüber immer ein Sicherheitsnetz hat („Ignore-Funktion“). Die Einordnung in Team und Hierarchie fällt zunehmend schwerer.
Dies alles führt dazu, dass sich letztendlich eine Gefährdung der beruflichen Leistungsfähigkeit ergibt, die nicht selten eine Rehabilitationsindikation bedingt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass insbesondere die Rentenversicherungsträger schon recht früh auf das Problem aufmerksam wurden und die Behandlung im deutschen Gesundheitswesen derzeit haupt-sächlich im Rahmen der Rehabilitation an-gesiedelt ist.
Oben genannte Funktionsdefizite stellen aber auch die Chance auf Früherkennung dar. Einem aufmerksamen Kollegen, einem wachen Vorgesetzten werden entsprechende Veränderungen schon frühzeitig auffallen.
Meist beginnt es mit einem morgendlichen Unausgeschlafensein, mit Zuspätkommen oder einzelnen Fehltagen, weil noch bis tief in die Nacht „gezockt“ wurde. Nicht selten entsteht dabei der Verdacht, dass vielleicht auch Drogen oder Alkohol im Spiel sind, entsprechende Testungen führen dann allerdings ins Leere. Von daher scheint schon viel gewonnen, wenn Betriebsmediziner überhaupt sensibilisiert werden für das neue Krankheitsbild.
Erfahrungsgemäß ist es recht schwer, einen Zugang zu den „Gamern“ zu bekom-men, sie sind im Erstkontakt häufig misstrauisch und verschlossen. Trotzdem werden Betriebsmediziner nicht umhin kommen, den Verdacht direkt anzusprechen. Von Vorteil kann hier sein, wenn gewisse Grundkenntnisse bezüglich der Computerspielelandschaft vorhanden sind, zumindest sollte dem Phänomen aber mit offenem Interesse begegnetet werden, denn so bekommt man Betroffene ins Reden. Oft besteht in diesem Stadium noch kein wirkliches Krankheitsbewusstsein, die offensichtlichen Folgen mit Zuspätkommen, Fehltagen, Unkonzentriertheiten am Arbeitsplatz mit drohender Abmahnung oder gar Ausbildungs-/Arbeits-platzverlust sollten jedoch offen und deutlich angesprochen werden, um so ein erstes Problembewusstsein zu kreieren.
Zumeist werden Arbeitsmediziner hier aber an ihre Grenzen stoßen, die Vermittlung an eine Suchtberatungsstelle ist da-her der nächste sinnvolle Schritt. Noch gibt es in Deutschland nur wenige spezialisierte Zentren, die sich mit dieser Problematik auseinandersetzen, es werden aber immer mehr. Entsprechende Adressen sind auf der Internetseite des Fachverbandes Medienabhängigkeit ( http://www.fv-medienabhaengigkeit.de/ ) einsehbar. Erste Hilfestellung können normalerweise auch nichtspezialisierte Suchtberatungsstellen vor Ort liefern. In vielen Fällen wird aber eine medizinische Rehabilitation notwendig sein, um die Leistungsfähigkeit zu erhalten und die Arbeitsfähigkeit dauerhaft zu sichern.
Die gute Nachricht: Eine Rehabilitation bei diesem Krankheitsbild scheint bei entsprechend qualifiziertem Behandlungsangebot mit einer guten Prognose verbunden zu sein, wie eine Ein-Jahres-Katamnese-Untersuchung der AHG Kliniken Münchwies und Schwerin belegen konnte (Sobottka et al. 2013).
Fazit
Pathologischer PC-/Internet-Gebrauch stellt eine bedeutsame, in den letzten Jahren zu-nehmende neue Erkrankung dar, die mit er-heblichen Auswirkungen auf den Arbeits-kontext verbunden ist.
Arbeitsmediziner sollten für dieses neue Krankheitsbild sensibilisiert werden mit dem Ziel, die Erkrankung möglichst frühzeitig zu erkennen und entsprechende Behandlungsschritte in die Wege zu leiten.
Literatur
Schuhler P, Vogelgesang M: Abschalten statt abdriften. Weinheim: Beltz, 2011.
Schuhler P, Vogelgesang M: Pathologischer PC-/Inter-net-Gebrauch – Eine Therapieanleitung. Göttingen: Hogrefe, 2012.
Schuhler P, Vogelgesang M: Pathologischer Computer-/Internet-Gebrauch: Diagnostische Einordnung als Beziehungs- und Verhaltensstörung und therapeutische Vorgehensweise. SuchtAktuell 2013; 3: 12–17.
Schuhler P, Sobottka B, Vogelgesang M, Fischer T: Pathologischer PC-/Internet-Gebrauch bei Patient-Innen der stationären psychosomatischen und Sucht-rehabilitation. Lengericht: Pabst, 2013.
Sobottka B, Feindel H, Schuhler P, Schwarz S, Vogel-gesang M, Fischer T: Katamneseergebnisse zur statio-nären Behandlung Pathologischen PC-/Internet-Gebrauchs. DRV-Schiften 2013; 101: 496–497.
Weitere Infos
Rumpf H-J et al.: Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA), Bericht an das Bundes-ministerium für Gesundheit
Autor
Holger Feindel
AHG Klinik Münchwies
Zentrum für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Suchtmedizin
Turmstraße 50–58
66540 Neunkirchen/Saar