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Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.11.2018 – B 2 U 8/17 R

Betriebsweg im häuslichen Bereich

Sachverhalt

Der Kläger ist Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH, die ein Versicherungsmaklerbüro betreibt. Die Geschäftsräume liegen im 1. OG eines sechsstöckigen Mehrfamilienhauses, in dessen 5. OG der Kläger wohnt. Alle Stockwerke sind über ein gemeinsames Treppenhaus verbunden, zudem ist ein Aufzug vorhanden. Im Kellergeschoss befinden sich u.a. die Serveranlage und das Archiv der GmbH sowie ein privates Kellerabteil des Klägers. Die Geschäftsräume werden im Schnitt pro Tag 10- bis 15-mal von Kunden besucht, die die Haustreppe im Treppenhaus benutzen. Am Unfalltag führte der Kläger nach Rückkehr von einem auswärtigen Geschäftstermin gegen 0:00 Uhr ein größeres Software-Update mit Datensicherungsmaßnahmen durch. Dazu musste er zwischen dem Computer, der im 1. OG in den Büroräumen steht, und dem im Kellergeschoss befindlichen Serverraum hin- und hergehen, um den Vorgang und seinen Ablauf zu überwachen. Auf einem der Wege vom Serverraum im Kellergeschoss zum Büro im 1. OG stürzte er am 28.04.2012 nachts gegen 1.30 Uhr auf der Haustreppe und zog sich dabei eine Kahnbeinfraktur zu.

Die Beklagte lehnte es ab, Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen. Das Sozialgericht (SG) hatte die Klage mit dem Argument abgewiesen, bei Unfällen in Räumen bzw. auf Treppen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden könnten, sei darauf abzustellen, ob der Unfallort wesentlich auch Betriebszwecken diene. Bei wertender Betrachtung sei der Treppenabschnitt, auf dem sich der Sturz ereignet habe, kein Teil des Gebäudes, der rechtlich wesentlich unternehmensdienlich sei. Das Treppenhaus stehe allen Bewohnern des Hauses auch für rein private Tätigkeiten zur Verfügung. Allein auf die konkrete Nutzung zum Unfallzeitpunkt abzustellen, erscheine im Interesse einer möglichst einheitlichen Bewertung nicht sachgerecht.

Das Berufungsgericht (LSG) hat sich dem im Ergebnis angeschlossen und ergänzend ausgeführt, der Kläger sei zwar auf einem Weg gestürzt, der in sachlichem Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit gestanden habe. Nach seiner objektivierten Handlungstendenz sei der Weg vom Serverraum im Keller zu den Büro- und Geschäftsräumen im 1. OG auch im unmittelbaren Betriebsinteresse gewesen, weil er für das Software-Update notwendig gewesen sei. Verunglücke der Versicherte aber in einem Gebäude, in dem sich Arbeitsstätte und Wohnung befänden, so bestehe Versicherungsschutz nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur dann, wenn der Unfallort (Räume, Treppen) Betriebszwecken des Unternehmens wesentlich diene und nicht dem rein persönlichen Lebensbereich zuzuordnen sei.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des §8 Abs. 1 SGB VII: Das LSG verkenne, dass er sich als Beschäftigter i.S.d. §2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII verletzt habe. Denn er sei in Ausübung der aus dem Anstellungsverhältnis bei der GmbH folgenden Vertragspflicht, deren Daten zu sichern, verunglückt. Auch habe er sich auf einem Betriebsweg befunden, da er sowie die sonstigen Angestellten und Kunden des Unternehmens die Treppe täglich nutzten, so dass die betriebliche Nutzung eine gewisse Häufigkeit erreiche. Entscheidend sei, dass er zum Unfallzeitpunkt mit der Verrichtung einer beruflichen Tätigkeit beschäftigt gewesen sei und nach seiner objektivierten Handlungstendenz im unmittelbaren Betriebsinteresse gehandelt habe.

Aufgabe der bisherigen ­Rechtsprechung

Das BSG sah die zulässige Revision des Klägers im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG als begründet an. Das LSG habe die Feststellung eines Arbeitsunfalls zu Unrecht mit der Begründung verneint, die öffentlich zugängliche Treppe habe dem Unternehmen bzw. seinen Betriebszwecken nicht wesentlich gedient. Das Urteil des LSG enthalte jedoch weder ausreichende Feststellungen zum sachlichen Zusammenhang zwischen einer mutmaßlich versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des konkreten Weges noch zur Versicherteneigenschaft des Klägers, so dass insoweit eine geeignete Grundlage für die rechtliche Nachprüfung durch den Senat fehle.

Zwar habe der Senat in seiner früheren Rechtsprechung auf das Kriterium der „objektiven“ Nutzungshäufigkeit des Unfallorts abgestellt, in diesem Zusammenhang aber bereits früher auf rechtliche Schwierigkeiten in zwei Fallgruppen hingewiesen: Neben der – hier nicht einschlägigen – Fallgestaltung der Unfälle, die durch eine Rufbereitschaft und die damit verbundene Notwendigkeit, sofort zu handeln, geprägt sind, stelle sich die Konstellation als problematisch dar, in der Unfälle sich in Räumen oder auf Treppen ereignen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden können. Der Senat habe schon damals Zweifel geäußert, ob an der Rechtsprechung, die zur Feststellung eines versicherten Betriebswegs im häuslichen Bereich am Ausmaß der Nutzung des konkreten Unfallorts anknüpft, festgehalten werden könne.

Handlungstendenz des Beschäftigten maßgebend

Bereits mit Urteil vom 31.08.2017 (B 2 U 9/16 R), das weder SG noch LSG berücksichtigen konnten, habe der Senat seine Rechtsprechung dahingehend konkretisiert, dass bei der Feststellung eines Arbeitsunfalls im häuslichen Bereich künftig die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten, eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben zu wollen, den Ausschlag gebe. Nicht mehr sei vorrangig auf die – quantitativ zu bestimmende – Häufigkeit der betrieblichen oder privaten Nutzung des konkreten Unfallorts abzustellen. Auf eine wie auch immer geartete objektive „Widmung“ der jeweiligen Räumlichkeiten oder die Häufigkeit bzw. das Ausmaß der „betrieblichen“ Nutzung des konkreten Unfallortes komme es also nicht mehr an.

Ob der Weg, auf dem der Kläger gestürzt ist, im unmittelbaren Unternehmensinteresse zurückgelegt wurde und deswegen als so genannter Betriebsweg im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand, bestimme sich somit in erster Linie nach der objektivierten Handlungstendenz des Versicherten, also danach, ob dieser bei der zum Unfallereignis führenden Verrichtung eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit subjektiv ausüben wolle und diese innere Tatsache durch die objektiven Umstände des Einzelfalls zur Überzeugung des Tatrichters im Vollbeweis bestätigt werde.

Objektivierung der Handlungstendenz

Zur Objektivierung der Handlungstendenz sind stets alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Unfallzeitpunkt, der konkrete Ort des Unfallgeschehens sowie dessen objektive Zweckbestimmung, als äußere Indizien zu berücksichtigen. Der Senat habe bereits früher darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der Handlungstendenz und der entsprechenden Überprüfung klägerseitiger Angaben die Beweisführung im häuslichen Bereich besonders schwierig sein könne, weil der Kreis der „unternehmensdienlichen“ Verrichtungen gerade bei Selbstständigen sowie bei abhängig Beschäftigten, die im „Home Office“ tätig sind, typischerweise mit weiten Teilen des Privatlebens verwoben ist. Nichts anderes gilt für Personen, die in Kapitalgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer selbstständig tätig sind.

Die Objektivierung der Handlungstendenz als innerer Haupttatsache setze voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Hilfstatsachen (Indizien) in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in eine Gesamtschau eingestellt sowie nachvollziehbar und widerspruchsfrei unter- und gegeneinander abgewogen werden. Das Berufungsgericht habe indes nur das Vorliegen der Haupttatsache isoliert bejaht, indem es apodiktisch festgestellt habe, der Kläger sei „in einem unmittelbaren Betriebsinteresse tätig“ gewesen, „als er auf der Haustreppe hinstürzte“ und habe „den Weg vom Serverraum im Keller zu seinen Büro- und Geschäftsräumen im ersten Obergeschoss zurückgelegt, weil dies für die Durchführung des Software-Updates seiner Betriebssoftware geboten war“.

Art und Darstellung des ­Abwägungsvorgangs

Das LSG habe jedoch versäumt, unter Feststellung aller Hilfstatsachen den Abwägungsvorgang darzustellen, dessen Ergebnis – aus Sicht des Tatrichters – den Schluss auf die Haupttatsache erst zulässt und deren bindende Feststellung rechtfertigt. Der Tatrichter ist grundsätzlich darin frei, welche Beweiskraft er den festgestellten Indizien im Einzelnen und in einer Gesamtschau für seine Überzeugungsbildung beimisst, so dass die revisionsgerichtliche Prüfung auf den Abwägungsvorgang und das Auffinden entscheidungserheblicher Abwägungsfehler beschränkt ist. Dies beinhalte die Prüfung, ob eine Abwägung gänzlich unterblieben sei (Abwägungsausfall), abwägungsrelevante Indizien fehlten (Abwägungsdefizit) oder Indizien bei der Gesamtabwägung unzutreffend berücksichtigt worden seien (Abwägungsfehleinschätzung).

Vorliegend fehle die Abwägung der für und gegen die betriebsbezogene Handlungstendenz sprechenden Indizien komplett, so dass insofern ein Abwägungsausfall vorliege, der die grundsätzliche Bindung des Revisionsgerichts an die festgestellte Haupttatsache ausnahmsweise entfallen lasse. Das LSG werde daher den Abwägungsvorgang nachzuholen und vertieft zu prüfen haben, ob die objektiven Umstände des Einzelfalls die Annahme rechtfertigen, der Kläger habe am Samstag die Haustreppe zum 1. OG bestiegen, um die Installation eines größeren Software-Updates in seiner Firma zu überwachen und gerade nicht in seine Wohnung im 5. OG zu gelangen. Dabei wird es auch zu erwägen und die Gründe anzugeben haben, was aus der Nichtbenutzung des vorhandenen Aufzugs zu schließen sei. Zudem wird es im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung abzuwägen haben, welche Bedeutung Zeitpunkt und Ort des Unfalls sowie der im erstinstanzlichen Urteil geschilderten Sachverhaltsvariante zukomme.

Zudem habe das LSG – von seiner Rechtsansicht her konsequent – keine Tatumstände festgestellt, die die Versicherteneigenschaft des Klägers begründen könnten. Es führe lediglich aus, die Unternehmerin sei „bei der Beklagten versichert“ und der Kläger sei im Unfallzeitpunkt einer „versicherten Tätigkeit“ nachgegangen. Hieraus könne nicht auf die Versicherteneigenschaft des Handelnden geschlossen werden. Denn die Aussage, der Kläger habe im Unfallzeitpunkt eine versicherte Tätigkeit ausgeübt, sei keine Tatsachenfeststellung, sondern stelle eine Subsumtion bestimmter Tatsachen unter die heranzuziehenden Rechtsvorschriften dar.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Autor
Reinhard Holtstraeter
Rechtsanwalt
Lorichsstraße 17
22307 Hamburg
Foto: privat

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