Bedeutung psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt
Der Relevanz psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt wurde in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung beigemessen. Kaum ein anderer Faktor ist psychisch so gefährdend wie Arbeitslosigkeit – denn Arbeit stellt eine essenzielle Ressource für die psychische Gesundheit dar. Gleichzeitig können Konflikte und Überlastung bei der Arbeit die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer psychischen Erkrankung verursachen beziehungsweise dazu beitragen. Und nicht zuletzt führt eine psychische Erkrankung häufig zu Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung. Unternehmen und Krankenkassen zahlen jährlich Milliarden an Lohnfortzahlungen und Krankengeld, um die Einkommensausfälle auszugleichen.
Psychisch erkrankte Beschäftigte sind mit rund 35 Tagen pro Jahr deutlich länger krankgeschrieben als körperlich Erkrankte. Dieser Unterschied hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen und sich seit dem Jahr 2000 fast verdreifacht.1 Inzwischen (Stand: 2017) gehen 15 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische Erkrankungen zurück – ein Wert, der sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt hat (➥ Abb. 1). Damit sind psychische Erkrankungen hinter Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems der zweitgrößte Faktor für betriebliche Fehltage geworden. Darüber hinaus waren psychische Erkrankungen im Jahr 2018 mit 42,7 Prozent für fast die Hälfte aller krankheitsbedingten Frühberentungen ursächlich, womit sie die häufigste Ursache für Erwerbsminderung oder -unfähigkeit darstellen. Auch dieser Anteil hat sich in den letzten 25 Jahren fast verdreifacht (Deutsche Rentenversicherung Bund 2019).
Um diesen besorgniserregenden Entwicklungen zu begegnen, muss es Hilfesuchenden ermöglicht werden, unmittelbare und passende Hilfe zu erhalten. Psychische Belastungen müssen kurzfristiger abgeklärt und behandelt werden, einer Chronifizierung der Beschwerden muss frühzeitig entgegengewirkt werden, auch um Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung zu vermeiden. Hierfür wurden in den letzten drei Jahren neue Leistungen und Versorgungselemente in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung definiert und etabliert.
Rückblick auf die Reform der Psychotherapie-Richtlinie
Für Menschen mit psychischen Belastungen ist es essenziell, schnell qualifizierte Hilfe zu erhalten. Viele Hilfesuchende benötigen jedoch Wochen und Monate, um einen Psychotherapieplatz zu finden. Diese langen Wartezeiten schrecken ab und können im schlimmsten Fall dazu führen, dass Betroffene gar nicht erst geeignete Hilfe suchen. Im Jahr 2011 warteten Patientinnen und Patienten im bundesweiten Durchschnitt rund drei Monate auf ein erstes Gespräch bei niedergelassenen Psychotherapeutinnen oder -therapeuten und weitere drei Monate auf den Beginn der eigentlichen Richtlinienpsychotherapie, wie eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) zeigte (BPtK 2011). Um den Zugang zur Psychotherapie zu vereinfachen und die psychotherapeutische Versorgung nachhaltig zu verbessern, trat deswegen 2017 eine umfassende Psychotherapie-Richtlinie in Kraft, die die ambulante psychotherapeutische Versorgung reformiert hat (➥ Abb. 2).
Die psychotherapeutische Sprechstunde – direkter Zugang zur Psychotherapie
Als wichtiger Baustein der Reform der Psychotherapie-Richtlinie wurde die psychotherapeutische Sprechstunde als neue Leistung eingeführt. Die Sprechstunde dient in erster Linie der zeitnahen Abklärung und Diagnostik psychischer Beschwerden und der Indikationsstellung der Behandlung. Je nach Bedarf und Indikation kann Betroffenen hier zu einer ambulanten Psychotherapie geraten werden oder sie können, wenn angebracht, über alternative Hilfsangebote, wie Beratungsstellen oder Selbsthilfe, informiert werden. Durch die Einrichtung einer Sprechstunde wird Hilfesuchenden ein direkter und niedrigschwelliger Zugang in die ambulante psychotherapeutische Versorgung geboten. Psychotherapeutinnen und -therapeuten ermöglicht sie, sowohl beratende und präventive Aufgaben zu übernehmen als auch – noch besser als in der Vergangenheit – kurzfristig in Krisensituationen zu helfen.
In der Reform wurde geregelt, dass Psychotherapeutinnen und -therapeuten Sprechstunden in einem Mindestumfang von 100 Minuten pro Woche anbieten müssen, damit Betroffene schneller ein Erstgespräch erhalten. Wie eine Studie der BPtK aus dem Jahr 2018, ein Jahr nach der Reform der Psychotherapie-Richtlinie, zeigt, haben sich Dank der Einführung der psychotherapeutischen Sprechstunde die Wartezeiten auf ein erstes psychotherapeutisches Gespräch tatsächlich von 12,5 Wochen im Jahr 2011 auf 5,7 Wochen verkürzt (BPtK 2018).
Die Terminvereinbarung für einen Sprechstundentermin erfolgt dabei fast immer direkt mit Psychotherapeutinnen/-therapeuten, die hierfür eine wöchentliche telefonische Erreichbarkeit im Umfang von mindestens 250 Minuten bei vollem Versorgungsauftrag sicherstellen müssen. Werden die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen zur Vermittlung von Behandlungsterminen genutzt, erhalten Betroffene durchschnittlich innerhalb von drei Wochen einen Termin, so die Auswertung der BPtK (2018). Allerdings spielen Terminservicestellen nach wie vor eine untergeordnete Rolle bei der Terminvermittlung. Lediglich 7,9 Prozent der Betroffenen nahmen 2018 diesen Service in Anspruch (Grobe et al. 2020).
Akutbehandlung – rasche Hilfe bei akuten Krisen
Bevor eine Richtlinienpsychotherapie begonnen werden kann, werden normalerweise Probesitzungen, so genannte probatorische Sitzungen, durchgeführt, bei denen unter anderem die Indikationsstellung präzisiert und die Therapiemotivation überprüft sowie geklärt wird, ob eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufgebaut werden kann.
Seit 2017 müssen Betroffene nun zuerst in der Sprechstunde ein erstes, mindestens 50-minütiges psychotherapeutisches Gespräch geführt haben, bevor eine Behandlung begonnen werden kann. Die Einführung der psychotherapeutischen Sprechstunde ersetzt dabei die Probatorik nicht. Bei Erwachsenen werden weiterhin mindestens zwei und maximal vier, bei Kindern und Jugendlichen bis zu sechs probatorische Sitzungen à 50 Minuten durchgeführt. Bei Personen, die in den letzten 12 Monaten wegen einer psychischen Erkrankung in einem Krankenhaus oder einer Rehabilitationsklinik behandelt worden sind, kann die psychotherapeutische Sprechstunde entfallen und umgehend mit den probatorischen Sitzungen einer ambulanten Psychotherapie begonnen werden.
Für Personen mit sofortigem Behandlungsbedarf gibt es seit der Reform der Psychotherapie-Richtlinie außerdem die Option, unmittelbar nach der Sprechstunde eine psychotherapeutische Akutbehandlung zu beginnen, ohne dass ein vorheriges Antragsverfahren oder probatorische Sitzungen erfolgen mussten. Dies kann wichtig sein, wenn sofortiger Handlungsbedarf besteht, um einer Verschlechterung und/oder Chronifizierung der Erkrankung vorzubeugen und Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden.
Die Akutbehandlung soll zu einer kurzfristigen Besserung akuter psychischer Krisen führen. Zugrunde liegende krankheitsbedingende Faktoren können in einer anschließenden Kurzzeit- oder Langzeittherapie ausführlich behandelt werden. Nach den Ergebnissen einer Studie der BPtK erhalten die meisten Patientinnen und Patienten in psychischen Krisen innerhalb von drei Wochen nach Feststellung der Indikation eine Akutbehandlung (BPtK 2018). So ist ein rasches und essenziell wichtiges Hilfsangebot für Menschen in akuter Not entstanden.
Veränderungen im Antrags- und Genehmigungsverfahren – Vereinfachung für Psychotherapeutinnen und -therapeuten?
Hinter den Kulissen und für Außenstehende nicht sichtbar, verbringen ambulant tätige Psychotherapeutinnen und -therapeuten einen beachtlichen Teil ihrer Arbeitszeit mit dem Ausfüllen von Anträgen und dem
Schreiben von Berichten an die Gutachterinnen und Gutachter, die für die Genehmigung von Psychotherapien erforderlich sind. Geringfügigen Vereinfachungen im Antrags- und Genehmigungsverfahren in der Reform der Psychotherapie-Richtlinie wurde die Zweiteilung der Kurzzeittherapie entgegengesetzt. Beide Abschnitte der Kurzzeittherapie sind seitdem antragspflichtig. Fast alle durch die BPtK befragten Psychotherapeutinnen und -therapeuten (91,5%) berichten, dass dieser Aspekt der Reform den bürokratischen Aufwand erhöht hat (BPtK 2018). Auch dem Bürokratieindex 2019 der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist zu entnehmen, dass seit der Reform der Psychotherapie-Richtlinie, trotz einer deutlichen Reduktion der Bürokratiebelastung in einigen Bereichen, der zeitliche Bürokratieaufwand für Psychotherapeutinnen und -therapeuten insgesamt noch einmal um etwa 18 Prozent gestiegen ist (KBV 2019). Von einer Vereinfachung kann hier also nicht die Rede sein. Vielmehr erschweren trotz Reform bürokratische Hürden die lückenlose Fortführung einer Psychotherapie und können die Arbeit für und mit den Betroffenen behindern.
Direkter, schneller, besser? Eine Bilanz der Reform
Insgesamt ist zwischen 2009 und 2018 der Anteil von Menschen, die eine psychotherapeutische Praxis kontaktieren, um 41 Prozent gestiegen und lag im Jahr 2018 bei knapp vier Prozent der gesetzlich Krankenversicherten. Dies ist unter anderem auch auf eine Zunahme an Behandlungsplätzen in den letzten zehn Jahren zurückzuführen. Seit Ende 2010 sind rund 2480 psychotherapeutische Praxen zusätzlich zugelassen worden. Auch Reformen der Bedarfsplanung, die Ende 2012 beschlossen wurden, haben zu diesen Neuzulassungen beigetragen. Zusätzlich zum allgemeinen Trend der letzten Jahre, häufiger psychotherapeutische Hilfe anzufragen, suchten im Jahr 2018 rund 176.000 Versicherte reformbedingt Kontakt zu Psychotherapeutinnen und -therapeuten, so die Berechnungen der BARMER (Grobe et al. 2020). Dass mehr Menschen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen können, ist ein eindeutig positives Ergebnis der Neuerungen in der psychotherapeutischen Versorgung der letzten Jahre.
Mit der psychotherapeutischen Sprechstunde ist ein leicht zugängliches Tor zur weiteren psychotherapeutischen Versorgung geschaffen worden. Knapp 60 Prozent der Ratsuchenden erhalten anschließend eine psychotherapeutische Behandlung. Von ihnen befindet sich jeder Sechste in einer so starken psychischen Krise, dass eine Akutbehandlung kurzfristig notwendig ist. Jedoch längst nicht alle Betroffenen, die in eine Sprechstunde kommen, beginnen eine psychotherapeutische Behandlung. Über 40 Prozent von ihnen erhalten zwar eine diagnostische Abklärung, verlassen jedoch die Praxis, ohne anschließend eine Therapie zu beginnen.2 Gut die Hälfte der Menschen (51,9%), bei denen die diagnostische Abklärung in der Sprechstunde ergab, dass eine Richtlinienpsychotherapie notwendig ist, muss sich, da eine Behandlung in derselben Praxis nicht möglich ist, im Anschluss an die Sprechstunde eine andere psychotherapeutische Praxis suchen. Diese Vermittlung ist schwierig und scheitert häufig (BPtK 2018). Dazu kommt, dass 32,2 Prozent der Betroffenen nach diagnostischer Abklärung in der Sprechstunde zwei bis drei Quartale auf den Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung warten.2
Insgesamt warten Menschen mit psychischen Erkrankungen in vielen Regionen immer noch viel zu lange auf eine psychotherapeutische Behandlung, ergab die BPtK-Wartezeitenstudie, die ein Jahr nach der Reform der Richtlinie durchgeführt wurde: Von der ersten Anfrage bei Psychotherapeutinnen und -therapeuten bis zum Beginn einer Richtlinienpsychotherapie vergehen rund 20 Wochen. Immerhin hat sich die durchschnittliche Wartezeit seit 2011 um vier Wochen verkürzt. Es gibt außerdem starke regionale Unterschiede. Während in Berlin die Wartezeit nur gut drei Monate (13,4 Wochen) beträgt, sind es im Saarland fast sechs Monate (23,6 Wochen) und im Ruhrgebiet sogar über sieben Monate (29,4 Wochen). Um die Wartezeiten auf eine akzeptable Länge von höchstens vier Wochen zu verringern und eine flächendeckende bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen, müssten zwingend neue Psychotherapeutensitze geschaffen werden. Mit der letzten Bedarfsplanungsreform 2019 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) rund 800 neue Psychotherapeutensitze geschaffen. Das liegt jedoch weit unter dem, was im wissenschaftlichen Gutachten, das der G-BA selbst im Vorfeld der Reform in Auftrag gegeben hatte, gefordert wurde. Laut des Gutachtens wären rund 2400 neue Psychotherapeutensitze notwendig gewesen, um die psychotherapeutische Versorgung zu verbessern.
Auch wenn sich positive Tendenzen abzeichnen und nun ein schnellerer Zugang zu einer Psychotherapie möglich ist als noch vor zehn Jahren, bleibt das größte Problem in der ambulanten Psychotherapie, nämlich der Mangel an Praxen, nach wie vor ungelöst. Um die Wartezeiten auf einen Sprechstundentermin auf höchstens vier Wochen zu verringern und eine lückenlose Versorgung im Anschluss an die Sprechstunde sicherzustellen, ist eine grundlegende Reform der Bedarfsplanung unabdingbar. Primäres Ziel muss es sein, flächendeckend eine angemessene psychotherapeutische Versorgung sicherzustellen.
Förderung der Gruppenpsychotherapie
Die ambulante Psychotherapie wird meistens als Einzeltherapie durchgeführt. Viele psychische Erkrankungen können jedoch auch im Rahmen einer Gruppenpsychotherapie wirksam behandelt werden. Diese kann gegebenenfalls auch in Kombination mit einer Einzeltherapie durchgeführt werden. Der Vorteil einer Gruppentherapie ist, dass Betroffene aus den Berichten und Erfahrungen der anderen lernen können und auch Rückmeldungen von den anderen Patientinnen und Patienten bekommt. Auch wenn in der stationären Versorgung Gruppenpsychotherapien ein zentrales Behandlungselement darstellen, sind sie in der ambulanten Versorgung bislang nur unzureichend angekommen. Tatsächlich machen Gruppenpsychotherapien derzeit nur einen geringen Anteil an allen Behandlungen aus. Bislang erfolgen lediglich 4,5 Prozent aller Psychotherapien als Gruppentherapie und nur 1,1 Prozent als Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie (Grobe et al. 2020). Mit der Reform der Psychotherapie-Richtlinie sollten auch Gruppenpsychotherapien gefördert werden – völlig unzureichend jedoch, wie sich in einer Studie der BPtK herausstellte (BPtK 2018).
Durch die Reform der PsychotherapieRichtlinie 2017 haben sich die Grundlagen zur Durchführung von Gruppenpsychotherapien kaum verbessert (BPtK 2018). Nach wie vor stehen dem Angebot ein zu hoher bürokratischer Aufwand und organisatorische Schwierigkeiten wie fehlende Räumlichkeiten gegenüber. Die Vermittlung von Hilfesuchenden und das Zusammenstellen passender Gruppen gestalten sich durch eine fehlende Vernetzung und Transparenz der Behandlungsangebote vielfach schwierig.
Doch die Gesetzgebung hat den G-BA erneut beauftragt, weitere Änderungen in der Psychotherapie-Richtlinie zu beschließen, um die Gruppenpsychotherapie zu fördern. Künftig sollen probatorische Sitzungen dann auch im Gruppensetting durchgeführt werden können und nicht nur wie bislang mit allen Gruppenteilnehmenden im Einzelgespräch. Außerdem sollen Gruppenpsychotherapien künftig auch gemeinsam durch zwei Psychotherapeutinnen und -therapeuten durchgeführt werden können. Dadurch könnte der interkollegiale Austausch gefördert und das Zusammenstellen der Gruppen erleichtert werden. Schließlich soll auch die Kombinationsbehandlung wie auch die alleinige Gruppentherapie vom Gutachterverfahren befreit und damit entbürokratisiert werden. Psychotherapeutinnen und -therapeuten können so ihre Ressourcen für die eigentliche Behandlung einsetzen. All diese Änderungen sind essenziell, um die Gruppenpsychotherapie weiter zu fördern und eine Behandlung in der individuell passendsten Form zu ermöglichen.
Systemische Therapie als Teil der Regelversorgung
Die strukturellen Veränderungen des Ablaufes einer Psychotherapie durch die Reform der Psychotherapie-Richtlinie stellen nur eine der wesentlichen Neuerungen in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der letzten Jahre dar. Als weitere essenzielle Veränderung hat der G-BA am 22. November 2019 die Systemische Therapie als viertes Psychotherapieverfahren zugelassen. Seit dem 1. Juli 2020 kann die systemische Therapie nun zur Behandlung erwachsener Patientinnen und Patienten in der vertragspsychotherapeutischen Versorgung eingesetzt und abgerechnet werden.
Für gesetzlich Krankenversicherte bedeutet das, dass sie nun bei einer Behandlung die Wahl zwischen vier Verfahren in der ambulanten Versorgung haben (➥ Abb. 3). Neben der analytischen Psychotherapie, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Verhaltenstherapie ist nun endlich auch die systemische Therapie in der Regelversorgung angekommen.
Es gibt viele wirksame Wege, ein psychotherapeutisches Gespräch zu führen. Dass auch die systemische Therapie dazu zählt und wirksam für die Behandlung psychischer Erkrankungen ist, war bereits vor über elf Jahren vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie festgestellt worden. Bei der systemischen Therapie steht neben den Betroffenen selbst auch ihr soziales Umfeld – das System – im Fokus. Durch die Zulassung der systemischen Therapie als Richtlinienverfahren stehen nun neue Behandlungswege offen.
Was jedoch immer noch fehlt, ist die sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Wissenschaftlich anerkannt ist sie bereits seit Dezember 2008. Der G-BA hat den erforderlichen Antrag auf Methodenbewertung angekündigt.
Ein Blick in die Zukunft der vertragspsychotherapeutischen Versorgung
Die ambulante vertragspsychotherapeutische Versorgung ist im Wandel. Die Reform der Psychotherapie-Richtlinie hat den Zugang zur Psychotherapie sowie die Therapieabläufe sowohl für Betroffene als auch für Psychotherapeutinnen und -therapeuten grundlegend verändert. Betroffene können über die psychotherapeutische Sprechstunde einfacher und schneller Hilfe in Anspruch nehmen und in Krisensituationen ohne Wartezeiten im Rahmen einer Akutbehandlung behandelt werden. Die Anerkennung der systemischen Therapie als Richtlinienpsychotherapie eröffnet Erwachsenen außerdem eine zusätzliche Behandlungsoption. Doch die psychotherapeutische Versorgung ist weiter im Wandel – und muss dies auch bleiben. Denn noch immer sind die Lücken in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu groß.
Ab 2021 werden weitere Maßnahmen zur Förderung der Gruppenpsychotherapie greifen. Darüber hinaus werden entsprechend der gesetzlichen Regelung künftig probatorische Sitzungen noch während der Krankenhausbehandlung durchgeführt werden können. Dadurch kann eine nahtlose ambulante Weiterbehandlung nach Entlassung aus dem Krankenhaus erleichtert werden.
In den nächsten Monaten soll außerdem der rechtliche Rahmen für eine strukturierte, multiprofessionelle Versorgung schwer psychisch kranker Menschen mit komplexem psychiatrischem oder psychotherapeutischem Behandlungsbedarf geschaffen werden. Eine solche Unterstützung und Behandlung durch Fachkräfte aus Psychotherapie, Medizin, Krankenpflege, Soziotherapie und Ergotherapie erhöht für die chronisch Kranken erheblich die Chance, möglichst lange stabil und ohne krisenhafte Krankenhauseinweisungen in einer eigenen Wohnung leben zu können, ihre Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben zu steigern und die gesundheitsbezogene Lebensqualität zu verbessern. Bislang fehlt dafür ein entsprechend umfassendes und aufeinander abgestimmtes ambulantes Versorgungsangebot. Auf der Basis einer speziellen Richtlinie des G-BA gemäß ß 92 Absatz 6b SGB V soll dieses Versorgungsangebot neu entstehen.
Zentrale Aufgabe des gesamten Gesundheitssystems bleibt die Gestaltung der Versorgung in ländlichen Regionen, bei der die Psychotherapie unbedingt mitgedacht werden muss. Aufgrund der historischen Entwicklung der Versorgungslandschaft und den Vorgaben der Bedarfsplanungs-Richtlinie mangelt es in ländlichen Regionen weiterhin an Praxen zur Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dies gilt für psychotherapeutische Praxen, aber auch für andere Leistungsbereiche der fachärztlichen Versorgung sowie für Anbieter weiterer ambulanter Leistungen, wie der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege, Soziotherapie oder Ergotherapie. Psychotherapeutische Praxen auf dem Land müssen häufig komplexe Bedarfe abdecken. Regionale Gesundheitszentren könnten hier eine Chance darstellen, um in stärker vernetzten Strukturen und in Kooperation mit dem Krankenhausbereich eine angemessene Versorgung psychisch kranker Menschen auch in ländlichen Regionen zu sichern.
Insgesamt müssen die psychotherapeutischen Behandlungskapazitäten, einschließlich der neuen Leistungen im Bereich der Komplexbehandlung, in ländlichen Regionen grundlegend weiterentwickelt werden. Die mit den letzten Reformen gewachsenen Entscheidungsspielräume der Länder, insbesondere bei der Bedarfsplanung, könnten dabei hilfreich sein.
Interessenkonflikt: Der Erstautor und seine Koautorin geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
BPtK – Bundespsychotherapeutenkammer: BPtK-Studie zu Wartezeiten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung: Umfrage der Landespsychotherapeutenkammern und der BPtK, 2011 (https://www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20110622_BPtK-Studie_Lan…).
Deutsche Rentenversicherung Bund: Rentenversicherung in Zeitreihen. Ausgabe 2019.
Grobe TG, Steinmann S, Szecsenyi J: BARMER Arztreport 2020. Psychotherapie: veränderter Zugang, verbesserte Versorgung? Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 21, 2020.
Kassenärztliche Bundesvereinigung (2019). Belastung transparent machen, Bürokratie abbauen. BIX 2019: Der Bürokratieindex für die vertragsärztliche Versorgung (https://www.kbv.de/media/sp/BIX2019_Projektbericht.pdf).
Weitere Infos
BPtK – Bundespsychotherapeutenkammer: BPtK-Studie. Ein Jahr nach der Reform der Psychotherapie-Richtlinie: Wartezeiten 2018
https://www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20180411_bptk_studie_war…
Wege zur Psychotherapie. Informationsseite der Bundespsychotherapeutenkammer
https://www.wege-zur-psychotherapie.org/